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Sechs Monate Onkologie
Sechs Monate Onkologie
Krankenpflegedienst: Kinderklinik: Onkologie
Dienstbeginn: Ich fühle mich von der bevorstehenden Herausforderung überwältigt, wenn nicht sogar überfordert. Ich will das Leid nicht an mich heran lassen. Besonders nicht das Emotionale. Deshalb bemühe ich mich um Distanz und Kontaktarmut.
Aber völlig unbewusst trotzdem – oder gerade dadurch – findet einer einen Weg zu mir.
Nämlich du.
Es heißt, du seiest schwierig. Es heißt, du seiest zurückgezogen und unnahbar. Es heißt, du seiest aggressiv.
Umso erstaunter bin ich, als ich dich aus dem Spielzimmer vernehme. Auf Nachfrage sagt man mir, du würdest häufiger schon mal solche Katzenmusik von dir geben. Ich solle mich nicht dran stören.
Ich wundere mich etwas ob dieser Aussage, denn ich finde deine Musik sehr schön und anregend. Sie ist zwar nicht mit klassischer, fließender Musik vergleichbar, sondern ungleichmäßig, temperamentvoll und bisweilen aufbrausend. Aber ich würde sie nicht als jämmerlich oder grauenvoll bezeichnen. Viel eher als ausdrucksstark, eigenwillig und wild – so wild, wie eben ein Klavier sein kann.
Leise betrete ich das Zimmer, schließe die Tür hinter mir und die Augen.
Deine Musik wird abstrakter, du verschmilzt mit den Tönen und die Töne mit mir. Graue, dunkle Akkorde wechseln mit schnellen, unvollständigen Läufen. Hohe, fast schrille Töne folgen auf traurige Untergrundmusik. Alles findet sich zu einer Melodie, formt sich in einer Ballade, lässt dann doch Elemente einer Pastorale erklingen und endet in einer Melodie in Moll.
Alles scheint möglich, aber nichts gewiss.
Bis du plötzlich mitten im Spiel unterbrichst, die Augen auf und den Tastaturdeckel zureißt. Deine Augenwinkel schimmern feucht.
Entzaubert und verwirrt will ich deiner Darbietung applaudieren. Aber schon beim ersten Geräusch meiner Kleidung springst du entsetzt auf, starrst mich entgeistert an, schießt den Hocker gegen die Wand und rennst an mir vorbei zur Tür hinaus.
Tränen standen in deinen Augen und ein Klos wuchs mir im Hals.
Ich hatte dich gestört und war ungefragt in deine intime kleine Welt eingedrungen. In den Rest an Intimität und Freiheit, der dir noch geblieben ist.
Es war das erste und letzte Mal, dass ich dich spielen gehört habe.
Als ich dir später dein Mittagessen bringen wollte, warst du schweigsam und abweisend. Auf eindeutige Weise drehtest du den Kopf von mir weg und fixiertest einen imaginären Punkt in der Ferne.
Als ich trotzdem das Schweigen brechen wollte, schlugst du derart gegen das Tablett, dass sich das Essen komplett auf mir verteilte.
Tagelang gingen wir uns so weit als möglich aus dem Weg.
Eigentlich wollte ich dich schon nicht mehr erleben und ertragen müssen.
Erst Tage später schenktest du mir wieder etwas Aufmerksamkeit. Als ich anderen Kindern vorspielte.
Wie die Motten vom Licht, so wurdest du von den Tönen angelockt.
Starr liefst du in die letzte Ecke des Raumes, kauertest dich in einen Schaukelstuhl und drehtest mir abweisend den Rücken zu.
Je länger und intensiver ich spielte, desto klarer meinte ich, wahrnehmen zu können, wie sehr du mit der Melodie mitschwanktest. Spielte ich laut und kräftig, ging dein Atem schnell aber tief; erklangen sanfte und ruhige Töne, schienst du dich zu entspannen und deine Schultern senkten sich.
Je harmonischer und liebevoller die Melodie schwang, desto mehr rolltest du dich zusammen. Schließlich lagst du da wie ein Embryo, der unreif und viel zu früh auf diese Welt kommen musste.
Als mein letzter Ton erklang, warst du eingeschlafen. Deine schlanken Finger zu Fäusten geballt, die Augen zusammengekniffen und die Schultern ganz weit nach oben gezogen. Es schien kein fester Schlaf zu sein. Aber immerhin: Du schliefst. Endlich.
