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Schwein gehabt

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14.02.2021
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Schwein gehabt

Psychiatrie Waldsaum, 28.April 2020, kurz nach Mitternacht. Holzi blickt vom Aufenthaltsraum der Pflege auf die gegenüberliegende Glastür, die Tür ist abgeschlossen. Gelbes Neonlicht bestrahlt das Schild mit der Aufschrift Station 6 neben der Tür an der Wand. Die Tür ist geschmückt mit Plakaten mit maskierten Smileys sowie der Aufschrift Wir schenken Ihnen ein Lächeln. Holzi zückt sein Handy und kontrolliert die Uhrzeit. Im Gruppenchat Der Coup blinken mehrere Kleeblätter auf. Zeit für den Rundgang, Zeit für den Coup. Schweiß glänzt auf in seinem roten Bart und auf dem pinken Schwein auf seinem Stiernacken. Er tippt sich, wie ein Gläubiger, der um einen Segen bittet, auf das Tattoo. Eine kleine Blondine mit großen grünen Augen schließt die Tür auf und betritt den Aufenthaltsraum. Sie hat eine Fluppe in der Hand, das Feuerzeug von minderer Qualität in der anderen. Eine Woge aus erkaltetem Rauch sowie dem typischen Flurgeruch, Desinfektionsmittel gemischt mit ungeschwaschenem Mensch, schlägt ihm entgegen.

„Holzi, ist es okay für dich, wenn du den Rundgang machst? Ich würde gerne mit Anne eine rauchen und dann den zweiten Rundgang übernehmen.“

„Ja klar, das wollte ich auch vorschlagen. Ich mache lieber den ersten Rundgang und chille danach.“ Nervös fährt er sich über den Hinterkopf und späht auf den Ironman-Rucksack unter dem Schreibtisch. Das hat sich von alleine geregelt.

„Ja super.“ Die Blondine lächelt, dreht sich um und läuft Richtung Raucherbalkon.

Er steht auf, schluckt, sodass sich sein Adamsapfel bewegt und beginnt seinen Rundgang in dem halbdunklen Gang. Er geht von Patiententür zu Patiententür, öffnet diese, späht hinein. Auf einem Klemmbrett hakt er ab, ob die Leute schlafen, wach sind oder gar nicht im Bett liegen. Auf dem Flur hört er das Getuschel von Anne und Sabine.

„Mal wieder einen Horrorfilm während der Nachtschicht schauen? Damit der Puls richtig hoch geht?“

„Au ja. Mir wurde Saw empfohlen.“

Holzi grinst melancholisch. Mein Puls ist bereits erhöht, dafür benötige ich keinen Horrorfilm. Lediglich eine Pandemie, leer gekaufte Desinfektionsmittel und eine Asthmakranke Mutter. Er denkt an die Kleeblätter im Gruppenchat. Eins ist von Mutti.

Er arbeitet sich durch die Zimmer. Noch ein Patientenzimmer, dann kommt der Raum. Schnell, bevor die beiden fertig sind mit Rauchen und mich erwischen. Das nächste Zimmer. Tür auf, Blick hineinwerfen, Patienten abharken und die Tür wieder leise schließen. Ein paar Schritte weiter und er steht vor einem Schild einer schmucklosen weißen Tür. Holzi wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht - ein feuchter Film bleibt zurück. Er blickt sich hastig um, kein Patient auf Wanderschaft und viel wichtiger, kein Kollege in der Nähe. Er greift in die Hosentasche, holt den Schlüssel hervor und steckt ihn ins Schloss. Er dreht und der Schlüssel klemmt. Holzi dröhnt das Lachen vom Raucherbalkon in den Ohren. Mit Kraft zerrt er am Schloss, er rotiert den ganzen Arm aus der Schulter heraus. Mit einem Ruck gibt das Schloss nach und er stolpert in den Raum und beginnt wieder zu atmen. In Regalen sind Schachteln, Kisten und Kanister in unterschiedlicher Farbe und Größe gelagert. Zielstrebig geht Holzi zum Regal in der Ecke links hinten. Er greift in eine Schachtel und holt ein Bündel FFP2-Masken heraus. Hastig stopft er sie in die Hosentasche. Er atmet aus. Dieser Teil ist geschafft. Auf dem untersten Brett stehen kleine, quadratische Kanister in hellblauer Farbe: Desinfektionsmittel. Er greift nach ihnen so vorsichtig, als würde er eine heilige Reliquie berühren, und klemmt sich drei Kanister unter den linken Arm. Geschafft! Jetzt nur noch zurück zum Aufenthaltsraum und alles im Ironman Rucksack verstauen. Unbemerkt. Dann bin ich auch ein Ironman. Er geht zur Tür und presst das Ohr an das Holz. Undeutliches Lachen vom Ende des Flurs, ansonsten ist alles ruhig. Holzi holt tief Luft, spannt seinen Rücken an, macht das Licht aus und die Tür auf. Mit einem großen Schritt tritt er über die Schwelle.

