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Schwierige Zeiten
Heute ist mein großer Tag. Nach langem Überlegen, Zögern, Zweifeln und Hadern habe ich mich dazu durchgerungen mich meinem Schicksal zu stellen. Mein Körper ist angespannt. Ich spüre wie mein Herz gegen den Brustkorb hämmert, spüre jeden einzelnen Atem, jeden Schritt, jedes Geräusch – kurz: Ich spüre das Leben deutlicher als je zuvor.
Mein Weg führt mich durch die überfüllten Straßen von New York. Mir begegnen Menschen aus allen Ländern der Welt. Ich sehe Weiße, Asiaten, Schwarze, Latinos, sehe Junge und Alte. Doch sie alle haben den selben Blick: leer, stumpf, ausgebrannt.
Jeden Tag sehen sie Nachrichten, hören etwas über den Krieg im nahen Osten, über Tote nach israelischen Luftangriffen im Gaza-Streifen und über die dadurch gestiegen Spritpreise. Sie nehmen all das wahr, aber von Bedeutung für sie sind nur die gestiegenen Spritpreise. Die Toten und die Ungerechtigkeit sind bedeutungslos.
So ist die Welt nun mal. Daran kann man nichts ändern.
Weg von den Straßen hinunter in die Metro. Der eigentlichen Lebensader New Yorks. Auch hier ist es übervoll. Während ich auf meine Linie warte, sehe ich mir nochmal die Gesichter der Menschen um mich herum an. Ich entdecke nicht ein einziges Gesicht, das glücklich aussieht. Selbst die Kinder scheinen gestresst und genervt zu sein.
Dabei ist New York doch fast so etwas wie das Mekka des Westens. Und nicht mehr nur des Westens. Alle strömen sie hierher, aus allen Teilen der Welt. Hier scheint das Glück für alle frei erreichbar.
Ironie des Schicksal, das auf eine verdrehte Art und Weise New York selbst für mich das Glück bereit hält.
Mir gefällt es hier nicht. Mir gefällt die Stadt nicht. Mir gefällt das Land nicht.
Deshalb verlasse ich New York. Heute noch.
Mein Zug fährt in die Station und ich zwänge mich in die volle Bahn. Heute habe ich sogar Glück und erhasche einen Sitzplatz. Links neben mir sitzt eine alte Frau und döst vor sich hin, rechts neben mir sitzt ein mittelalter Mann in feinem Anzug und liest die New York Times.
Ich lese verstohlen ein Wenig mit. Auf der vierten Seite sehe ich eine kleine Überschrift: Verteidigungsetat um 50 Milliarden Dollar aufgestockt.
„So viel Geld“, murmele ich ohne nachzudenken vor mich hin.
Mein Nachbar ist auf mich aufmerksam geworden. Er blickt von der Zeitung auf und mustert mich. Es ist kein böses oder feindseliges mustern, sondern eher ein interessiertes. Mir ist es dennoch unangenehm. Ich möchte nicht auffallen. Ich fange an zu schwitzen.
„Finden sie es falsch?“
Er blickt mich an und wartet.
„Man könnte das Geld anstatt es in Waffen zu investieren, auch dazu nutzen, die Armut zu bekämpfen.“
Sein Blick sagt alles. Er hält mich entweder für einen Weltverbesserer oder für einen Bettler. Für beide hat er keine Sympathie.
„Wir investieren es in Sicherheit.“
„Sicherheit auf Kosten der Freiheit anderer.“
Ich sollte mich nicht mit solchen Diskussionen aufhalten. Aber ich nicht anders.
„Die Freiheit von Terroristen und Diktatoren ist nichts wert. Unsere Truppen sorgen nicht nur für unsere Sicherheit, sondern auch für die der gerechten Menschen dort unten. Gerade sie sollten das zu schätzen wissen.“
Er blickt mich eindringlich an. Seine Meinung steht fest. Er glaubt nicht nur im Recht zu sein. Er weiß es. Von Menschen wie mir lässt er sich nichts sagen.
Dabei liegt er falsch. Er und seine Landsleute. Ich weiß es. Nichts was er sagt, was er seinen Politikern nachredet ohne selbst zu denken, kann mich überzeugen.
„Wir geben Milliarden an Entwicklungshilfe aus, wovon sie profitieren“, glaubt er seine Position zu stärken.
„Ich lebe in New York“, erwidere ich nur.
Er weiß das er einen Fehler gemacht hat. Ohne zu zögern hat er mich auf eine andere Seite gestellt. Es ist ihm unangenehm, er will kein Rassist sein. Seinen Fehler zu geben will er aber nicht. Ein Wort der Entschuldigung kommt nicht.
Dabei steht in seiner Zeitung auch ein Artikel mit Überschrift „Eine Entschuldigung kann die Welt retten“. Ein Kommentar eines Redakteurs, der die Meinung vertritt, das man für seine Fehler einstehen soll.
Er sieht wohin mein Blick geht. Man sieht wie er nachdenkt.
„Es sind schwierige Zeiten“, bemerkt er und widmet sich dann seiner Zeitung. Dem Sportteil, der ist unkritisch.
Der Zug bremst langsam ab. Grand Central Station. Endstation.
Die Türen öffnen sich, die Menschen beginnen aus dem Zug in den Bahnhof zu strömen. Einen Wimpernschlag lang überlege ich, ob eine Entschuldigung wirklich die Welt retten kann.
Nein, es ist viel zu wenig…
Mein Hand gleitet in meine Jackentasche, umschließt ihren Inhalt.
…eine Entschuldigung wäre ein Anfang...
Ich atme tief durch.
…aber es muss trotzdem Gerechtigkeit geben.
Ich drücke den Knopf und verlasse New York.