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Schwarzes Schaf
"Fi fa foo, fun for me, fun for me", singt Marlene mit breitem Lächeln und ihrer fünfjährigen Tochter auf dem Arm durch die Küche tanzend. Die Musik aus dem Laptop lässt Marlene gnädig das Läuten des Telefons im Wohnzimmer überhören.
Unerbittlicher hingegen ihr Mann, der kurze Zeit später den Ton leiser dreht, das schnurlose Telefon noch in der Hand.
"Marlene, Schatz", setzt er so leise an, dass Moloko ihn noch immer beinahe übertönen.
"Hm? Sieh' mal, die Kurze hat einen neuen Lieblingssong!", lacht Marlene.
"Ja, gut. Marlene, setz' sie doch einen Moment ab und hör' mal bitte. Deine Mutter hat eben angerufen. Es ist was passiert."
"Mutter? Ist Papa krank? Hatte er einen Unfall, verdammt, was ist mit ihm?", braust Marlene ungeduldig auf, während sie ihre Tochter auf den Kinderstuhl setzt.
"Nein, es geht ihm gut. Es ist Maria. Sie hatte heute Nacht irgendwo in Aserbaidschan einen Autounfall. Sie ist tot."
Seine Frau sieht Alex nur an, bevor sie sich umdreht und der Tochter kurz übers Haar streicht.
"Ah. Maria."
Alex möchte auf seine Frau zugehen, um sie in den Arm zu nehmen. Sie geht ohne ein Wort an ihm vorbei Richtung Flur.
"Möchtest du ein wenig allein sein, Liebes?"
Sie geht die Treppen hinauf und macht sich im Schlafzimmer an die Bügelwäsche. "Ein Autounfall in Aserbaidschan", denkt Marlene. "Was war das gleich, irgendwelche Verhandlungen mit einem privaten Historiker für das Museum? Es kam doch noch die E-mail bevor sie flog."
"Schatz?", versucht Alex es noch einmal. "Es tut mir so leid. Es ist schrecklich, sie war gerade Dreißig! Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du brauchst. Ich nehme ein paar Tage frei und meine Eltern kümmern sich gern um Lisa und die Kurze. Die Beerdigung ist wegen der Überführung und all dem erst in zehn Tagen."
"Gut", antwortet Marlene, und spricht den ganzen Nachmittag und den Abend nicht mehr.
Als sie am nächsten Morgen die Küche betritt, duften ihr frische Croissants, Kaffee und ihre Familie entgegen. Ohne etwas anzurühren setzt sie sich zu ihnen.
"Du hast gestern gesagt, ich kann mir ein paar Tage Zeit nehmen."
"Selbstverständlich!"
"Gut, ich habe schon gepackt, ich fahre gleich nach Frankfurt in ihre Wohnung."
"Aber was ...?"
"Ich weiß es nicht, Alex. Aber ich muss hin!"
Marlene lenkt den blauen Golf langsam die von Bäumen gesäumte Allee entlang, während sie versucht, die Hausnummern zu entziffern. Bis heute war sie nie hier gewesen. Ihre Schwester war zwar immer zu den Geburtstagen der Mädels erschienen und meist auch wenigstens auf eine Tasse Kaffee zu Marlenes, hatte selbst jedoch nie eine Einladung nach Frankfurt ausgesprochen.
Zu ihrem Erstaunen entdeckt Marlene direkt gegenüber der gesuchten Nummer 67 auf der belebten Allee eine freie Parklücke.
Der beigefarbene Leinenturnschuh trifft beim Aussteigen in einen Hundehaufen.
"Scheißdrecksstadt", flucht Marlene angeekelt. Während sie noch den Schuh notdürftig am Bordstein zu reinigen versucht, fällt ihr unvermittelt ein, dass sie niemanden in Marias Umfeld kennt, der einen Wohnungsschlüssel haben könnte. Ratlos steht sie einige Minuten vor dem vererkerten Gründerzeithaus, in dem die Schwester eine 2-Zimmer-Wohnung bewohnt hatte. Durch die Gitterstäbe des Eingangstores sieht sie die Briefkästen der Bewohner, auf den überfüllten ganz rechts außen geht sie langsam zu.
