Sechs-Fingerhandschuh
Der sechs Finger Handschuh
Glauben Sie bitte nicht, dass es meine Art wäre anderen Menschen nachzustellen, sollten sie auch noch so eigenartig aussehen, so etwas tue ich für gewöhnlich nicht. Aber da war dieser junge Mann, der... ich musste der Sache einfach auf den Grund gehen und ehrlich gesagt, wundere ich mich, dass dies vor mir sonst noch Niemand getan hatte. Jedenfalls stand ich im Supermarkt an der Kasse, so etwa in der Mitte. Eigentlich war ich auch in Eile, wegen einer Verabredung und wollte ledeglich das Nötigste einkaufen, um ein angemessenes Essen zubereiten zu können. Ich lies meinen Blick umherschweifen und betrachtete ein wenig die Kunden vor mir, wie ich es fast immer tue, da fällt mir ein junger Mann auf, der gerade an der Reihe war zu bezahlen.
Im Grunde nichts Ungewöhnliches und daher ruhte mein Blick wohl auch eher beiläufig auf seinem Handeln. Ich wollte meine Aufmerksamkeit gerade wieder auf meine Waren richten, um zu überschlagen, welchen Betrag ich wohl zu zahlen hätte, da sah ich es.
Ich musste in der Tat drei Mal hinschauen und auch ein viertes Mal, um ganz sicher zu gehen, dass mit meiner Wahrnehmung noch alles zum Besten gestellt war, doch nachdem ich mehrmals nachgezählt hatte, bestand kein Zweifel mehr, er trug an der rechten Hand einen Handschuh mit sechs Fingern. Sechs Finger! Ein offensichtlicher selbstgestrickter Handschuh aus hellblauer Wolle mit weißem Muster. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, denn ich akzeptiere jede Art von Individualismus und Eigenartigkeiten, die sich Menschen leisten, was mich so bannte war die Tatsache, dass eben dieser Mensch so garnicht danach aussah, als wolle er sich durch irgendein außergewöhnliches Äußeres von der Masse abheben, Ein ganz gewöhnlich gekleideter junger Mann mit gewöhnlichen Turnschuhen, gewöhnlicher Jeans, einer ganz gewöhnlichen rot-grauen Winterjacke und an seinem Rucksack, der etwas schief auf seinen Schultern hing war auch nichts Außergewöhnliches. Seine Haare waren etwas wirr, wie kurz nach dem Aufstehen und sein Blick, ja das fiel mir erst jetzt auf, sein Blick war eine seltsame undefinierbare Mischung aus Erwartung, unbeantworteten Fragen und einer gewissen Anteilnahmslosigkeit. Ich achtete nun genau auf die Details und stellte fest, das er die Hand, die in dem sechs Finger Handschuh steckte überhaupt nicht bewegte, sie hing einfach nur herunter. Die andere Hand jedoch, die linke, an der er keinen Handschuh trug nutzte er, um sein Portemonaie aus der Hosentasche zu ziehen. Was danach passierte schien die anderen Kunden, die in der Schlange warteten zu ärgern, oder mindestens zu nerven, doch ich richtete mein Augenmerk gerade deswegen in einer für mich eher ungewöhnlich intensiven Weise auf die Bewegungen seiner linken Hand.
Er legte die Geldbörse auf das Tischlein neben der Kasse und zog umständlich einen Geldschein daraus. Dann drehte er es um und sammelte Kleingeld aus einem Fach des Portemonaies, Münze für Münze, bis er den Betrag passend hatte. Derweil verdrehte die Verkauferin schon mehrmals die Augen, während er immernoch den gleichen undefinierbaren Blick an sich hatte, Niemnaden wirklich fixierend und doch nicht in die Leere schauend.
