Schweineinfluenza
Dreiunddreißig Grad schimmerten die LEDs an der Apotheke, kaum erkennbar, direkt angestrahlt von der heißen Mittagssonne. Emilie lag ausgebreitet, die helle Unterseite ihrer Unterarme nach oben gedreht, halb eingegraben im feinen Kies des spanischen Strandes. Ihre Haut glänzte wegen des Bräunungsöles, das sie großzügig, wie sie war, auf ihrem Körper verteilt hatte. Im Gesicht die große Fliegersonnenbrille, in den Ohren die pinken Ipod-Kopfhörer mit ruhigen Balladen, die Kabel verliefen passend zur Musik, wie gemalt über ihre zierlichen Brüste, für die sie sich wohl niemals geschämt hätte, denn dominant gegenüber solchen Selbstzweifeln stand ein großes Ego.
„ Amy,“ so nannten Emilies Freunde sie, „komm mit ins Meer. Schau dir nur diese Riesenwellen an“. Emilie aber war eingeschlafen, träumte höchstwahrscheinlich -amerikanisch-. Dieses Wort löste in allen ihren Ohren einen Moment der Abstinenz aus, mit den Gedanken gen Westen flüchtend, in Zweibuchstabenstädte à la L.A. , N.Y., Orte, in denen gesamte Lieblingsserien spielten, die sie sich Stundenlang im Originalton anschauten. Nur das war real, echt und richtig.
Lloret de Mar, es war nicht nur ein einfacher Partyurlaub, keine Sauforgie, hot Boys Lagune, Sexparadies, nein, nicht das Emilie das gebraucht hätte, geschweige denn auf der Suche nach Sex war. Ihre Erfahrungen mit ihrem Freund, mit welchem sie kurz vor dem Urlaub Schluss gemacht hatte, weil, ja weil dieses Arschloch doch genau dies mit Lloret de Mar in Verbindung brachte, als sie gemeinsam den Urlaub gebucht hatten, reichten ihr im Bezug auf schlechten Sex bis ins Unendliche. Lloret de Mar, das war auch gleichzeitig etwas Höheres, quasi unbeschreiblich Freiheitliches. „Der erste Urlaub nur mit Freunden, ganz ohne Eltern.“ Diesen Satz hätte sich Emilie am liebsten auf die Stirn tätowiert, um allen Menschen zu zeigen, wie verdammt erwachsen sie sich nun fühlte.
Um so schlimmer wurde es dann, als sich zeigen sollte, welche Bedeutung in diesem verräterischen „erwachsen“ zu stecken schien, als Emilie, während sie für die abendliche Tour ihr feinstes Cocktailkleid, das eigentlich viel zu teuer war, um es für einen solchen Anlass über ihren viel zu schönen Körper zu hauchen, plötzlich merkte, wie ihre Kräfte sie verließen. Sie hebte ein Glas Wasser, versuchte es zumindest, und sah sich selbst hilflos dabei zu, wie die Hand samt Glas langsam, aber dennoch unaufhaltsam, zu Boden sank. Mit dem kalten Wasser auf dem Boden ergriff die Kälte auch ihren Körper. Schüttelnd und glühend griff sie nach ihrem einzigen mitgebrachten Pullover und legte ihn sich über die Schultern. „Das wird schon gleich wieder,“ hämmerte sie sich gedanklich in ihr immer schlimmer von Zweifeln geplagtes Gewissen. Sie wusste, dass in allen Ausreden, die nun im Hundertstel Sekunden Takt durch ihre Gedanken schossen, nur Lügen steckten und sich zu belügen, das war nicht gerade die feine englische - ach, wen zur Hölle kümmert der Mist denn eigentlich?
„Zum Glück wurdest du ja erst in den letzten Tagen krank, hm?“ wollte eine ihrer Freundinnen Emilie trösten. Ein Trost war das nicht, „aber was solls,“ dachte sie sich, „zu Hause lass ich mich untersuchen und dann wird schon wieder alles.“ Wie immer.
Gedacht, geschehen, im trauten siebenhundertfünfzig Quadratmeter Häuschen der vermögenden Eltern gab es nur eine, scheinbar plausible, Reaktion auf diese Situation: „Schweinegrippe! Mein Kind hat Schweinegrippe!“ Mit den gleichen, lyrischen Worten segnete man Emilie im Krankenhaus. „Tamiflu“ hieß das Zaubermittel und es wirkte in vielerlei Hinsicht. Das Fieber sank aus kritischen, vierzig karätigen Höhen wieder in auszuhaltende Siebenunddreißiger.
„Irgendwelche Nebenwirkungen?“ fragte der Arzt.
„Nein, soweit nicht. Nur manchmal, da träume ich. Von Autos, Rennwagen, ganz obskur, aber dann wird’s wieder schöner, mit Elfen, männlichen Schönlingen. Hey, da vorne ist ja wieder einer.“ Emilie griff mit verwundert weit geöffneten Augen nach vorne in die Luft.
Der Arzt notierte und nahm Emilies Mutter, die verständnislos mit dem Kopf schüttelnd in der anderen Ecke des Raumes stand und sich lautstark per Handy über ihre phantasierend, verwirrte Tochter empörte, aus dem Zimmer.