Hofheim liest sie auf dem Schild. Marlene nimmt die Post heraus, eine Karte rutscht aus dem Stapel hervor und flattert auf das Kopfsteinpflaster. Das Motiv zeigt eine riesige, üppig verzierte Cremetorte voller brennender Kerzen. Die Karte sollte offensichtlich pünktlich zu Marias Geburtstag in zwei Tagen ankommen und sie bei ihrer Rückkehr aus Baku erreichen. Marlene hebt sie aus dem Staub und dreht sie langsam herum. "Deshalb bin ich hier. Ich will sie kennenlernen", schießt es ihr durch den Kopf.
Happy birthday, sweetest cake. Nach diesem ersten Satz war ein Smiley gezeichnet. I love you so much and I can hardly wait to see you again in May! A thousand kisses, G.
"G. aus Ungarn", denkt Marlene mit einem Blick auf den Poststempel. Sie überfliegt den Rest der Post. Rechnungen, Werbebroschüren und Fachzeitschriften wandern zurück in den Briefkasten, die Geburtstagskarte steckt Marlene in die Innentasche ihrer Jacke.
Den Weg zum Internationalen Historischen Museum findet sie schnell, es ist eins der populärsten der Stadt. Obwohl sie selten den ruhigen Stuttgarter Vorort verlässt, hat sie beim Aussteigen im angrenzenden Parkhaus das Gefühl, sie täte nie etwas anderes als unbekannte Städte mit dem Auto zu erkunden. Dieser Gedanke hilft ihr auch über den kurzen Augenblick hinweg, indem sie im Eingangsportal leicht beschämt registriert, dass die meisten Besucher Kostüm oder Anzug tragen, sie hingegen ihren alten dunkelblauen Lieblingsanorak und die besudelten Turnschuhe.
Als sie der Dame an der Information ihren Mädchennamen nennt und erklärt, dass sie gerne einige Kollegen ihrer Schwester kennenlernen würde, verbittert sich das Gesicht der älteren Frau. Marlene sieht die Tränen in ihren Augen aufblitzen.
"Ach Frau Hofheim, es tut mir, was sag' ich, uns allen tut es unglaublich leid. Es ist eine solche Tragödie, mein aufrichtiges Beileid!"
Verhalten nickt Marlene ihr zu, statt etwas ähnlich Getragenes zu erwidern. Die Angestellte telefoniert im Hintergrund und bald erscheinen nach und nach drei Kolleginnen, zwei Kollegen und sogar Marias Vorgesetzter in einem angrenzenden Konferenzzimmer, in das die ältere Frau Marlene gebeten hat.
Die Museumsmitarbeiter und ihr Chef übertreffen die Empfangsdame sogar noch in der Emotionalität ihrer Beileidsbekundungen. Wieder nickt Marlene, mehrfach. Nachdem der Vorgesetzte sich lange über das unermüdliche und außergewöhnliche Engagement der Schwester für das Museum ergangen hat, nutzt Marlene die Gelegenheit, um die kleine Gruppe nach privaten Kontakten Marias zu fragen.
"Sie hat immer Freunde und Bekannte zu den Ausstellungseröffnungen und Vorträgen mitgebracht, sie war überall beliebt!" Versicherte eine der Frauen.
"Uns hat sie nie zu so etwas eingeladen", stellt Marlene im Stillen fest.
"Ich kann mich leider nicht an alle Namen erinnern, aber es gibt eine Freundin, die mir gut bekannt ist, weil die Frau Hofheim ihren Namen angegeben hat, als wir eine Adresse brauchten, die informiert werden soll, falls ... nun, falls auf ihren Reisen einmal etwas passiert. Ich suche ihnen gleich ihre Karte heraus!"
"Danke. Kann ich hier telefonieren?"
Um 16 Uhr betritt Marlene das Café in der Nähe der Hauptwache und erkennt Susanne Schwarz anhand ihrer Beschreibung sofort. Ihre strohblonden Haare sind auf zwei Millimeter heruntergeschoren.
Susanne sieht mitgenommen aus und auch sie bekundet ihr Beileid.