Ich kam mir kurzzeitig ein wenig seltsam vor, das Geschehen mit so viel Interesse und so unablässig zu beobachten, doch diesen Gedanken verwarf ich sofort wieder, denn als er mit der linken Hand den Kassenbon entgegen genommen und seinen ganzen Einkauf unter großer Mühe ausschließlich mit der linken Hand ergriffen hatte, wurde es mir plötzlich klar, er war Rechtshänder! Er musste Rechtshänder gewesen sein, denn nur ein Rechtshänder agiert mit der linken Hand auf diese Weise, so ungeübt, so umständlich.
Bis ich zu zahlen an der Reihe war, wendete ich diesen Gedanken immer weider hin und her. Vielleicht hatte er gar keine rechte Hand mehr, oder sie war verstümmelt. Aber warum dann der sechste Finger am Handschuh? Und warum trug er an der anderen Hand garkeinen?
Ich versichere Ihnen, wenn mein Gefühl mir auch nur den geringsten Zweifel gelassen hätte, ob er nicht vielleicht doch mit einer verstümmelten oder sogar ohne eine rechte Hand leben musste, hätte ich all diese Gedanken sofort wieder verworfen und wäre nach Hause gefahren.
Die Kunden hinter mir waren sichtlich erleichtert, das es endlich weiter ging, doch ich hatte nur noch eines im Sinn, schnell bezahlen und dran bleiben, es hätte mir sonst für den Rest meines Lebens keine Ruhe gelassen. Ich hatte fest damit gerechnet, ihn nicht mehr zu sehen, schließlich musste ich noch einen Augenblick an der Kasse warten und dann auch noch bezahlen, aber als ich nach draußen in die klirrende Dezemberkälte kam, stand er noch neben der Tür über seinen Rucksack gebeugt, alles mit der linken Hand einzeln hineinpackend.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und ging geradewegs auf mein Auto zu, verstaute meine Einkauf im Kofferraum, setzte mich in den Wagen und beobachtete sein Handel im Rückspiegel. Unmittelbar ansprechen wollte ich ihn nicht, erst wenn ich mir ganz sicher war, dass mich mein Gefühl auch tatsächlich nicht betrogen hatte. Nur ganz kurz huschte mein Blick zur Uhr, halb zwei am Nachmittag. Mir kamen nun doch Zweifel, nicht wegen des jungen Mannes, sondern wegen meines Handelns. Was um Himmels Willen tat ich hier eigentlich?
Ich musste wohl nicht ganz bei Verstand sein, hier einem hellblauen Wollhandschuh nachzuspionieren, an dem ein ganz gewöhnlicher Mensch hing und ein zugegebnermaßen eher ungewöhnlicher sechster Finger. Ich hatte ohnehin schon viel zu viel Zeit verschwendet, denn in weniger als einer Stunde würden unsere Gäste kommen und ich musste noch bei der Zubereitung des Essen helfen. Meine Frau wäre wohl ziemlich erbost, wenn ich wegen einer solchen Spinnerei zu spät zum Essen mit den Kollegen und Vorgesetzten der Versicherung käme, schließlich waren wir die Gastgeber! Schließlich fand es nur alle zwei Wochen statt. Schließlich standen wieder wichtige Gespräche an, Erhöhung der Vertragsabschlussprovision, Senkung der Schadensfreiheitsrabatte und, besonders brisant, die Kundenaufklärung über die letztmalige Möglichkeit staatlicher Förderung bei Lebensversicherungsabschlüssen in diesem Jahr. Außerdem schadete eine Unregelmäßigkeit an einem solchen Abend nicht nur meiner Stellung in der Firma, sondern automatisch auch der meiner Frau.
