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Schwierige Zeiten

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13.09.2009
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Schwierige Zeiten

Heute ist mein großer Tag. Nach langem Überlegen, Zögern, Zweifeln und Hadern habe ich mich dazu durchgerungen mich meinem Schicksal zu stellen. Mein Körper ist angespannt. Ich spüre wie mein Herz gegen den Brustkorb hämmert, spüre jeden einzelnen Atem, jeden Schritt, jedes Geräusch – kurz: Ich spüre das Leben deutlicher als je zuvor.

Mein Weg führt mich durch die überfüllten Straßen von New York. Mir begegnen Menschen aus allen Ländern der Welt. Ich sehe Weiße, Asiaten, Schwarze, Latinos, sehe Junge und Alte. Doch sie alle haben den selben Blick: leer, stumpf, ausgebrannt.
Jeden Tag sehen sie Nachrichten, hören etwas über den Krieg im nahen Osten, über Tote nach israelischen Luftangriffen im Gaza-Streifen und über die dadurch gestiegen Spritpreise. Sie nehmen all das wahr, aber von Bedeutung für sie sind nur die gestiegenen Spritpreise. Die Toten und die Ungerechtigkeit sind bedeutungslos.
So ist die Welt nun mal. Daran kann man nichts ändern.

Weg von den Straßen hinunter in die Metro. Der eigentlichen Lebensader New Yorks. Auch hier ist es übervoll. Während ich auf meine Linie warte, sehe ich mir nochmal die Gesichter der Menschen um mich herum an. Ich entdecke nicht ein einziges Gesicht, das glücklich aussieht. Selbst die Kinder scheinen gestresst und genervt zu sein.
Dabei ist New York doch fast so etwas wie das Mekka des Westens. Und nicht mehr nur des Westens. Alle strömen sie hierher, aus allen Teilen der Welt. Hier scheint das Glück für alle frei erreichbar.
Ironie des Schicksal, das auf eine verdrehte Art und Weise New York selbst für mich das Glück bereit hält.
Mir gefällt es hier nicht. Mir gefällt die Stadt nicht. Mir gefällt das Land nicht.
Deshalb verlasse ich New York. Heute noch.