Gleich schiebt sie den Schlüssel zu Marias Wohnung über den Tisch und bestellt zwei Kaffee.
"Sie war toll. Es muss schlimm für Sie sein, eine solche Schwester zu verlieren!"
"Hat sie denn manchmal über mich oder meinen Vater gesprochen?"
"Nun, nein. Eigentlich hat sie das nicht."
"Wie war Ihr Verhältnis zu meiner Schwester? Was wissen Sie über sie?"
"Ich sehe schon, Sie haben da ein bisschen was nachzuholen. Das kann ich gut verstehen, jetzt wo Maria tot ist. Sie war toll. Sie war voller Leben. Ist total in ihrer Arbeit aufgegangen, sie plante ja diese Dauersonderausstellung zu weltweiter Fremdenfeindlichkeit heute und in der Vergangenheit. Dabei war sie aber nie eine Stubenhockerin wie die anderen Historiker und Kulturwissenschaftler aus diesem Verein. Mit ihr war immer was los! Wenn sie nicht gerade durch die Welt gereist ist, um die Werbetrommel fürs Museum zu rühren oder Dozenten und Exponate einzukaufen, konnte man bis morgens früh mit ihr an den Tresen der Stadt sitzen oder durch die Clubs ziehen und die ganze Nacht tanzen. Sie war ein Energiebündel und hat alle zum Lachen gebracht. Und gemalt hat sie. Auch darin sah man ihre Energie, jedes Bild ein Feuerwerk!"
Marlene fühlt sich schwer und müde, als sie das Café verlässt. Sie sucht sich eine Pension in der Nähe und schläft bald nach einem spärlichen Abendessen vor dem Fernseher ein.
Früh am nächsten Morgen fährt sie zurück zur Wohnung ihrer Schwester.
Ihre Schritte hallen auf den Steintreppen, als sie die zwei Etagen zu der halb verglasten Eingangstür emporsteigt. Als sich die Tür zur Wohnung der Toten öffnet, durchfährt Marlene ein kurzer Schauer, der mit dem ersten Schritt in den Flur weicht.
Der Boden ist von dunklem Parkett, die Wände von dunklem Bordeaux. Durch ein langes schmales Oberlicht fällt weiches Licht. In der Luft liegt ein angenehmer Geruch, den Marlene nicht gleich zuordnen kann. War doch Maria seit einigen Wochen nicht mehr hier gewesen. Die Küche offenbart allerlei über dem Gasherd aufgehängte Kräuter und Gewürze als zeitlose Quelle des Dufts.
An einer der Glastüren der großen alten Anrichte, die als einziges Möbelstück neben einem Tisch mit zwei Stühlen die große Küche ziert, entdeckt Marlene ein buntes Durcheinander an Schnappschüssen und Postkarten. Zögernd nähert sie sich und legt im Vorbeigehen Jacke und Tasche auf dem Tisch ab.
Auf den Fotos erkennt Marlene außer ihrer Schwester niemanden. Sie zieht eins der Bilder aus der Nische zwischen Glas und Holz. Maria im Arm eines blonden Mannes um die Vierzig. Das Foto muss auf einem Empfang entstanden sein, Maria trägt ein knappes schwarzes Cocktailkleid, der Begleiter einen schwarzen Anzug. Dann wieder Maria in Jeans und Männerunterhemd an einem Lagerfeuer, den Kopf in den Schoß eines unrasierten attraktiven Mannes gebettet, die schulterlangen Haare etwas wirr, ein ruhiges Lächeln auf den Lippen. Beide sehen aus als seien sie seit Tagen mit dem Bus unterwegs. Auf einem anderen Bild eine Gruppe junger Frauen an einem Strand. Während drei im Hintergrund lachend mit einem Wasserverkäufer sprechen, drückt eine dunkelhaarige Frau Maria im Vordergrund einen Kuss auf die Wange.
Marlene zieht eine der Postkarten zwischen den Fotos hervor. Vorne Notre Dame, nur wenige Sätze auf der Rückseite. Paris fehlt nur eins, und das bist Du! Du bist die beste Freundin, die ich je hatte. Danke, Deine Susanne.