Plötzlich kam ich mir so dumm vor, überhaupt über eine solche Verrücktheit nachgedacht zu haben. Vermutlich eine kurze, unbedeutende Ausfallerscheinung! Einige Wasserrohre im Haus mussten vor kurzem erneuert werden und der Hund musste drei Tage zuvor zum Tierartzt, ach ja und die ganze Hecke im Schrebergarten musste gekürzt werden, weil die Schrebergartenaufsicht nach einer Messung feststellte, dass sie drei Zentimeter zu hoch war. Ich glaube , da hat man mal das Recht ein paar Minuten nich ganz derselbe zu sein, Hauptsache man kommt wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Nachdem dies für mich klar war, ließ ich den Motor an und schaute, nur zum Ausparken in den Rückspiegel. Ich sah, ohne es zu wollen den jungen Mann, wie er seinen Rucksack nur mit der linken Hand umständlich schulterte und im Gehen begriffen war. Ich schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf ungläubig über mein Verhalten und schaltete schließlich den Motor wieder ab.
Ich stieg schnell wieder aus und folgte ihm erst, als er den Parkplatz in Richtung Innenstadt verließ. Immernoch war an seiner linken Hand kein Handschuh zu sehen. Er schaute sich nie um, das machte mir die Sache leichter und so ging ich zehn oder fünfzehn Meter hinter ihm, ohne ihn einmal aus den Augen zu lassen.
Während er den Gehweg entlang Richtung Einkaufspassage lief, versuchte ich mich zu erinnern, wann ich wohl das letzte Mal etwas so Ungewöhnliches getan hatte, irgendwie war es ein ganz seltsamer, neuer Impuls, das Dasein fühlte sich in diesem Augenblick anders an, sehr ungewohnt. Es waren ziemlich viele Menschen unterwegs und ich hatte Mühe einen geraden Weg zu gehen, mal war ich genötigt hierhin auszuweichen, mal dorthin, doch er, das fiel mir auf, musste das nicht. Eine ganz gerade Linie, die Menge schien sich vor ihm zu teilen, es muss an seinen Augen gelegen haben.
Dann, fast zu schnell für mich, um angemessen zu reagieren, betrat er eine Telefonzelle. Ich ging so unauffällig wie möglich daran vorbei und stellte mich an die nahegelegene Bushaltestelle, denn von dort aus hatte ich ihn immernoch gut im Auge. Er hohlte mit der linken Hand eine Münze hervor, steckte sie in den Münzschlitz und ergriff mit derselben Hand den Hörer. Ich erwartete mit Spannung seine nächste Bewegung, denn ich spekulierte auf etwas. Und tatsächlich, durch das Seitenfenster der Zelle sah ich, was meinen letzten Zweifel zerstreute. Er führte die rechte Hand samt Handschuh zum Tastenfeld des Aparates und richtete den Zeigefinger auf, um zu wählen. In diesem Moment änderte sich seit meiner Beobachtung sein Blick. Er schien zu erschrecken und zog augenblicklich die Hand zurück, bis sie wieder in ihrer alten, inaktiven Position war. Nachdem seine Augen wieder die gewohnte Ausstrahlung hatten, klemmte er den Hörer zwischen Schulter und Wange und wählte mit der linken Hand eine Nummer. Der Bus fuhr an die Haltestelle und nachdem alle Wartenden eingestiegen waren, lies der Fahrer die Tür noch eine Weile offen, doch ich konnte mich mit diesem offensichtlichen Missverständnis gerade nicht beschäftigen, zu groß war meine Befürchtung, es könnte mir ein wichtiges Detail entgehen.
Der Bus fuhr schließlich wieder fort und der junge Mann stand immernoch in der Telefonzelle mit dem Hörer in der linken Hand. Er hatte wohl Niemanden erreichen können, jedenfalls bewegten sich seine Lippen nicht und kurz darauf legte er auf, verließ die Zelle und setzte seinen Weg in ebenso gerader Linie in dieselbe Richtung wie zuvor fort. Natürlich blieb ich dran und unser Weg führte vorbei an zahlreichen Schaufenstern, in denen um diese Jahreszeit viel Leuchtreklame hängt und steht, doch er würdigte dies mit keinem Blick. Ich musste mich schon sehr anstrengen entgegen der menschlichen Natur, überall dort hinzuschauen, wo es blinkt und leuchtet, all das ungeachtet zu lassen, doch irgendwie gefiehl es mir, es war gut.