Vorsichtig, mit dem Oberkörper seine Beute bedeckend, schleicht Holzi über den Flur. Einen Schritt nach dem anderen, noch vier Türen, dann bin ich wieder im Aufenthaltsraum und alles ist geschafft. Die erste Tür. Ein Strichmännchen deutet die Toilettentür an, auf dem Schild neben dran steht Personaltoilette Herren. Holzi stockt in seinem vorsichtigen Gang. Soll ich auch noch Klopapier mitgehen lassen? Nein, heute nicht. Außerdem gibt’s das noch im Supermarkt. Hoffentlich. Er schleicht weiter. Noch zwei Patientenzimmer, dann der Fernsehraum, dann habe ich es geschafft. Im gedimpten Licht schlürft ihm eine Gestalt entgegen. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein Wichtel mit Rauschebaart, wirrem Haar und O-Beinen. Herr H., der Obdachlose, der nicht aus der U-Bahn aussteigen wollte und hierhergebracht wurde. Holzi schluckt, beschleunigt seinen Schritt. Er hält auf den Patienten zu, an den beiden Patientenzimmern vorbei und biegt scharf links ab in den Fernsehraum. Der Fernsehraum ist duster, dumpfes Licht dringt von Sternen und Laternen durch die Fenster in den Raum. Im Halbdunkel stehen drei Sofas um einen Flachbildfernseher. Holzi atmet aus.

Auf dem Sofa rührt sich etwas. Wildes um sich schlagen und Gemurmel. Holzis Herz setzt einen Schlag aus. Adrenalin rauscht durch seine Adern, als er sich dem Sofa nähert. Blondierte Haare und ein Mantel mit Leopardenprint - es ist Frau K. Mit geschlossenen Augen schlägt sie um sich. Ein Schweißtropfen löst sich von seinem Kinn. Holzi macht auf dem Absatz kehrt und schleicht zurück zur Tür. Als er den Raum verlässt richtet sich Frau K. auf, schlägt die Augen auf und schaut ihm hinterher. Er beeilt sich, erreicht den Aufenthaltsraum der Pflege und verstaut seine Beute im Ironman Rucksack.

Drei Sekunden später kommt Anne wieder rein. Der Duft nach frischem Zigarettenrauch umgibt sie.

„Alles gut gelaufen beim Rundgang?“

„Ja. Herr H. und Frau K. waren nicht im Bett, der Rest sieht gut aus.“ Holzi fläzt sich auf dem Drehstuhl, die gesamte Anspannung fällt von ihm ab.

Am übernächsten Tag kommt Schwester Anne mit einem breiten Grinsen auf Holzi zu.

„Frau K. brabbelt die ganze Zeit davon, dass du ein Dieb bist.“

„Was soll ich denn gestohlen haben? Ihr Herz?“

„Das habe ich sie auch gefragt, aber sie sagte, es wären Kanister. Sie ist noch wahnhaft.“

Holzis Herz rast. Schwein gehabt.

 

Hallo Happy_X_Hippa und ein herzliches Willkommen bei den Wortkriegern,

dein kleiner Text hat mich gut unterhalten. Ein wenig überzogen vielleicht, aber in der heutigen Zeit ist es sicher nicht abwegig, dass irgendwann irgendwo genau so etwas passiert ist. Was den Text für mich ein wenig hervorhebt, ist die Authentizität, bis auf das kleine, aber feine Detail, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass die dort zu dritt in der Nachtschicht hocken - und auch den "Diebstahl" kaufe ich nicht einfach so ab, denn wenn ich Desinfektionsmittel und FFP2-Masken brauche, frage ich meine Chefin und kann mir einfach so was mit nach Hause nehmen. Man darf's dabei nur nicht übertreiben. Trotzdem halte ich die Geschichte für nachvollziehbar - die Gründe, die Holzi hat, sind schlüssig und erklären für mich die Irrationalität ein wenig.

Das Ende fand ich auch gut - diese Abgestumpftheit beim Klinikpersonal kenne ich nur zu gut. Selbst wenn ein Klient die Wahrheit sagt, glaubt man ihm das eher selten, denn sonst redet der auch von Fröschen auf den Lampen oder davon, dass es die wertvollsten Bilder der Welt für 1000€ im Tschechland gibt. Man nimmt das psychotische Gemurmel einfach nicht mehr für voll.

Ich kann dir leider kein objektives Feedback geben, Happy, nur subjektives, dafür bin ich zu nah am Text dran, weswegen ich bei meinem Leseeindruck bleibe und das Handwerk den Experten überlasse.

 

Mahlzeit @Happy_x_Hippa,

einen Gruß zum Einstieg. Coronawelle schwappt in die Literatur ... so ist recht. Aufarbeitung. Reflexion. Aber ich bin in der Tat immer wieder gestolpert. Wo ...