Deine Mundwinkel waren stark gekräuselt und schienen in ständiger Bewegung zu sein. Alles wirkte ganz so, als würdest du ohne Laute reden, während du einen Kampf in deinem Inneren führst.
Liebevoll habe ich dich zugedeckt, leise das Zimmer verlassen und akribisch darauf geachtet, dass dich niemand störte.
Ab da an spielte ich jeden Tag.
Und ich brachte dir auch wieder das Essen.
Solange du bei uns lagst.
***
Jetzt bist du wieder da. Zurück vom Heimaturlaub.
Deinen Eltern war aufgefallen, dass du immer weniger essen möchtest, und dafür immer schneller abnimmst. Mal wieder.
Voll Angst haben sie dich zum Arzt gebracht. Er hat nur eine Kontrolluntersuchung im Kernspintomographen anordnen können. Ihm sind die Hände genauso gebunden, wie uns allen.
Jetzt bist du zurück. Zusammen mit den Ergebnissen. Gleich will der Arzt sie deinen Eltern erläutern.
Ich soll sie in sein Zimmer bringen.
Deine Eltern wirken schwach und gebrochen. Sie sagen keinen Ton, blicken ausdruckslos zu Boden, folgen mir langsam. Meine Füße sind schwer wie Beton. Der Weg scheint endlos. Die Atmosphäre ist so quälend, dass ich am liebsten schreiend wegrennen würde. So weit weg, wie irgend möglich. Und ich weiß, dass ich mit diesem Wunsch nicht alleine bin. Aber wir haben dir versprochen, da zu sein und zu bleiben, egal was kommen wird. Das bist du wert. Uns wert.
Tonlos senkt sich die Türklinke; wie automatisch öffnet sich die Tür und ich nehme wahr, wie sich ein weißer Kittel erhebt: „Bitte kommen sie doch rein und setzen sich erstmal….“
Meine Hände zittern und Schweiß steht mir auf der Stirn, als deine Eltern an mir vorbei ins Zimmer schleichen.
Ich bin froh, jetzt nicht reden zu müssen.
Langsam schließt sich die Tür hinter deinen Eltern und mühsam setze ich mich wie fremdgesteuert in Bewegung zurück an dein Bett.
Da liegst du. In weiße Laken gehüllt. Ausdruckslos und eingefallen schauen mich deine Augen an.
Du spürst das Ergebnis. Dennoch wirkst du nicht traurig.
Auf deinem kahlen Kopf spiegeln sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Und erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass du doch erst 15 bist. Damit bist du keine 7 Jahre jünger als ich, und eigentlich sollte dir die Zukunft doch noch offen stehen. Lieber Gott: Warum??? schießt es mir durch den Kopf.
Erst die Bewegung deiner Hand reißt mich aus meinen Gedanken. Schweigend greifst du nach dem Buch auf deinem Nachttischchen und streckst es mir entgegen: Antoine de Saint-Exupery: Der kleine Prinz.
Feucht finden meine Augen die Buchstaben. Langsam nur formen meine Lippen die Worte. Stockend entsteht ein Text.
Du schließt die Augen und versinkst in dir. Gelassenheit und ein Hinnehmen-müssen senken sich über dich.
Zeit spielt keine Rolle mehr.
Regungslos liegst du da, als deine Eltern reinkommen.
Sie wirken gefasst. Beide lächeln dich sanft an. Vorsichtig nimmt dein Vater deine kraftlose Hand und drückt sie liebevoll gegen seine Brust. Währenddessen nimmt deine Mutter meinen Platz auf dem Stuhl ein. Mit zaghafter Geste nimmt sie das Buch und beginnt unter Tränen aber mit kraftvoller, starker Stimme zu sprechen.
Berührt wie verstört verlasse ich das Zimmer und überlasse euch drei euch.
Auf dem Flur muss ich um Luft ringen. Erleichterung als jener Mensch im weißen Kittel zu mir heran tritt:
„Menschlichkeit und individuelle Freiheit müssen erhalten bleiben. Immer. Denn erst dann kann man den Blick für das Akute und Wesentliche finden. Und die nötige Kraft. Auch für andere.“
In liebevoller Erinnerung an Patrick S., von dem ich nicht zu sagen weiß, ob er zuerst im Kampf gegen den Krebs oder erst im Kampf gegen soziale Einsamkeit unterlag.