Meine Spannung stieg ins Unermessliche, wo wollte er wohl hin? Wenn er nun in irgendeinem Wohnungseingang verschwunden wäre, hätte ich an seiner Tür geklingelt? Hätte ich es gelassen und wäre vielleicht unwissend zurückgegangen mit dieser quälenden Frage im Kopf? Zum Glück war das nicht der Fall, denn auf dem großen Schild unter dem er hindurchging stand -Bahnhof- .
Ich folgte ihm die Treppe hinunter zur Unterführung und in diesem langen, schmalen, weiß gekachelten Gang, den wir ganz allein durchschritten, dachte ich daran ein wenig zu beschleunigen und ihn einfach anzusprechen, doch ich zögerte, warum weiß ich nicht.
Er ging wieder treppauf bis Bahnsteig Zwei. Dieser Bahnhof hat im Übrigen auch nur zwei Bahnsteige, es ist der kleinste den diese Stadt zu bieten hat. Ganz plötzlich erinnerte ich mich wieder, wie wir als Kinder auf den Treppen des Bahnhofs verbotenerweise spielten und ein ähnliches Gefühl hatte ich nun auch wieder, wie lang das schon her war, früher war ich viel mutiger.
Er ging bis an den Anfang des Bahnsteigs, wo sich die Leute hinstellen, wenn sie ganz hinten im Zug einsteigen wollen. Er postierte sich an der äußersten Ecke, in einem Bereich, von dem man erwarten kann, dass der Bahnhofsaufseher denjenigen bevor der Zug einfährt garantiert über Lautsprecher darauf aufmerksam macht, dass man doch zurücktreten solle. Ich lehnte mich in geringer Entfernung von ihm ans Treppengeländer. Er schaute auf die große, runde Uhr, die schräg über mir hing und ein Schreck durchfuhr mich, den ich dachte er wolle mich gezielt anschauen. Danach ging sein Blick wieder geradeaus, nicht in die Leere, aber auch nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet. Dies war wohl der richtige Zeitpunkt, um ihn anzusprechen. Ich hätte soetwas normalerweise nie getan, selbst wenn ich noch so neugierig gewesen wäre, allein schon aus der Befürchtung, es könnte schmerzhafte Konsequenzen nach sich ziehen, denn man weiß ja nie, welch ein selsamer Mensch der Gegenüber ist. Ich weiß nicht so recht, aber bei diesem jungen Mann lag der Fall ganz anders. Es muss an seinen Augen gelegen haben, sie machten ihn so verletzlich, dass ich keinerlei Bedenken wegen einer möglichen negativen Erfahrung hatte. Ich weiß wirklich nicht, wann ich das letzte Mal auf solche Dinge geachtet hatte, wann ich das letzte Mal so gedacht, oder etwas so seltsames gemacht hatte, ich kann mich nicht erinnern. Ich tat den ersten Schritt in seine Richtung und mein Herzschlag erreichte ein vermutlich ungesundes Maß. Je näher ich kam, desto trockener wurde mein Hals und unsicherer meine Schritte. Als ich neben ihm stand kam kurzzeitig noch die Frage in mir auf, ob ich es tun oder lassen solle, denn noch hatte er mich nicht bemerkt. Mein Blick wanderte an ihm herunter bis zu dem Handschuh, und da war es klar.
„Entschuldigung“ doch mit dieser Anrede hatte ich ihn wohl sehr erschreckt, denn er drehte sich ruckartig zu mir und ich konnte sehen, dass seine Augenlieder zu zittern begannen. E sagte kein Wort.
„Es mag wohl seltsam klingen und ich möchte gewiss nicht unhöflich sein, aber...“
Ich hielt kurz inne, er rührte sich überhaupt nicht, einzig seine Augen verrieten seine Unsicherheit, ganz fragend und nervös schaute er mich an. An den unteren Augenliedern sammelte sich ein wenig Feuchtigkeit und ich bereuhte um seinetwillen fast schon ihn angesprochen zu haben, aber ich konnte nun nicht mehr zurück.
