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Schwerelosigkeit
Das Schwimmbad ist sonst immer leer, ich gehe freitags morgens, um diese Zeit ist es meistens noch leer, und das mag ich, wenn nicht so viele Menschen im Wasser sind, dann kann ich in Ruhe meine Bahnen schwimmen. Ich schwimme gerne, denn im Wasser fühle ich mich leicht, ich mag es, ganz zu Anfang, wenn ich gerade erst ins Wasser gestiegen bin, dann mag ich es die Arme und Beine auszustrecken und durch das Becken zu gleiten, zu schweben, am besten ist es mit geschlossenen Augen, so muss Schwerelosigkeit sein, denke ich immer, genauso, so fühlt sich das an. Das geht nur, wenn es noch nicht so voll ist, ich bin dabei gerne alleine, ich habe es nicht so gerne, wenn man mir zusieht , deswegen gehe ich früh, und es ist auch nicht so laut, mir kommt es immer so vor, als ob das dann im Schwimmbad lauter wäre, als es eigentlich ist, aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, ich wüsste auch nicht, woran das liegen könnte, denn wenn ich mit dem Kopf unter Wasser tauche, ist es ja still, so ruhig, dann höre ich nichts mehr, und alles ist weit weg, aber wenn ich wieder auftauche und die Kinder schreien, platzt mir fast der Kopf. Nein, morgens ist es am schönsten. Es ist ein altes Schwimmbad, nichts Besonderes, und es ist auch ewig nichts mehr dran gemacht worden, nichts modernisiert oder renoviert, die Umkleidekabinen sind ziemlich heruntergekommen und es riecht auch immer ein wenig nach Schimmel, aber es ist eben das einzige Schwimmbad in der Nähe. Ich komme gut hin, es sind nur drei Stationen mit der 510, und manchmal gehe ich auch zu Fuß, wenn das Wetter nicht zu schlecht ist.
Heute sind zwei Jungs da, vielleicht dreizehn, vierzehn. Sie sitzen da am Beckenrand und reden miteinander, ich kann nicht hören, was sie reden, dafür sind sie zu weit weg, immer nur ein paar Wörter, Gemurmel, doch ich wünschte mir, sie würden einfach leise sein, obwohl sie nicht laut sind, sie sind nicht laut. Trotzdem. Freitags morgens habe ich das Schwimmbad ansonsten für mich, ich bin meistens die Erste hier. Ich schwimme zwanzig Bahnen, und ich schwimme langsam, das Wasser ist glatt und ruhig, und es bleibt glatt und ruhig, die nächsten Gäste kommen normalerweise erst, wenn ich bei den letzten Bahnen bin, die letzten drei oder vier Bahnen schwimme ich nicht mehr alleine, ich kann das dann spüren, das Wasser wird anders, wenn noch andere Schimmer drin sind, es ist nur ein kleines Becken, da wird das Wasser richtig aufgewühlt und ich muss mich noch mehr anstrengen, als ohnehin schon, und ich muss aufpassen, dass ich nicht die Orientierung verliere, oben, unten, rechts, links und dann das Wasser so wild, aber das macht mir nichts mehr aus, denn ich weiß ja, ich bin bald durch und danach ist es mir egal, ich hatte meine Ruhe bis dahin, freitags morgens ist es meistens leer. Die beiden Jungs sehen nicht wie Schwimmer aus, sie tragen keine Klamotten des Vereins, der hier trainiert, manchmal sehe ich einen der Trainer, und ich frage mich auch, was sie hier tun, so früh, ob sie eigentlich nicht in der Schule sein müssten? Beide sind blond, blond und schmächtig, und Ich versuche, sie gar nicht zu beachten, ich versuche sie zu ignorieren, so gut es geht, es sind eben Jungs, und vielleicht haben sie frei oder sie schwänzen den Unterricht, das geht mich ja nichts an. Sie sitzen immer noch da am Beckenrand, die Beine im Wasser, und sie lachen, aber ich schwimme weiter, ich schwimme an ihnen vorbei, es ist die neunzehnte Bahn, noch einmal hin und zurück, dann ist es vorbei, dann bin ich fertig.