Sie tritt einen Schritt zurück, betrachtet aus der Entfernung noch einmal die Glaswand mit den Fotos und Karten. Noch immer die Postkarte von Susanne in der Hand, dreht sie sich in der Küche einmal um die eigene Achse, ihr Blick die Wände abtastend.
Marlene kehrt zurück in den Flur, der sie in Marias Arbeitszimmer führt. Ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch, einem Bücherregal und einem alten großen Lederstuhl, auf dem ein Notebook liegt. An der Wand über dem Schreibtisch hängt eine Leinwand. Das Ölgemälde erinnert Marlene zugleich an Darstellungen von Feuer und von Wasser.
Auf dem Schreibtisch selbst liegen nur einige Notizzettel mit Abkürzungen, die Marlene nicht versteht. Rechts auf der Ecke steht ein kleines gerahmtes Bild. Es zeigt den Mann vom Lagerfeuer. Mit einem leicht abwesenden Lächeln sitzt er unwesentlich besser rasiert als auf dem Urlaubsfoto vor der Eingangstür eines heruntergekommenen Hauses.
Marlene betritt das angrenzende Schlafzimmer, nicht größer als das Arbeitszimmer und ebenfalls eher sparsam eingerichtet. Die Steinwände sind in dunklem Blau gestrichen, Marias Bett ziert eine schwarze Tagesdecke. Vor dem großen Fenster sind die ebenfalls dunkelblauen schweren Vorhänge halb zugezogen. Auf den Holzdielen vor dem Bett ein flauschiger cremefarbener Teppich. Als Marlene den Kleiderschrank gegenüber des Fensters öffnet, begegnet ihr in der Innenseite der Tür ihre gerunzelte Stirn in einem Spiegel. Den Kleidern der Schwester entströmte ein Duft, der Marlene unmittelbar entspannte. "Das Parfum hat sie schon vor über zehn Jahren benutzt", bemerkt Marlene, beinahe gerührt.
Marias Wohnzimmer ist das größte der Zimmer. Hier zeugt Einiges von ihren vielen Reisen und dem Hang zur volksnahen Kunst. Auf dem überladenen Bücherregal wieder Stapel von Fotos und Briefen. Abgelichtete und Absender wieder unbekannt für Marlene. Dennoch trägt sie die Stapel nacheinander zu dem großen ausgesessenen Sofa, auf dem sie Platz nimmt und in den kommenden Stunden in die Kontakte und Beziehungen ihrer Schwester eintaucht.
Ein Absender taucht sehr häufig auf und die Inhalte seiner Briefe verraten eine sehr enge Bindung zu Maria. Marlene beschließt, am nächsten Morgen nach Berlin zu fahren.
"Tom Schreiber?" fragt Marlene als sich die Tür öffnet und sie in das müde Gesicht des jungen Mannes blickt, dessen Züge so fein und eben sind, dass er beinahe von weiblicher Attraktivität ist.
"Ja, das bin ich. Und wer sind sie?"
"Marlene Kroll. Ich bin Marias Schwester."
Toms bisher matter Blick öffnet sich. Es wird noch deutlicher, dass er viel geweint und wenig geschlafen haben muss. Er bittet sie herein.
"Ich freue mich sehr, dass sie gekommen sind. Entschuldigen Sie bitte meinen und den Zustand der Wohnung. Seit ich von Marias Tod erfahren habe, steht hier alles still."
"Waren Sie und Maria ein Paar?"
"Während des Studiums waren wir eine Weile zusammen“, erklärt er und weint. "Als Freunde lief es einfach besser mit uns. Sie wissen ja bestimmt, dass Maria sich nicht so leicht an jemanden bindet."
Marlene dachte an all die intimen Fotos und Briefe in Marias Wohnung und war erstaunt.
"Wissen Sie, es war im Grunde mehr als eine Freundschaft. Maria ist, sie war ...", wieder kämpft Tom gegen die Übermacht der Tränen an. "Sie war wie mein Fleisch und Blut. Sie war Teil meines Lebens, ich konnte mich immer auf sie verlassen. Ja, sie war meine Schwester." Zum Schluss zitterte seine Stimme so sehr, dass Marlene eine Gänsehaut unter ihrem Pullover spürte.