Mein Zug fährt in die Station und ich zwänge mich in die volle Bahn. Heute habe ich sogar Glück und erhasche einen Sitzplatz. Links neben mir sitzt eine alte Frau und döst vor sich hin, rechts neben mir sitzt ein mittelalter Mann in feinem Anzug und liest die New York Times.
Ich lese verstohlen ein Wenig mit. Auf der vierten Seite sehe ich eine kleine Überschrift: Verteidigungsetat um 50 Milliarden Dollar aufgestockt.
„So viel Geld“, murmele ich ohne nachzudenken vor mich hin.
Mein Nachbar ist auf mich aufmerksam geworden. Er blickt von der Zeitung auf und mustert mich. Es ist kein böses oder feindseliges mustern, sondern eher ein interessiertes. Mir ist es dennoch unangenehm. Ich möchte nicht auffallen. Ich fange an zu schwitzen.
„Finden sie es falsch?“
Er blickt mich an und wartet.
„Man könnte das Geld anstatt es in Waffen zu investieren, auch dazu nutzen, die Armut zu bekämpfen.“
Sein Blick sagt alles. Er hält mich entweder für einen Weltverbesserer oder für einen Bettler. Für beide hat er keine Sympathie.
„Wir investieren es in Sicherheit.“
„Sicherheit auf Kosten der Freiheit anderer.“
Ich sollte mich nicht mit solchen Diskussionen aufhalten. Aber ich nicht anders.
„Die Freiheit von Terroristen und Diktatoren ist nichts wert. Unsere Truppen sorgen nicht nur für unsere Sicherheit, sondern auch für die der gerechten Menschen dort unten. Gerade sie sollten das zu schätzen wissen.“
Er blickt mich eindringlich an. Seine Meinung steht fest. Er glaubt nicht nur im Recht zu sein. Er weiß es. Von Menschen wie mir lässt er sich nichts sagen.
Dabei liegt er falsch. Er und seine Landsleute. Ich weiß es. Nichts was er sagt, was er seinen Politikern nachredet ohne selbst zu denken, kann mich überzeugen.
„Wir geben Milliarden an Entwicklungshilfe aus, wovon sie profitieren“, glaubt er seine Position zu stärken.
„Ich lebe in New York“, erwidere ich nur.
Er weiß das er einen Fehler gemacht hat. Ohne zu zögern hat er mich auf eine andere Seite gestellt. Es ist ihm unangenehm, er will kein Rassist sein. Seinen Fehler zu geben will er aber nicht. Ein Wort der Entschuldigung kommt nicht.
Dabei steht in seiner Zeitung auch ein Artikel mit Überschrift „Eine Entschuldigung kann die Welt retten“. Ein Kommentar eines Redakteurs, der die Meinung vertritt, das man für seine Fehler einstehen soll.
Er sieht wohin mein Blick geht. Man sieht wie er nachdenkt.
„Es sind schwierige Zeiten“, bemerkt er und widmet sich dann seiner Zeitung. Dem Sportteil, der ist unkritisch.
Der Zug bremst langsam ab. Grand Central Station. Endstation.
Die Türen öffnen sich, die Menschen beginnen aus dem Zug in den Bahnhof zu strömen. Einen Wimpernschlag lang überlege ich, ob eine Entschuldigung wirklich die Welt retten kann.
Nein, es ist viel zu wenig…
Mein Hand gleitet in meine Jackentasche, umschließt ihren Inhalt.
…eine Entschuldigung wäre ein Anfang...
Ich atme tief durch.
…aber es muss trotzdem Gerechtigkeit geben.
Ich drücke den Knopf und verlasse New York.

 
Zuletzt bearbeitet:

Moi Abbadon,

herzlich willkommen!

Dein Einstand hat mir größtenteils gut gefallen, was auch daran liegt, daß ich NY tatsächlich wiedererkannt habe, die Stimmung in der Stadt, die Reaktionen, der Rhythmus. Die Stadt ist so oft beschrieben worden, daß es schwierig ist, hier noch Worte zu finden, die nicht alles nachkauen. Für mich hat das etwas angenehm Frisches, Persönliches. Ich sehe die Straßen und die Metro jedenfalls vor mir. Den ganzen ersten Absatz finde ich sehr intensiv und nachfühlbar geschrieben, an diesem Stil kannst Du mE ruhig weiter entlangdenken.

Mir gefällt es hier nicht. Mir gefällt die Stadt nicht. Mir gefällt das Land nicht.
Deshalb verlasse ich New York. Heute noch.
Solche Wiederholungen wirken oft ungelenk und den Lesefluß störend, ich finde aber, Du hast sie hier schön verwendet, und das "Heute noch" bildet einen passend harten Abschluß.


„Finden sie es falsch?“
Er blickt mich an und wartet.
Und genau das ist für mich typisch US-Amerikaner. Ich höre das geradezu, mit einem bestimmten Tonfall - kein persönlicher Angriff, wir sind ja PC, aaaaaber ... sehe den Typen vor mir. Die gleiche Reaktion, wenn es um die "Jungs" im Irak geht: "Wie, Du unterstützt die Truppen nicht?" Gleiche Diskussion. Sehr gut beobachtet, oder recherchiert.
Anrede "Sie" muß übrigens groß.

Die Sache mit der 'Entschuldigung' kaufe ich nicht mehr - selbst wenn das eine selbst erlebte Szene wäre, es klingt aufgesetzt. Das ist auch plötzlich so moralisch, wo man schon bereits eine Moral sehen konnte.