Die letzte Bahn spüre ich immer, die letzte Bahn ist anstrengend, wirklich anstrengend, und oft denke ich, alle anderen Bahnen davor sind im Grunde unbedeutend, es kommt immer nur auf die letzte Bahn an, und ich versuche meine Kraft zu sparen, sie mir für die letzte Bahn aufzusparen, aber es klappt nur selten, meistens muss ich kämpfen, richtig auf die Zähne beißen, um es zu schaffen, und doch schaffe ich es, ich schaffe es. Die Jungen sehen nicht, wie ich kämpfe, wie sehr ich mich anstrenge, sie reden nur, sicher reden sie nur dummes Zeug. Ein paar Meter noch, der Beckenrand ist schon ganz nah, ein paar Züge, dann bin ich endlich fertig, meine Finger berühren die Kacheln, das ist das Zeichen. Ich ziehe mich auf den Beckenrand, zwanzig Bahnen, zwanzig, und es ist immer die letzte, die letzte ist die anstrengendste. Ich atme ein, atme aus, halte mich an der Stange fest, mein Körper ist immer noch ganz leicht, ich schwebe im Wasser, und als ich mich umdrehe, sind die Jungs verschwunden. Ich bleibe noch ein paar Minuten lang im Becken und lasse mich treiben, lege meinen Kopf in den Nacken und schaue an die Decke, die hoch und weiß ist, das künstliche Licht so grell, dass ich meine Augen schließen muss, das Wasser gluckert an meinen Ohren.
Mein Handtuch breite ich immer auf der Bank neben dem Becken aus, ich nehme es, lege es mir um die Schultern und dann merke ich immer, wie es unter meiner Haut summt, wie die Muskeln noch angespannt sind, und wie ich zittere, und dann kriege ich auf einmal eine Gänsehaut, obwohl ich ansonsten eigentlich eher unempfindlich gegen Kälte bin. Ich ziehe die schwere Glastür auf, ich muss langsam gehen, weil ich mich so angestrengt habe, ich wanke hin und her, richtig unbeholfen, und dann drehe ich mich im Gang immer noch einmal um, aber das Becken ist leer, und in der Halle ist auch immer noch keiner, nur der Bademeister sitzt in seinem Kabuff vor den Kinderbecken und liest Zeitung, und als er mich sieht, nickt er kurz, und ich winke zurück und gehe weiter zu den Duschen.
Ich benutze immer die hinterste Dusche, sie ist durch eine große Milchglasscheibe abgetrennt und wahrscheinlich für Mütter mit ihren Kindern gedacht, ich habe aber noch nie Kinder hier gesehen, ich habe hier überhaupt fast noch nie jemand anderen duschen gesehen, ich glaube sogar wirklich nur ein einziges Mal, das ist erst ein paar Wochen her, eine ältere Frau, die sich im Badeanzug geduscht und eine Seife für Männer benutzt hat, ich erinnere mich genau an den herben Duft, das war wie früher im Badezimmer, das Aftershave und der noch feuchte Rasierpinsel, die Borsten weiß vom Schaum, und dann dachte ich noch, dass ich die Frau gar nicht im Becken habe schwimmen gesehen, aber ich habe gehört, manche kommen nur in das Schwimmbad, um zu duschen, weil sie so Geld sparen wollen. Alles ist so teuer geworden. Die Duschen hier sind groß genug, ich kann mich vernünftig darin bewegen, und auch der Wasserdruck ist ausreichend, nicht gut aber ausreichend, es läuft nicht einfach so aus dem Kopf heraus wie bei so vielen anderen Duschen, manchmal hab ich schon geglaubt, dass ich zu Hause die einzige noch wirklich gut funktionierende Dusche habe, aber natürlich stimmt das nicht, das kann nicht stimmen. Das Chlor brennt immer noch in meinen Augen, ich stelle das Wasser etwas wärmer, das ist gut, ein gutes Gefühl, alleine unter der Dusche, und ich spüre, ich kann spüren, ob noch jemand anderes im Raum ist, das konnte ich schon immer, selbst mit geschlossenen Augen weiß ich es, ob da noch jemand ist, ich wusste immer, wann Ingo nach Hause kam, wann er zu Hause war, nachts oder morgens, im Wohnzimmer, in der Diele, im Keller, und ich weiß es auch jetzt noch, ob jemand in der Kabine ist oder draußen im Gang, es sind nicht die Geräusche, ich denke, es sind die Körper, ich glaube, ich habe irgendwo einmal gelesen, dass Körper eine Strahlung aussenden, eine Art Energie, aber ich weiß nicht, ob es stimmt.