Die Tür ist geschmückt mit Plakaten mit maskierten Smileys
2 x mit. Hier würde ich etwas geschmeidiger formulieren.

Eine Woge aus erkaltetem Rauch sowie dem typischen Flurgeruch, Desinfektionsmittel gemischt mit ungeschwaschenem Mensch, schlägt ihm entgegen.
Theoretisch auch: Typischer Flurgeruch schlägt ihm entgegen. Eine Woge aus Desinfektionsmittel, kaltem Zigarettenrauch und ungewaschenem Mensch.

und eine Asthmakranke Mutter
In dem Fall die Eigenschaft, krank zu sein, asthmakrank oder eben an Asthma erkrankt.

Blick hineinwerfen, Patienten abharken und die Tür wieder leise schließen. Ein paar Schritte weiter und er steht vor einem Schild einer schmucklosen weißen Tür.
Na, ich hoffe, hakst die Pat. nur ab. Abharken wäre schmerzhaft.

er rotiert den ganzen Arm aus der Schulter heraus
Ich ging ins Bad und probierte. Aber nichts rotierte. Wie meinst du das?

Mit einem Ruck gibt das Schloss nach und er stolpert in den Raum und beginnt wieder zu atmen
2 x und ... mein persönliches "Unwort".

Aber ja, das hat mir gefallen. Ich habe noch auf das Klopapier gehofft, aber das ist schon so, wie Bekannte berichten. Auf einmal fehlt das Zeug. Wo war das en gros? Auf dem Flughafen von Nairobi oder so, als ganze Container verschwanden?

Schöner Einstieg auf jeden Fall. Lass dir Zeit und sieh dich um. Gibt viele, viele Perlen hier und man kann sehr viel mitnehmen - und geben.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Happy_x_Hippa,

herzlich Willkommen!

Ich finde auch, dass dir als Einstieg hier eine unterhaltsame Geschichte gelungen ist.

Kurz eine formale Anregung: Du hast große Absätze zwischen den Dialogen. Das liest sich sehr zerfleddert und die Leerzeilen könntest du getrost löschen.

Psychiatrie Waldsaum, 28.April 2020,

Nach 28. fehlt ein Leerzeichen.

Grds. finde ich gut, dass du das Datum erwähnst. Denn dadurch kann ich den Diebstahl von Masken nachvollziehen. Damals waren u.a. Masken und Toilettenpapier Mangelware. Für mich ist das realistisch.
Heute wäre es ein Impfstoff. Ich möchte nicht wissen, was auf dem Schwarzmarkt gerade los ist.

Aus der Ferne sieht sie aus wie ein Wichtel mit Rauschebaart, wirrem Haar und O-Beinen. Herr H., der Obdachlose, der nicht aus der U-Bahn aussteigen wollte und hierhergebracht wurde.

Ich bin nicht vom Fach, aber soweit ich weiß, ist es nicht so einfach, einen Menschen gegen seinen Willen einweisen zu lassen. Ich würde vermuten, dass nicht Aussteigen aus der U-Bahn nicht ausreicht.

Holzi grinst melancholisch. Mein Puls ist bereits erhöht, dafür benötige ich keinen Horrorfilm. Lediglich eine Pandemie, leer gekaufte Desinfektionsmittel und eine Asthmakranke Mutter. Er denkt an die Kleeblätter im Gruppenchat. Eins ist von Mutti.

Ist natürlich so viel einfacher, sich regelkonform zu verhalten, wenn weder die eigene Gesundheit noch die der Familie oder die der Freunde auf dem Spiel stehen. Das ist ein Konflikt.

Viele Grüße
Aurelia

 
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Hallo NWZed :)

vielen Dank für deinen Kommentar, du hast den allerersten Kommentar zu meinem ersten Text bei Wortkrieger verfasst! :D

Die Nachtschicht zu dritt ist wohl nicht realistisch, habe ich jedoch für die Dialoge benötigt. Ein "psychotisches" happy end wollte ich unbedingt als Pointe verfassen.

Ein Diebstahl der Masken und des Desinfektionsmittels wäre wohl nicht notwendig gewesen, aber ich mag es, wenn Dinge in Geschichten übertrieben und aufgeplustert werden und dadurch fast schon komisch werden.

Hallo :)

Vielen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, die "Stolpersteine" aufzuzählen.

Ich habe überlegt, dass Klopapier auch noch mitgehen zu lassen, wollte Holzi aber nicht so tief sinken lassen :D

Hallo Aurelia :)

vielen Dank für deinen Kommentar, bei der nächsten Geschichte achte ich auf die Leerzeilen.

Ich hätte wohl etwas ausführlicher erklären sollen, weshalb der obdachlose Patient in der Psychiatrie gelandet ist, dass ist in der Tat nicht selbsterklärend. :)

 

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