„Nun, verzeihen Sie, aber ich wüsste gern, was es mit diesem sechs Finger Handschuh auf sich hat, ich hoffe, ich frage nicht zu indiskret“
Ich hatte schon fast erwartet, dass auf meine Frage keine unmittelbare Antwort käme, dennoch blieb ich stehen und wartete. Bei jedem anderen Gespräch wäre dies der Punkt, an dem einem langsam aber sicher ein Gefühl der Peinlichkeit in den Kopf stiege, nicht so bei ihm, durch seine Art gab er einem nicht einmal im Ansatz das Gefühl, als wäre man gerade aufgelaufen oder stünde dumm da. Erst presste er die oberen Zähne auf seine Unterlippe und hielt diese Position eine Weile nachdenklich, als wolle er sich selbst daran hindern etwas zu sagen. Ich wollte ihn mit Sicherheit nicht drängen und trotzdem sagte ich es.
„Bitte!“ seine Lippen begannen erst ein wenig zu zittern, dann öffnete sich sein Mund ein wenig.
„Ich,...ich warte noch“ sagte er mit gebrochener Stimme und drehte sich schnell wieder in die andere Richtung. Vermutlich hätte ich an diesem Punkt abbrechen und nach Hause gehen sollen, normalerweise hätte ich es auch getan, aber in diesem Augenblick war alles anders.
„Auf was warten Sie denn, auf den Zug?“
Er zögerte einen Moment und brach die Bewegung mehrmals ab, bevor er seinen Kopf endlich wieder zu mir drehte.
„Es ist noch nicht so weit. Ich werde merken, wenn es so weit ist“
Offen gestanden brachte mich diese Antwort auch nicht weiter, doch zum Verzweifeln war es noch zu früh. Ich wagte einen für meine Verhältnisse geradezu tollkühnen Schachzug, der mich ehrlich gesagt selbst überraschte.
„Vielleicht ist es ja doch schon so weit und es ist Ihnen entgangen, einfach so“
Ungläubig und etwas verwirrt schaute er mich an, dann für den Bruchteil einer Sekunde auf seine rechte Hand und sofort wieder in meine Augen, als hoffte er, ich hätte seinen kurzen Zweifel nicht bemerkt. Langsam stellte sich bei mir ein wenig das Gefühl der Sicherheit ein.
„Frieren Sie an der linken Hand nicht?“
So unauffällig wie möglich bewegte er kurz alle Finger der linken Hand und schüttelte ein wenig den Kopf, dass man es gerade eben als ein -Nein- interpretieren konnte. Ich hatte ein bißchen Angst, dass das Gespräch jeden Augenblick beendet sein könnte und beschloss alles auf eine Karte zu setzten, obwohl ich soetwas für gewöhnlich vermeide.
„Haben Sie nun sechs Finger an der rechten Hand? Haben Sie überhaupt eine rechte Hand?“
Im selben Augenblick erschrak ich und es tat mir leid, denn die Frage sollte zwar provozierend wirken, war aber keineswegs ernst gemeint. Doch seine Reaktion ließ mich ahnen, dass es ihm durchaus ernst damit war. Nicht wütend, nicht gekränkt schien er, sondern enttäuscht, vielleicht ein wenig verletzt. Bevor er antworten konnte, schluckte er mehrmals kräftig.
„Ich habe doch gesagt, ich warte noch“
Seine Stimme war so traurig und zittrig, dass ich mich fragte, warum ich ihn eigentlich so quälte, woher nahm ich das Recht dazu? Ich beschloss, dass es genug war und während ich im Gehen begriffen war, kam es mir fast ein wenig schäbig vor, jemanden so zu zwingen, damit er mit mir redete, wie konnte ich?