Die Umkleidekabine liegt am Ende des Gangs, ein langer gekachelter Raum mit abschließbaren Fächern für Kleidung und Wertsachen, und als ich meine Klamotten aus dem Fach nehme und das Schlosspfand auf die Bank lege, damit ich die Münze nachher nicht vergesse, da weiß ich es, da spüre ich es. Ich föhne meine Haare nur an, ich trage sie seit Jahren kurz, außerdem scheint die Sonne, das sehe ich durch die Fenster, und als ich durch das Drehkreuz in die Vorhalle gehe, steht schon eine Gruppe vor der Kasse, alles alte Männer in ausgebeulten, abgetragenen Trainingsanzügen, die laut lachen und auf ihren Handflächen das Kleingeld zusammensuchen.
Draußen ist es warm, Anfang Mai, bald öffnet das Freibad. Er wartet an der Ampel, sein Freund ist weg, er muss schon gegangen sein, ich sehe ihn nicht mehr. Sein Haar ist noch nass, er hat es nach hinten gekämmt, und über der Schulter trägt er einen Rucksack. Er steht da ganz alleine. Vom Seidenberg kommt die 510, der Bus hält vor dem städtischen Gymnasium, Menschen steigen aus und ein, und ich habe meine Fahrkarte schon in der Hand. Es ist schön, sage ich mir, es ist ein schöner Tag, ich laufe, ich gehe zu Fuß, es ist nicht weit, und so erschöpft bin ich nicht, die frische Luft wird mir guttun.
Ich halte Abstand, vierzig, fünfzig Meter, wechsele die Straßenseite, es ist eine schmale Straße, und sehe ihn die ganze Zeit zwischen den Autos, seinen Schatten an den Wänden, sicher geht er nach Hause, und kurz überlege ich, ob dort jemand auf ihn wartet, ob ihn jemand empfängt, ihn umarmt, ihn küsst, ihm etwas zu Essen macht?, und dann überlege ich, ob heute vielleicht ein Feiertag ist, einer dieser Feiertage, an die man sich nie erinnert, die immer so plötzlich und überraschend kommen, aber nein, es ist nur ein ganz normaler Freitag, ein Freitag an dem ich schwimmen gehe wie an jedem Freitag.
Mit nassen Haaren, da kann man sich erkälten, das geht ganz schnell, selbst wenn es draußen warm ist, man hört ja so allerlei, ständig sind die Kinder krank, und was, wenn da wirklich etwas Ernstes draus wird? Das wünscht man keinem. Vielleicht geht er erst jetzt zur Schule und hatte einfach ein paar Freistunden, vielleicht ist der Unterricht ausgefallen, weil wieder die Lehrer fehlen, das scheint ja mittlerweile ein echtes Problem zu sein, früher ist nie Unterricht ausgefallen, ich hätte es mir oft gewünscht, aber es ist nie passiert, ich denke nicht gerne an meine Schulzeit zurück. Es ist so ruhig in dieser Straße, es ist eine von den Straßen, die man selten benutzt, noch seltener zu Fuß geht, und ich denke immer, die Straßen und Häuser wirken dann so anders, wenn man nicht dran vorbeifährt, wenn man sie nicht aus dem Auto heraus sieht, ein schneller Blick, da prägt sich nichts ein, da sieht man an vielem vorbei, man sieht vieles nicht richtig, dabei ist es eine schöne Straße, mit schönen Häusern, Altbauten, restaurierte Fassaden, Blumen in den Fenstern, alles ist ordentlich und gepflegt, das ist mir nie so aufgefallen, weil man eben nicht hinsieht, und jetzt sehe ich eben hin.
Wir bleiben an der roten Ampel stehen, es tropft aus seinen Haaren auf den Asphalt, kleine, dunkle Punkte, und es ist auch kühler geworden, der Himmel auf einmal bedeckt, und sein Rucksack ist halb offen, ich kann hineinsehen, und in dem Moment, in dem ich es sagen will, gerade als ich sagen will, dein Rucksack steht offen, man könnte dir etwas klauen, man könnte dich beklauen, pass lieber auf, pass besser auf, da wird es Grün und der Junge geht weiter, er geht weiter mit seinen nassen Haaren und dem offenen Rucksack, ich bleibe noch an der Ampel stehen, ich warte, bis er die Straße überquert hat.
