Schwere Zeiten
Schwere Zeiten
Jeannette hatte es schwer gehabt in letzter Zeit. Zuerst die Trennung von ihrem Freund Bill (Puppenmacher und Teetrinker), dann der Streit mit ihrer besten Freundin Monica. Und zu guter Letzt hatte sie auch noch wegen ein paar Unachtsamkeiten ihren Job verloren. Ihr Appartement konnte sie noch für eine Weile halten, aber irgendwann würde sie es räumen müssen. Man konnte also mit Fug und Recht behaupten, dass Jeannette schon ein seelisches Wrack war als...
... das Telefon in dem markanten Ton klingelte, lag sie noch im Bett. Sie war allein. Die aufgegangene Sonne schien durch die weißen Vorhänge. Wie Schleier verhüllten sie die Außenwelt. Ein sanfter Windhauch ließ sie sich aufblähen und federartig beiseite schwingen. Gleißendes Licht erhellte das Zimmer in zarten Abstufungen. Schatten verschwanden. Wo vorher noch die Nacht herrschte übernahm nun der Tag. Feine Staubkörnchen irrten durch Raum, sichtbar gemacht aufgrund der warmen Strahlen der Sonne. Das Telefon läutete noch immer. Der Wecker ging an. 9:30 Uhr stand auf der digitalen Anzeige. Beide, Telefon und Wecker, gaben ein privates Konzert indem sie abwechselnd ihre höchsten Töne präsentierten. Dieser übermächtigen Kombination aus nervendem Geklingel und hellem Licht zu widerstehen, war beinahe unmöglich. Das musste nun auch Jeannette zugeben. Sie runzelte müde die Stirn und drehte sich auf die andere Seite. Dabei die glitt seidene Zudecke von ihrem, nur von einem dünnen Hemd bedeckten Oberkörper bis zu ihrer schlanken Hüfte. Sie wollte noch nicht aufstehen.
Das peinigende Weck-Konzert dauerte an. Unter großen Anstrengungen öffnete Jeannette ihre Augen. Sie sah auf die Zeitanzeige. Heute war Sonntag. Also warum hatte sie den Wecker gestellt? Hatte sie ihn denn gestellt?
Mühsam richtete sie sich auf wobei ihr etwas zerzaustes, blondes Haar nach unten hing und die Decke nun auch Jeannettes runden Po freigab. Sie war keineswegs wach, doch das sollte sich ändern. Während sie auf das ewig läutende Telefon starrte, fragte sie sich, wie lange es der Anrufer wohl noch aushalten würde? Irgendwann musste es ihm doch auch mal zu bunt werden, oder?
Plötzlich überkam sie ein grauenhaftes Gefühl. Irgendetwas war geschehen. Etwas mit ihrer Familie. Sie wusste nicht, was. Aber sie wusste, das! Sie konnte das Gefühl nicht ergreifen, nicht erklären. Es griff nach ihr. Es breitete sich in ihr aus wie ein Virus, verursachte jedoch keine Grippe oder sonst eine sichtbare Krankheit, sondern belastete ihren Verstand mit vagen Behauptungen und boshaften Bildern. Menschliche Einbildung kann so entsetzlich sein.
Der Wecker beendete seine Schallorgie. Nur das beständige Läuten des Telefons erfüllte die Wohnung. Jeannette starrte. Dann, von sich selbst überrascht, sprang sie auf und rannte zum Telefon. Sie riss den Hörer ans Ohr und lauschte.
„Guten Morgen, Jeannette!“ Sie erkannte die Stimme nicht.
„Entschuldigung, kennen wir uns?“
Der Anrufer lachte leise und gekünstelt.
„Nun, ich kenne dich!“
„Wer zum Teufel sind sie?“ Sie war wütend.
„Das sage ich dir, wenn du mal unter deinem Bett nachsiehst.“
Jeannette wurde es zu bunt. Sie fluchte und legte auf. Dann warf sie sich wieder aufs Bett.
Unter dem Bett, hatte er gesagt. Pah, Spinner!, dachte sie.
Es klopfte jemand an die Tür. Sie sah gelangweilt auf. Wenn ein Mann davor stehen würde, würde sie die Polizei rufen.