Als ich schon an der ersten Stufe der Treppe war, ging mir sein letzter Satz unwillkührlich nochmals durch den Kopf - Ich habe doch gesagt, ich warte noch - doch erst jetzt wurde mir bewusst auf welche meiner Fragen er dies gesagt hatte. - Haben Sie nun sechs Finger an der rechten Hand? -
Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Er wartete darauf, dass ihm ein sechster Finger wächst! Konnte das denn sein? Ich rang mit mir, unsicher, ob ich die nächste Stufe der Treppe nehmen und damit diesem seltsamen Kapitel ein Ende bereiten sollte, oder ob ich zurückgehen und der Seltsamkeit, die mein Leben in diesem Augenblick so auf den Kopf stellte ins Auge sehen sollte.
Ich atmete tief durch und ging zurück. Er stand immernoch so da, wie ich ihn verlassen hatte.
„Sie warten darauf, dass Ihnen ein sechster Finger wächst?“
Die Befremdlichkeit in meinem Tonfall schien ihn zu verwundern.
„Ja, ich warte. Ich werde merken, wenn es so weit ist“
„Aber warum glauben Sie, dass Ihnen ein sechster Finger wachsen sollte?“
Wieder zögerte er und rang um jedes Wort.
„Es muss passieren, es muss. Es wäre sonst nicht gerecht, ich werde ihn brauchen“
„Was glauben Sie mit dem sechsten Finger machen zu können?“
Ich war auf die Absinnigsten Antworten vorbereitet, aber es kam ganz anders.
„Das, was ich vorher nicht konnte, ich werde alles wieder gut machen, wenn es so weit ist“
Bei diesem Satz bemerkte ich in seiner Stimme fast soetwas wie Entschlossenheit, aber kurz darauf senkte sich sein Blick wieder und seine Augen wurden erneut wässrig. Ich neigte meinen Kopf ein wenig und versuchte ihm in die Augen zu sehen, doch er wich meinen Blicken aus.
„Aber was wollen Sie den wieder gut machen?“
Er begann schwer zu atmen und dann zu zittern. Da keine Antwort kam, wollte ich meine Frage in ähnlicher Form nocheinmal stellen.
„Was können Sie den mit...“ da platzte es aus ihm heraus.
„Sie ist gefallen, einfach gefallen, nur deswegen...der Finger“
Ich war erschrocken, denn er presste diese Antwort mit einer verzweifelten Energie heraus, die mich glauben ließ, ich hätte etwas schlimmes angerichtet. Ich hatte den ernsthaften Wunsch mich zu entschuldigen und dann zu gehen, aber selbst dafür war es vermutlich zu spät. Er schaute links an mir vorbei in den klaren Dezemberhimmel und ich fühlte mich so elend, als ich die erste Träne über seine Wange laufen sah. Ich sagte kein Wort mehr, nichteinmal mein Blick war noch auffordernd, oder fragend und doch fing er ganz unerwartet, von gelegentlichem Schluchzen unterbrochen an zu erzählen, einfach so.
„Im Frühling, oben auf der Dachterasse, alles war so warm und duftete. Sie hatte ihre Prüfung tatsächlich bestanden, gut bestanden. Ich war so stolz, noch nie habe ich mich mit Jemandem so gefreut...nie mehr. Die Musik war sicher noch weit zu hören, alle tanzten, sie auch, nur ich saß und tanzte in Gedanken mit, sie hatte doch genug Energie für uns Beide, genug für zwei ganze, lange Leben und noch mehr. Nichts konnte ihr etwas anhaben, nichts konnte sie stören, uns stören. Nie war so viel Hoffnung im Leben, einzigartig schön, schön wie sie. Das blonde Haar in der Sonne, glänzender Frühling.“
Er unterbrach kurz nachdenklich, schaute aber immernoch nach oben, in dieselbe Richtung. Ich musste mich anstrengen, um seine leise, brüchige Stimme verstehen zu können.