Ich folge nicht ihm, denke ich, ich folge dem offenen Rucksack, ich blicke auf den schmalen, dunklen Schlitz, und ich würde gerne wissen, was in diesem Rucksack ist, ob es nur ein Handtuch ist oder die ausgewrungene Badehose, vielleicht noch etwas Kleingeld, damit er sich etwas zu essen kaufen kann nach dem Schwimmen oder ein Buch, ein Schulbuch oder ein Tagebuch, vielleicht auch etwas ganz anderes? Vielleicht ist es etwas, dass der andere Junge ihm geschenkt hat und niemand anderes darf es wissen, niemand darf davon erfahren. Wir sind schon fast in der Fußgängerzone angekommen, als er sich das erste Mal umdreht, er sieht sich nur kurz über die Schulter, aber da ist nichts, er sieht mich und er sieht mich an, doch er lächelt nicht einmal, er geht einfach weiter, als wäre da nichts, und ich bleibe stehen und schaue ihm hinterher, und jetzt spüre ich die zwanzig Bahnen, ich spüre sie alle auf einmal, ich spüre die Anstrengung und dass ich keine Kraft mehr habe, ich habe einfach keine Kraft mehr dafür, ich kann ihm nur noch hinterhersehen, wie er langsam an den Geschäften vorbei geht, weiter auf dem Kopfsteinpflaster, sich immer weiter entfernt, sich immer weiter von mir entfernt, bis er in der Menge verschwunden ist. Einmal sehe ich noch den Rucksack, aber es ist zu weit weg, ich sehe kurz den hellgrauen Stoff, und dann ist er verschwunden.
Ich gehe langsamer, ich bleibe fast stehen, ich sehe in eins der Schaufenster, so viele neue Geschäfte, denke ich, und sie alle wollen dir irgendetwas verkaufen, was du eigentlich nicht brauchst, denn was braucht man denn schon wirklich?, denke ich, und dann gehe ich weiter, am alten Friedhof steige ich in die 510, obwohl ich weiß, es ist nur noch eine Station, und der Bus ist voll, ich bleibe neben dem Fahrer stehen und steige vorne aus, und diese Straße kenne ich, ich kenne sie sehr gut, rechts der Orthopäde, links das Nagelstudio, und da ist keine Post, nur ein Werbeprospekt, Fernreisen, der Schlüssel fühlt sich kalt und schwer an in meiner Hand, klack klack, und ich bin im Hausflur, der nach Staub und warmem Kirschkuchen riecht, es riecht dort immer so, ich weiß nicht, warum.
Ich mag die Stille, das weiß ich, ich sitze in meiner Küche und schaue aus dem Fenster, die Wipfel der alten Linde bewegen sich, aber alles ist ganz still, und es ist erst vormittags, doch ich fühle mich müde, ich könnte das Efeu im Garten schneiden oder mir einen Tee kochen, aber ich bin müde, zwanzig Bahnen, denke ich, das ist schon eine Menge, nicht viele in meinem Alter schaffen das, und nur die letzte ist anstrengend, und ich weiß, ich könnte noch so viele Dinge tun, doch alles, was ich tun kann, ist mich auf mein Bett zu legen, und dann liege ich da und schließe meine Augen und alles ist weit weg, vielleicht sind diese Dinge nicht wichtig, wer kümmert sich schon um ein wenig Efeu?, denke ich, und Tee kann ich immer trinken, morgens, abends, wann immer ich will, und es ist weich und warm hier, mein Kopf auf dem Kissen, und ich will dem Jungen doch nur sagen, hier, du, dein Rucksack, und ich will ihn in den Arm nehmen und ihm die Haare trocknen, mit einem meiner guten Handtücher, ich will ihm auf die Stirn küssen und sagen, alles ist gut, alles ist gut, du bist zu Hause, hier ist dein zu Hause, und was möchtest du essen?, ich habe alles da, Fisch und Fleisch und Schokolade und Eis, alles, ich habe alles, du musst es nur sagen, du musst dich nicht schämen, Ingo mochte Bier zu seinem Kuchen, das fanden alle immer seltsam, aber ich habe das verstanden, er mochte es eben einfach so, bei mir wirst du dich wohlfühlen, du darfst auch Fernsehen, du darfst fernsehen bis es dunkel draußen wird, und ich könnte dir so vieles erzählen, so vieles, und dann gleite ich wieder durch das Wasser, ich bin ganz leicht, ja, ganz leicht, wie nach zwanzig Bahnen, ich schwebe, ich halte den Jungen fest und ziehe den Reißverschluss an seinem Rucksack zu und der schmale, dunkle Schlitz ist weg und ich sage, hör zu, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, ich verrate es niemandem, glaub mir ruhig, glaub mir einfach, ich sage es niemandem, ich sage niemandem etwas.