Mit diesem festen Entschluss stand Jeannette auf und ging zu ihrer Haustür. Sie erschrak. Vorhin war es ihr nicht aufgefallen. Sie war viel zu sehr mit dem nervigen Anrufer beschäftigt. Den Flur hatte sie keines Blickes gewürdigt. Doch jetzt...
Ihre Finger streiften über die raue Tapete, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Gefunden! Die Deckenlampe enthüllte ein grauenhaftes Bild.
Von der Wohnungstür aus gingen dunkelrote Fußspuren auf sie zu, in ihr Schlafzimmer und hielten vor dem Bett. Jeannette war sich sicher, dass diese gestern Abend noch nicht da waren.
Es klopfte wieder.
„Verschwinden Sie!“, schrie Jeannette, „Ich rufe die Bullen!“
Sie schnappte sich den Telefonhörer und wollte schon wählen, als er sich meldete: „Na, na, so nicht! Wir wollen doch niemanden wegen so einer Kleinigkeit belästigen, oder?“ Sie ließ den Hörer fallen und taumelte rückwärts.
„Sieh unter dem Bett nach! Sieh unter dem Bett nach!“ Die durchdringende Stimme aus dem Hörer wurde von dem zwingendem Klopfen an die Tür begleitet.
„Nein, nein.“, flehte sie leise. Jeannette war kurz davor zu weinen. Diese Hilflosigkeit machte ihr zu schaffen.
Ganz langsam bückte sie sich. Sie streckte ihre zitternde Hand nach dem Bettlaken aus. Es war schwer und wurde immer schwerer. Als es dann die Sicht freigab, weinte Jeannette wirklich. Alles brach in sich zusammen. Ihr Leben verlor die Bedeutung. Die Ereignisse der letzten Zeit vereinigten sich mit diesem und zerquetschten ihre Seele. Das Wrack sank.
Unter dem Bett lag der abgetrennte Kopf ihres Bruders. Er lächelte und ein paar Strähnen hingen ihm in das erstarrte Gesicht.
Sie hatte ihn geliebt. So sehr wie eine Schwester ihren Bruder nur lieben konnte. Trost und Hilfe hatte sie immer bei ihm gefunden. Doch in letzter Zeit hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Nun wusste sie auch warum.
Jeannette saß nur da. Nicht mehr ganz sie selbst. Sie wanderte auf einem schmalen Grat zwischen dem Hier und Jetzt, und einem tiefen Abgrund.
Es klopfte.
Für eine kurze Zeit, war sie wieder sie hier und fasste einen Entschluss. Eine Verzweiflungstat, welche ihre letzte Rettung zu sein schien. Es gab nur noch diese Möglichkeit zu bleiben.
Jeannette stand auf, lief etwas unsicher in die Küche, nahm das erste Messer, das sie finden konnte und rannte zur Wohnungstür. Mit einem lauten Schrei riss sie sie auf.
Es stand niemand da. Der Hausflur war leer.
Beinahe hörbar machte es klick in ihr. Sie ließ das Messer los. Nun war auch das letzte Fünkchen Verstand gegangen. Jeannette war in den Abgrund gefallen. Völlig hilflos.
Schmunzelnd legte er das Fernglas und sein Handy beiseite. Hinter ihm betrat jemand das Zimmer.
„Und? Ist alles glatt gelaufen? Sag schon, Bill!“, fragte eine Frauenstimme.
„Ja, hat alles geklappt. Obwohl ich zum Schluss etwas Angst um dich hatte. Mit so einem Ausbruch hatte ich nicht gerechnet.“
„Tja, ist ja noch mal gut gegangen!“ Sie ging in die Küche. „Wann lässt du das ganze Zeug verschwinden?“
Er überlegt kurz: „ Den Kopf werde ich gleich abholen. Die Spuren werd ich lassen. Sind ungefährlich!“
„Schön! Möchtest du noch einen Tee?“
„Gerne!“ Dann fiel ihm noch etwas ein: „Monica, wann kommt der Bruder aus Asien zurück?“
„In zwei Tagen, Schatz!“
Mit einem befriedigendem Lächeln lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er könnte jetzt wirklich noch einen Tee vertagen.
Auf Jeannette!