„Wie Sie sehen können, halluziniert Ihre Tochter. Das kann einerseits durch ihr hohes Fieber begründet werden, andererseits tendieren wir unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dieses glücklicherweise wieder gesunken ist, zu der Annahme, dass die Halluzinationen Nebenwirkungen der Medikamente sind.“
„Nebenwirkungen? Es handelt sich hier doch um das Medikament gegen die Schweinegrippe. Die ganzen Medien berichten davon. Wie können denn da bitte Nebenwirkungen auftreten?“
„Wir entschuldigen diesen Umstand, aber Tamiflu ist das einzige Medikament, dass uns zur Verfügung steht, um die Verbreitung der Schweinegrippe aufzuhalten. Die Nebenwirkungen sind noch nicht hinreichend geklärt.“
Emilies Mutter atmete resignierend aus und fragte dann mit fast flüsternder, erotisch hauchender Stimme: „Wann kann ich meine Tochter endlich wieder nach Hause nehmen?“, strich dem Arzt dabei vom Namensschild hoch über den Hals hin zum Kinn und letztlich über seine vollen Lippen.
Am nächsten Tag lag Emilie wieder in ihrem Bett. Ihr Husten hatte sich mittlerweile zu einer steinzeitlichen Mischung aus Gegrunze und Gegröle entwickelt und malträtierte ihre Laune, die sowieso nur noch einer schwachen Erinnerung glich, weil dies mittlerweile das zweite Wochenende nach Lloret war und sich immer noch keinerlei Heilungsprozess in Gang gesetzt hatte, im Gegenteil. Samstagnacht und das einzig Party ähnliche war die kaputte Straßenlaterne, dessen hässlich gelbliches Neonlicht einen Krieg gegen die Dunkelheit führte, zum Leid Emilies verflucht ausgeglichen.
Emilie nahm die Bronchialtropfen, verzog ihr Gesicht. Fünfzig Prozent Alkohol, sie musste an Lloret und den unglaublich schlechten siebziger Billigabsinth aus dem Supermarkt denken, den sie zusammen, ohne Nachtrinken und unter Tränen, gleich am ersten Tag herunter gewürgt hatten. Den Tropfen folgten ein paar tiefe Huster und gelblicher Schleim. Sie spuckte ihn in ein Taschentuch, ohne zu wissen, dass es Eiter war. Eiter, der aus ihren Lungen die Luftröhre hoch kletterte. Sie beklagte sich schon lange wegen der Brustschmerzen, dachte es sei nur wegen des ständigen Liegens. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, bis ihre Mutter ihrer Trage durch die vielen Krankenhausgänge folgte, auf der Emilie nahezu bewusstlos und die beleidigenden Worteskapaden ihrer Mutter gegenüber den Pflegern nicht mehr mitbekommend, transportiert wurde.
Gerade als sich Emilies Mutter nach Stunden der Empörung, des Feilschens mit Geld, um alle erdenklichen Mittel der Heilung zu ermöglichen, beruhigt hatte, schritt der sehnsüchtig erwartete Arzt aus dem Zimmer in den Flur. Eigentlich verrieten sein zu Boden gesenkter Blick, seine tief in den unendlichen Weiten seiner Kitteltaschen steckenden Hände und der feige, Mauseloch suchende, gekrümmte Rücken die gesamte Situation. Emilies Mutter rang mit den Tränen, setzte erwartungsvoll ihr Taschentuch an, um der Zerstörung ihres sündhaft teuren Make-ups gar nicht erst eine Chance zu geben, steckte es allerdings wieder zurück, als sich der Arzt selbstbewusst vor ihr aufbaute und einfühlsam nach ihrer Hand tastete.
„Frau Richter, es handelt sich um eine Fehldiagnose. Wir, als gesamtes Ärzteteam wissen nicht, wie wir unser gesamtes Leid, unsere gesamte Scham in einer Entschuldigung verstecken vermögen...“
Letztlich stand der Arzt da und trällerte auf Emilies Mutter in allen angebrachten und unangebrachten Phrasen und Verdrehungen ein, welche sich der gesamten Tortur tapfer hingab.
Eigentlich wiegte sie die monotone Tonlage des Arztes nur in eine tiefe Trance, sodass sie schließlich das so lange hinausgezögerte und mit scheinbar unschuldig in die Luft gehobenen Armen hinaus geschleuderte Ende gar nicht mitbekam. Während der Arzt, ein Auge Angstbeladen zukneifend, auf ekstatische Reaktionen wartete, stand Emilies Mutter mit weit geöffnetem Mund da, atmete endlich tief ein, zwinkerte ein paar Mal und fragte:
„Entschuldigung. Wie war das?“
Der Arzt baute sich wieder auf, dachte in atemberaubender Geschwindigkeit darüber nach, wie er „Lungenentzündung“, „Tamiflu stoppt Ausbreitung von Viren im Körper, allerdings nicht bakterielle Lungenentzündung“ und „Blutvergiftung“ wieder in einen logisch, syntaktischen Zusammenhang bringen konnte, bis ihm einleuchtete, dass es die Frau vor ihm doch nicht interessierte und entschied sich.
„Ihre Tochter ist tot.“