"Ich komme gerade aus Frankfurt. Ich denke, Maria hatte dort ein glückliches Leben, nicht wahr?" fragte Marlene mit belegter Stimme.
"Sie war voller Freude und Ausgelassenheit, das stimmt. Aber sie hatte auch eine andere Seite. Voller Selbstzweifel. In manchen Augenblicken hatte ich das Gefühl, sie hasste sich. In den letzten zwei Jahren habe ich sie seltener so erlebt. Wahrscheinlich hing das mit Gyula zusammen."
"Gyula?"
"Sie kennen ihn nicht? Maria hat sich vor zwei Jahren auf einer Reise nach Ungarn in ihn verliebt. Er lebt in Budapest und führt dort ein Antiquariat. Die beiden sehen", Tom räusperte sich, "sahen sich alle paar Wochen, sie waren sehr verliebt. Einfach war die Beziehung nicht. Maria hat ihn so sehr geliebt, dennoch hat sie jeden Tag mit ihrer Angst gekämpft, sich auf ihn einzulassen."
Marlene blickt an Tom vorbei aus seinem Fenster, das den Blick auf einen grauen Hinterhof freigibt.
"Tom, wissen Sie, worin diese Angst genau bestand?"
"Leider habe ich es nie herausgefunden. Ich glaube, sie hatte lange Zeit selbst keine Worte dafür. In den letzten Jahren hat sie sich allerdings mehrfach im Jahr für ein verlängertes Wochenende komplett zurückgezogen, um an einer Art Biographie zu schreiben. Daraus geht sicher Einiges hervor."
Jetzt wandert auch Toms Blick an Marlene vorbei, verliert sich in den Fugen der gekachelten Küchenwand und füllt sich erneut mit Tränen. Marlene scheint es, als würden sie nie mehr ganz versiegen.
"Haben Sie eine Adresse in Budapest?"
"Nur seinen Namen", Tom sieht Marlene an, inzwischen wirkt sein Blick leer. "Gyula Vágó."
Nach einer Übernachtung in einer Pension am Prenzlauer Berg fährt Marlene am nächsten Morgen zurück nach Frankfurt. Auf dem Notebook der Schwester öffnet sie jede einzelne Datei, ohne auf etwas zu stoßen, das auch nur ansatzweise persönlich ist. Auch eine Adresse in Budapest findet sie nicht. Das Online-Telefonbuch zeigt allerdings nur drei Personen mit Namen Gyula Vágó in Budapest. Marlene notiert die Adressen und bucht einen Flug für den nächsten Tag.
Bevor sie die Haustür der Nummer 4 in der Erzsébet Út erreicht hat, weiß Marlene, dass sie richtig ist. Sie erkennt das Haus von dem Bild auf Marias Schreibtisch.
Gyula öffnet die Tür. Auch er sieht müde aus, wenn auch gefasster als Tom. Marlene überlegt noch, ob er deutsch oder vielleicht nur englisch spricht. "Sorry", ist zunächst alles, was sie herausbekommt.
"Marlene?" fragt Gyula freundlich.
"Ja", sie ist fassungslos.
"Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, ich habe viel von Ihnen gehört. Bitte kommen Sie herein", begrüßt er sie herzlich auf Englisch.
Durch einen langen Flur, in dem nur eine Kommode mit einem siebenarmigen Leuchter darauf steht, gehen die beiden in die geräumige lichtdurchflutete Küche. Erste Sonnenstrahlen kündigen den Frühling an.
Als Gyula einen Kaffee zubereitet, erkennt sie, wie die Trauer aus jeder seiner Bewegungen, jedem seiner Atemzüge spricht. Sehr langsam schöpft er das Pulver mit dem silbernen Löffel in die Glaskanne, das Zittern seiner Hand mit größter Mühe für einen Moment beherrschend.
"Es ist wunderbar, dass Sie hier in meiner Küche sitzen, Marlene", er lächelt. "Ich hätte auch versucht, Sie ausfindig zu machen."
"War meine Schwester glücklich?" platzt Marlene heraus.
Gyula verliert sich zwei Atemzüge lang in dem Dampf, der aus seiner Kaffeetasse aufsteigt.
