Schwein
Es stank. Überall drängten sich stumme Menschen, die geschäftig durch die stickige Halle eilten. Er war so allein unter all diesen Menschen. Es arbeiteten fast 5000 von ihnen in seiner Fabrik. Obwohl „seine“ das falsche Wort war. Nichts war „seine“. Nicht mal „sein“ Zimmer. Auch nannte niemand seine Zimmer Zimmer, denn ein Zimmer war es nicht, eher eine winzige Zelle ohne Fenster. Grau und trist. Jegliche Dekoration war ausdrücklich verboten. Es befand sich auch sonst nicht viel darin. Nur ein schmales, hartes Bett und eine Komode, nur spärlich bestückt mit grauen Overalls. Aber hier war sowieso alles grau. Die Wände, die Böden, die Decken, die Luft, die Menschen. Selbst die Sonne, auch wenn es eher so aussah als hätte sie ein Riese gegen eine grelle Halogenlampe getauscht, die trotzdem nicht stark genug war, um in die dicke, abgasverseuchte Luft Licht zu bringen. Es herrschte die Stimmung, wie in einer Tiefkühltruhe, nur viel wärmer.
Und hier lebte er.
Schon seit 35 Jahren. Er war allein und er war alt, beinahe zu alt, niemand erreichte das 45. Lebensjahr. Niemand. Doch das war mal anders gewesen.
Er hatte einige Kollegen von Wiesen reden hören, von Wäldern und Seen. Vom Meer. Er träumte oft vom Meer. Er hatte es noch nie gesehen. Keiner hatte es je gesehen. Sie konnten es sich nur vorstellen.
Hell und schön. Friedlich. Still.
Doch er hatte keine Zeit zu träumen, jetzt musste er arbeiten, sonst würde er nicht mal 36 Jahre alt werden. Die Aufseher waren streng, täglich starben Kollegen, doch das unterbrach nicht den Arbeitslauf, sie wurden sofort durch neue, junge Kollegen ersetzt. Manchmal fragte er sich, wo sie herkamen, aber normalerweise hatte er keine Zeit nachzudenken. Und keine Kraft. Er musste arbeiten, strengte er sich nicht an, drohte ihm ein Aufsäher mit einem Elektroschocker. Sie taten weh, dann konnte er nicht mehr arbeiten und sein Tagespensum nicht schaffen und dann würde er am nächsten Tag doppelt so viel arbeiten müssen, aber das war kaum noch möglich, er war schon so alt.
Bald ist meine Zeit um, dachte er. Aber er hatte keine Zeit, er musste arbeiten, noch 5 Stunden heute. Dann konnte er in seine Zelle und schlafen. Vielleicht gönnte er sich noch eine Scheibe Brot. Aber das Essen war knapp, er musste es sich gut einteilen. Sonst würde er nächste Woche hungern müssen. Nächste Woche...
Er wurde angestoßen, ein Auseher brüllte ihn an, doch er hörte nicht zu. Sie sagten immer das gleiche. Los du faules Schwein, beweg dich, arbeite! Er drehte sich um und fuhr mit seiner Arbeit fort. Noch 5 Stunden, dann könnte er endlich gehen. Wenn die Zeit doch endlich um wäre. Dann könnte er schlafen und träumen. Vom Meer. Und der Freiheit. Aber bis dahin musste er noch arbeiten.
Oder auch nicht.
Alles wurde schwarz. Sein Nacken schmerzte. Sie hatten ihn aussortiert, mit der Elektrozange. Jetzt konnte er träumen. Von Wellen und Bäumen und Gras und Sonne. Nie mehr Schmerzen. Nie wieder Arbeit. Endlich Frieden.
Neben den Leichen der toten Arbeiter des Tages standen zwei Aufseher. Ach, sagte der eine zu dem anderen, sind doch nur Tiere.