- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.170
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 29
Sebastians Erlösung
Plötzlich waren sie überall. Grotesk schnell war die Apokalypse über die Menschheit hereingebrochen. An jeder Straßenecke fielen sie übereinander her. Männer töteten ihre Frauen, Schwestern ihre Brüder, Eltern ihre Kinder. Von dem Gedanken angetrieben, zu überleben, und das auf Kosten von allem, was den Menschen je vom Tier unterschieden hatte. Ein kleiner Junge kauerte zwischen ein paar Mülltonnen und drückte weinend einen toten Welpen an seine Brust.
Nächstenliebe und Ethik waren in eine Geschichte eingegangen, die in diesem neuen Zeitalter des Chaos niemand mehr schreiben würde.
Zusammen mit einigen anderen hatte Sebastian Zuflucht in einem verlassenen Krankenhaus gefunden. Er hatte vergessen, wie er hierher gekommen war. Eine Zeit vor dem Jetzt gab es nicht, die Erinnerung an sie war gelöscht: Vielleicht von einem Sturz auf den Kopf, vielleicht von einer gnädigen Fehlfunktion seines eigenen Verstandes. Es war leichter, mit dem Untergang fertig zu werden, wenn man nichts anderes kannte.
Die Flüchtlinge wurden täglich mehr, und bald bevölkerten so viele von ihnen den Ostflügel des Krankenhauses, dass auf den Gängen soviel los war wie zuletzt vermutlich vor dem... Was? Sebastian versuchte manchmal, sein Gedächtnis zu reanimieren, herauszubekommen, was passiert war. Es gelang ihm nie, und es wollte auch niemand darüber sprechen. Jeder von ihnen versuchte lediglich, durchzukommen. Kein Kaffeeklatsch... Was gab es schon zu bereden? Nur zum Essen kamen sie regelmäßig zusammen, doch auch hier brach niemand das Schweigen außer durch Schmatzen.
Eines Tages hörte Sebastian einen Schrei von draußen, und als er durch ein Fenster voller Vogelscheiße auf den Hof blickte, sah er, dass sie den General umzingelt hatten. Sebastian hatte ihn wegen seiner Uniform so getauft. Der Soldat hatte sich vermutlich von der nahen Kaserne zu ihnen gerettet.
Viele kamen aus den Kasernen oder aus deren Umfeld. Bevor die Stromversorgung des Krankenhauses zusammengebrochen war, hatte Sebastian in einem der Fernseher auf den Fluren gehört, dass die Ursache der Katastrophe wahrscheinlich ein schiefgegangenes Experiment mit biologischen Waffen sei, und dass höchstwahrscheinlich das Militär die Verantwortung für alles trage. Als ob es in der Hölle, in die sie unterwegs waren, irgendwen interessieren würde.
Es waren viele, und Sebastian ahnte, dass sie in das Krankenhaus einfallen würden, sobald sie mit diesem ersten Opfer fertig waren. Offenbar verstand der General, dass sein Ende gekommen war, und er schien beschlossen zu haben, nicht auf den Knien zu sterben. Er hörte auf zu quieken wie ein Schwein vor der Schlachtung und begann stattdessen, wild um sich zu schlagen. Doch sie hatten ihn umstellt und waren zu zahlreich. In einem unvorsichtigen Moment warfen sie ihn zu Boden und machten sich über ihn her. Die Routine und Gleichgültigkeit des Mordens ließen Sebastians Hände vor Wut zittern.
Er machte sich auf in eines der Patienten-Zimmer, um sich zu verstecken. Sie konnten unmöglich jeden einzelnen Raum in diesem verdammten Krankenhaus durchsuchen, also bestand Hoffnung. Weglaufen war unmöglich. Er war geschwächt, hatte seit Tagen nichts gegessen, und er wusste, dass sie schnell waren. Schneller als er. Sebastian wartete und hoffte.
Das Holz der Tür splitterte, als sie eingetreten wurde. Die Klinke brach heraus und landete mit einem stumpfen Klirren auf dem grauen Linoleum. Einer von ihnen trat ein, mit einem Blick so kalt wie eine Novembernacht. Sebastian hörte sich selber stöhnen, ein Klagelaut, komponiert aus Angst und einem mächtigen, bösartigen Hunger. Ein zweiter Mann trat in den Raum, sah den anderen an und fragte: „Worauf wartest du?“
Der Andere zielte mit seiner Pistole auf Sebastians Stirn und antwortete: „Er hatte seine Chance noch nicht.“ Er nickte Sebastian zu und forderte ihn auf, etwas zu sagen. ‚Töte mich nicht’, wollte Sebastian flehen. Er erschrak, als seinen Stimmbändern lediglich ein jammernder, unartikulierter Laut bar jeden Sinns entwich.
„Hab’ ich doch gesagt. Er ist einer. Das sieht man doch, du Pfeife. Seine Augen. Als hätte die Seele den Körper verlassen und vergessen, das Scheißding abzustellen. Der ganze Laden ist verseucht.“
„Viele?“, fragte der Mann, der auf Sebastian zielte.
„Zu viele. Wir können hier nicht bleiben. Scheiß Zombies, soweit das Auge reicht. Knall das Mistding ab und dann lass uns gehen.“
Sebastian wurde von einem grellen Blitz geblendet und spürte einen Druck über seinem linken Auge. Dann wurde es dunkel und still.