"Gerade letzte Woche rief sie mich aus Baku an. Ich kenne sie lachend und optimistisch, ja. Aber wissen Sie, es ist ihr bisher nicht leicht gefallen, Vertrauen zu fassen. Und wer nicht vertraut, ist nicht glücklich." Er schließt für einen Moment die Augen und hält inne.
"Aber als sie anrief war sie überglücklich. Sie hat mir erzählt, dass wir ein Kind bekommen werden", fährt er mit noch immer geschlossenen Augen fort.
Marlene schluckte. "Gyula, wieso weiß ich absolut nichts über das Leben meiner Schwester? Wieso finde ich in ganz Deutschland keine Spur einer Verbindung Marias zu ihrer Familie?"
Jedes Wort lauter als das vorangehende, schreit sie ihn schließlich an, "Wieso muss ich nach Ungarn reisen, um einen Menschen zu treffen, der schon einmal von mir gehört hat? Ich bin ihre Schwester verdammt!"
Gyula hebt seinen Blick, nickt ihr sehr ernst zu und steht auf. "Bitte warten Sie einen Augenblick."
Als er die Küche wieder betritt, hält er ein kleines Netbook in den Händen, das er vor Marlene auf den Küchentisch stellt. "Bitte Marlene, lesen Sie. Das Passwort ist Ihr Vorname."
Tatsächlich öffnet sich der Desktop als Marlene ihren Namen eingetippt hat. Auf dem dunkelblauen Hintergrund liegt nur ein Dokument. Der Hass, liest sie.
Es ist nicht Marias Biographie, vielmehr ist es die des Vaters der beiden Frauen.
Bis weit nach Mitternacht sitzt Marlene in Gyulas Küche und liest. Wortlos versorgt der Geliebte der Schwester sie geduldig mit Tee und Wasser.
Marlene liest über die jahrzehntelange aktive Mitgliedschaft des Vaters in einer rechtsradikalen Partei, über die Hassschriften gegen Juden, die er unter einem Pseudonym noch heute schreibt, über die Pogrome und Ausschreitungen, an denen er vermummt beteiligt gewesen ist. Über sein Manuskript, das die 'Judenlüge' enthüllen sollte und das Naziregime verherrlichte. Sie liest, wie die Schwester mit 15 Jahren durch einen Zufall vom Doppelleben des Vaters erfahren und Schritt für Schritt alles enthüllt hatte. Sie liest, wie sie den Vater konfrontiert hatte und auf Ablehnung gestoßen war.
Als Gyula über ihre Schulter sieht, dass sie am Ende des Dokuments angelangt ist, führt er sie am Arm in sein Schlafzimmer, wo er ihr das Bett bereitet hat. Er selbst zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück, während Marlene in tiefen Schlaf fällt.
"Sie hat so sehr unter eurem Vater gelitten, dass sie es bisher nicht übers Herz gebracht hat, auch dir das Vaterbild zu zerstören", offenbarte er am nächsten Morgen beim gemeinsamen Kaffee. "Sie hat ihren Vater verabscheut, sich vor ihm geekelt. Es hat sie innerlich zerrüttet, dass sie ihm nie wieder in die Augen sehen konnte."
Zum ersten Mal in all den Tagen füllen sich Marlenes Augen mit Tränen.
"Sie hat sich mit einem solchen Makel behaftet gefühlt, dass sie niemanden an sich heran lassen wollte. Sie ist sehr in ihrer Arbeit aufgegangen, hat im Museum versucht, politische Akzente zu setzen, etwas wieder gut zu machen, eine Schuld, die sie für den Vater trug."
Auf dem Frankfurter Flughafen angekommen, steuert Marlene zielstrebig einen Münzsprecher an und wählt die Nummer des Vaters.
"Ich weiß alles. Sie hätte nicht gewollt, dass du kommst. Ich möchte, dass du der Beerdigung fernbleibst."
Marlene steht vor dem Grab. In ihrem Rücken Alex und Gyula. Sie tritt noch einen Schritt näher an die Erdöffnung, sodass sie den hölzernen Sarg sehen kann. Während die weiße Rose auf ihn herabflattert, flüstert die Schwester, "Ich danke dir, Kleines."