„Sie war der Frühling, die Sonne schien aus ihr. Mit der Sektflasche in der Hand, ganz übermütig, ich habe nichts geahnt, nichts böses, es war doch Frühling!“
Alle Muskeln seines Gesichts schienen plötzlich angespannt zu sein und er schaute unter Tränen umso zielgerichteter in den Himmel, als sähe er dort Bilder. Dann umfasste er plötzlich mit der linken Hand sein rechtes Handgelenk, als wolle er sich selbst daran hindern sie zu bewegen.
„Komm da runter Lucy, lass das! Die Ballustrade war so schmal und sie so unvorsichtig, so fröhlig. Mit der Flasche Sekt, lachend, balancierend. Alle tanzten und lachten, nur ich stand auf und ging in ihre Richtung. Komm jetzt da runter ja? Habe ich dich jemals um etwas gebeten, habe ich? Frühling, Dachterasse, ganz nah an der Sonne. Lacht, lacht, rutscht aus und fällt auf den Rücken. Lachst nun nicht mehr, Schmerzen! Will die Sonne schon untergehen? Ich komme! Ich renne! Mit Ringfinger und kleinem Finger am Hosenbund, doch die beiden Finger halten die Sonne nicht ab unterzugehen, die beiden Finger sind zu schwach! Auf der Dachterasse ist Winter. Der Sekt aus der zerbrochenen Flasche tropft neun Stockwerke tief. Ich habe nicht gesehen, wie die Tropfen auf der Straße ankamen, ich habe es bloß gehört, laut und gräßlich, bloß gehört, wär ich doch nur taub!“
Seine Muskeln entspannten sich langsam wieder und schließlich lies er auch sein Handgelenk, dass er zuvor so krampfhaft festgehalten hatte, wieder los. Seine Haut war ganz bleich geworden und ich war darauf vorbereitet ihn jederzeit auffangen zu müssen, denn er stand ganz unsicher auf den Beinen.
Auch mir wurde ein wenig schwindelig, denn erst jetzt fügten sich meine Beobachtungen und seine Erzählung zu einer Erkenntnis zusammen, die mir mit einer unglaublichen Kraft auf den Brustkorb zu schöagen schien, denn ich konnte kaum noch richtig atmen. Wir standen nur so da, regungslos, während ihm die Tränen vom Kinn tropften, jedes Wort wäre zuviel gewesen. Dann sah ich den Zug, auf den er anscheinend gewartet hatte, in der Frene auftauchen. Ich war wirklich nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, nur das gleich etwas passieren würde war mir klar und das alles, was ab jetzt passierte folgenreich wäre, das sagte mir jedoch seltsamerweise nicht mein Verstand, sondern mein Gefühl.
Der Zug kam näher und ich tat etwas, das sich bis heute gänzlich meiner Logik entzieht, vielleicht war garnicht ich es, der das tat.
Ich ging vor bis zur Bahnsteigkante, stützte mich mit der linken Hand ab und sprang hinunter. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er den Kopf langsam und ängstlich in meine Richtung drehte, immernoch mit Tränen in den Augen. Ich stellte mich aufs Kiesbett, in die Mitte der Gleise und schaute ihn an. Hecktisch ging sein Blick in die Richtung aus der der Zug heranraste, dann wieder zu mir, fast panisch. Ich versuchte meine zitternden Knie gerade zu halten und streckte schließlich meine rechte Hand in seine Richtung.
„Retten Sie mich!“ rief ich ihm zu und versuchte meine Stimme ruhig zu halten, doch es gelang mir nicht ganz. Er lief vor bis zur Kante, schaute nochmals panisch richtung Zug und streckte mir schließlich seine zitternde linke Hand entgegen.
Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich gerade zu Hause bei Kaffee und Kuchen mit meiner Frau und unseren Arbeitskollegen am Tisch sitze und die Tatsache, dass ein Zug auf mich zurraste auszublenden. Seltsamerweise empfand ich in jenem Augenblick nichts, als tiefe, innige Überzeugung. Keine Gedanken wie „vollkommener Wahnsinn“ oder „Unzurechnungsfähigkeit“, nein! Tiefe, spontane Überzeugung. Er fuchtelte mit der linken Hand hin und her, um mir zu signalisieren, dass ich doch endlich zugreifen solle. Ich jedoch zog meine Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Eben in diesem Augenblick begann der Lockführer in kurzen Abständen zu hupen. Ich konnte die Erschütterung unter meinen Füßen spüren.
„Machen Sie schon, geben Sie mir Ihre Hand!“ brüllte er mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Geben Sie mir Ihre rechte Hand!“ rief ich zurück, wobei meine Stimme in ein Krächzen ausartete. Jetzt wurde es langsam wirklich eng, denn obwohl der Zugführer inzwischen eine Notbremsung eingeleitet hatte, wurde auch dem jungen Mann bei einem erneuten Blick nach links schlagartig bewusst, dass der Zug niemals rechtzeitig zum stehen käme, und dass es ein Unglück geben wird, wenn nicht innerhalb der nächsten Sekunden etwas geschähe. Das Quitschen der bremsenden Räder war ohrenbetäubend und machte jedes weitere Wort überflüssig, mir stand der Schweiß auf der Stirn. Er schaute jetzt nur noch hecktisch zwischen seiner rechten Hand und mir hin und her. Ich sah den Zug schon in den Augenwinkeln, das Quitschen wurde unerträglich, ich konnte nicht mehr atmen und wenn ich mich verschätzt hatte, sollte ich dann jetzt die Augen schließen? Ein letzter Blick zu ihm hinüber, Tränen. Ich kann das Gesicht des Zugfahrers erkennen, tut mir leid, ich beiße die Zähne zusammen.
Dann riss er sich den Handschuh herunter und unsere rechten Hände trafen sich heftig. Ich spürte den Sog des Zuges in meinem Rücken, nachdem er mich mit einem Ruck auf den Bahnsteig gezerrt hatte, auf dem wir jetzt lagen. Das verzerrte Hupen des vorbeirauschenden Zuges war wie ein lautes Startsignal in ein neues Leben und der gewaltige Luftstrom riss das alte mit sich fort. Nie zuvor fühlte ich mich so neu und doch so nah bei mir selbst, wie in diesem Augenblick. Nachdem der Zug zum Stillstand gekommen war, nahm ich den sechs Finger Handschuh, der neben mir lag an mich und versuchte langsam aufzustehen. Als wir beide einander etwas wackelig gegenüberstanden, schaute er mich veratändnislos und fragend an, aber ich sah etwas in seinem Blick, das ich die ganze Zeit zuvor vermisst hatte, ein Funken von Leben.
„Sehen Sie, Sie können mit Ihrer rechten Hand immernoch Menschen retten, auch mit fünf Fingern“ während ich dies etwas atemlos sagte, hielt ich ihm seinen Handschuh hin. Er nahm ihn immernoch fassungslos entgegen und drückte ihn mit seiner rechten Hand fest aber fast liebevoll zusammen. In diesem Augenblick sah es so aus, als empfände er soetwas wie Wut gegen mich. Doch dann, nach einem Augenblick des Schweigens, entkrampften sich seine Augenbrauen und auch seine Hand. Eine Erkenntnis schien ihm Erleichterung zu verschaffen und er warf den Handschuh schließlich entschlossen zwischen Zug und Bahnsteigkante auf die Gleise. Ich glaube, ich sah sogar seine Mundwinkel etwas nach oben gehen. Seine Tränen waren inzischen getrocknet und er gab mir ohne weitere Worte die rechte Hand und atmete tief und erleichtert durch. Ich überlegte noch kurz, mich bei ihm zu bedanken, doch ich lächelte einfach. Dann verließen wir den Bahnof in verschiedene Richtungen, noch bevor jemand vom Zugpersonal kam. Ich fuhr an jenem Tag nicht mehr nach Hause.