Das Ende ... eine Bombe? Selbstmordattentat? Das ist mir eine zu dramatische Geste. Das paßt auch nicht zum ruhigen, intensiven Anfang. Paßt auch nicht zu der Aussage "Ich verlasse NY", den vorangegangenen Reflexionen der Figur. Sozialengagement und Überdruß als Auslöser - das ist zu viel Zeigefinger, und nicht richtig glaubwürdig.
Oft funktioniert so eine Geschichte besser, wenn man ein paar leisere Töne wählt. Ein offenes Ende, das die Leser mit einem unguten Gefühl zurückläßt, vielleicht. Das sich auf dieses eine Schicksal beschränkt, nicht gleich eine Katastrophe einläutet. Lieber der Blick ins persönliche Detail, wie in der Einleitung - er müßte nichtmal sterben. Könnte ohne Geld und Gepäck in einen Zug steigen, das alleine würde zeigen, daß er keine Zukunft für sich sieht. Nur ne Idee.

Hoffe, Dir haben meine Eindrücke ein bißchen geholfen. Viel Spaß noch hier! :)
Mitternächtliche Grüße,
Katla

P.S. Die Migration von gerade Chinesen ist aber alles andere als kürzlich, das mit dem "Mekka für den Westen", und erste spätere Attraktion für Auswandernede aus anderen Erdteilen solltest Du vllt nochmal überdenken.

 

Abbadon schrieb:
Hallo,

Ich bin ganz neu hier und hab bisher nur etwas mitgelesen. Hab etwas mit mir gehadert tatsächlich eine Geschichte hereinzustellen, weil man hier ja doch eine Reihe toller Geschichten findet.
Hoffentlich war die Geschichte für den Anfang nicht zu schlecht. Gerade die Rechtschreibung und Grammatik macht mir trotz Word und zwei Korrekturlesungen doch sorgen :/
Über Kritik freu ich mich natürlich. Vor allem wäre es toll zu wissen, ob das Ende so in Ordnung geht und klar wird. Meine beiden jetzigen Leser waren da unterschiedlicher Meinung.

Grüße
Abaddon


Derartige Kommentare bitte in einen Extrabeitrag unterhalb der Geschichte einstellen.

 

Hallo Katla,

Vielen Dank für dein Feedback.
Freut mich das dir der Anfang der Geschichte gut gefallen hat. Bei dem Ende muss ich zugeben, dass es, mit etwas zeitlichem Abstand betrachtet, nicht so gut passt.
Ich werde es nochmal überarbeiten und schauen was dabei rauskommt, deine Tipps sind da sicher wertvoll. Danke!

 

Hallo,
der Text verfolgt leider keine erzählerische Absicht, sondern eine journalistische. Als Mittel dazu wird der Dialog genommen, mit einer tja, irgendwie konturlosen Person, die nicht viel zu sagen hat. Es wird dann leise erzählt, und es fällt – das rettet den Text ein Stück weit – durch die indirekte Art der Beschreibung Licht auf den Erzähler, der mit allem nichts zu tun haben will, so scheint es.
Hier diktiert der Inhalt die Form, da wo die Informationen der Menschen und ihr Interesse am Geschehen außerhalb des eigenen Lebens, nur lauwarm sind, können sie, wenn sie sich über diese Dinge unterhalten, eben auch nur lauwarm wirken. Und es ist dann halt so recht, kein interessantes, kein richtig interessantes Leseerlebnis.
Katla sagt, sie fände den Text gut, weil er das Lebensgefühl von New York einfange. Ich finde, um das Lebensgefühl einer Stadt einzufangen, sind individuelle Bilder nötig, Szenen, kein: Es war alles überfüllt und da waren Latinos und Schwarze und Asiaten. Aber das ist meine Meinung. Ich bekomme durch den Text nicht mit, was die New Yorker Metro von der Pariser Metro unterscheidet. Keine Ahnung, ich weiß es nicht.

Gruß
Quinn

 

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