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Sechs Richtige
Mit zufriedener Miene steckte Johanna ihren Stift in die Handtasche zurück, so wie alte Menschen es tun, wenn sie gerade eine ihrer regelmäßigen Aufgaben erledigt haben. Sie betrachtete noch einmal kurz den ausgefüllten Lottoschein, bevor sie ihrem Dackel Kommando gab:
„Komm auf, Walli! Frauchen will bezahlen gehen.“
Umständlich wuselte sie an der Hundeleine, die sich um ihr Handgelenk und die Tasche gewickelt hatte.
„Jedes Mal dasselbe Dilemma“, sagte plötzlich der junge Mann neben ihr an dem kleinen Stehpult.
„Ich starre auf ein Blatt Papier mit zehn Zahlenhäuschen, denke an die aberwitzige Menge möglicher Kombinationen und quäle mich mit der Entscheidung einer qualifizierten Auswahl. Es macht mich kirre.“
Er sagte das, ohne von dem Schein aufzublicken, dennoch fühlte Johanna sich angesprochen.
„Ich weiß immer genau, welche Zahlen ich ankreuzen muss.“
Der junge Mann drehte sich zu ihr um. Erst jetzt bemerkte er die kleine Frau mit dem lustigen Kapotthütchen, welches aus einem Material gearbeitet war, das dem Fell ihres Rauhaardackels erstaunlich ähnlich sah.
„Tja, wahrscheinlich machen Sie es sich da einfacher als ich.“
Bestimmt wählte sie die Geburtsdaten ihrer Enkel, ihren Hochzeitstag und den Todestag ihres Mannes und glaubte, damit den magischen Code zu besitzen, der ihr einen warmen Geldregen bescheren würde. Ihm war diese gängige Praxis einer Ziffernauslese viel zu profan.
„Wissen Sie“, sagte er gewichtig und zog sich die Brille von der Nase, „ich schaue mir zum Beispiel die Acht an, ich bin nämlich an einem Achten geboren und will sie anstreichen.“
Mit dem Gestell malte er ein Kreuz in die Luft, dann setzte er die Brille wieder auf. Johanna hörte ihm aufmerksam zu.
„Sofort ziehe ich das in Zweifel und frage mich, wieso es ausgerechnet mein Geburtstag, der Geburtstag von Hans-Joachim Drechsler sein soll?“
Theatralisch fuchtelte er mit seinen Händen und dozierte weiter:
„Entscheide ich mich aber dafür, bin ich auf der Stelle davon überzeugt, dass die Sieben oder die Neun gezogen wird. Schließlich sind auch an diesen Tagen Menschen geboren und knapp daneben ist eben auch daneben.“
„Das ist wirklich ein Problem“, nickte Johanna und zog grübelnd die Stirn in Falten.
Gerne hätte sie dem jungen Mann in dem grauen Trenchcoat und dem chicen Anzug geholfen, wenn sie nur gewusst hätte wie.
„Und ob das eines ist“, bestätigte er und schnippte mehrmals nervös mit dem Kugelschreiberknöpfchen, welches die Mine aus und einfahren lässt.
„Aber das Schlimmste habe ich von einem Freund gehört, der einen Bekannten hat, dessen Bruders Schwager jahrelang dieselben Zahlen tippte. Weil er nie was gewonnen hatte, beschloss er sie eines schönen Tages zu ändern. Dreimal dürfen Sie raten, was bei der dann folgenden Ziehung geschehen ist!“
Johanna überlegte eine Weile, dann musste sie schulterzuckend zugeben, dass sie es nicht wusste.
Drechsler schaute verständnislos auf sie herunter.
„Natürlich waren die alten Zahlen ausgespielt worden“, sagte er barsch, „Verstehen Sie? Seine Zahlen! Jemand anderes hatte mit seinem Zahleneigentum, den Jackpot geknackt.“
Ihr wurde ganz schwindlig, so oft hatte er das Wort „Zahlen“ gesagt, aber dann begriff sie, was er meinte.
Sie schlug sich mit der Hand auf die Brust und atmete erleichtert auf: „Das kann mir Gott-sei-Dank nicht passieren.“
„Das heißt, sie treffen jedes Mal eine neue Selektion?“
„Nein, das Gegenteil ist der Fall“, erwiderte sie kokett, „ich gebe stets den selben Tipp ab.“
Drechsler fragte sich, ob sie immer noch nicht kapiert hatte, was dem Schwager passiert war, aber ließ es dabei bewenden.
„Eigentlich würde ich ja gerne mal meine Frau damit beauftragen.“, fuhr er fort und Johanna bemerkte den leicht vorwurfsvollen Unterton.
„Warum tun sie es dann nicht?“
„Phh“, schnaubte er, „sie drückt sich vor dieser Verantwortung. Wenn ich sie nach ihrem Wunschtipp frage, gibt sie zur Antwort, dass sie keinen hätte.“
„Vielleicht ist es ihr nicht so wichtig.“, gab die alte Frau zu bedenken.
„Das große Glück kann einem doch nicht egal sein“, empörte sich Drechsler.
„Eigentlich nicht“, antwortete sie kleinlaut und wie zur Besänftigung:
„Vielleicht vertraut ihre Frau einfach ihrer Intuition.“
„Schön wär’s!“ Verächtlich rollte er mit den Augen, „Ich glaube eher, Hiltrud ist einfach nur entscheidungsschwach. Es ist ihr zuzutrauen, dass sie etliche Kästchen ausfüllen würde, nur um einigermaßen aus der Bredouille zu kommen.“
Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf: „Was uns das kosten würde!“
„Ich tippe immer nur eine Reihe.“, sagte Johanna ruhig, „eine Reihe für zwei Euro.“
„Das Alter diszipliniert“, lachte er amüsiert auf, „schützt vor Sucht, vor Spielsucht.“
„Sagen Sie das nicht!“, konterte sie und war ein bisschen eingeschnappt, wie schnöselig er übers Alter sprach.
„Meine Freundin Bettina ist mit sechzig Lenzen noch tablettensüchtig geworden.“
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
„Im Übrigen sind es nicht die Anzahl meiner Jahre, die mich vor einer Spielsucht beim Lotto bewahren.“
„Ach nein?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen, „Was dann?“
„Es würde einfach keinen Sinn machen, wenn ich weitere Tipps abgäbe.“
„Jede Reihe erhöht die Wahrscheinlichkeit auf einen Gewinn.“, belehrte er sie.
Die kleine Frau sah über ihren Brillenrand zu Drechsler auf. Ihr Blick war ernst, sehr ernst, als sie ihm entgegnete:
„Nicht bei mir. Nicht bei meinen Zahlen.“
Drechsler stutzte, dann stemmte er seine Arme in die Hüfte und resümierte:
„Sie spielen nur eine Reihe?“
„Ja.“
„Sie markieren immer dieselben sechs Ziffern?“
„So ist es.“
„Und sie behaupten, jedes weitere ausgefüllte Kästchen würde Ihre Gewinnchance nicht erhöhen?“
„Genau das meinte ich. Jedes zusätzliche Spiel wäre blödsinnig von mir und rausgeschmissenes Geld.“
„Sie wissen schon, dass Sie damit die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf den Kopf stellen?“
„Nein, das tue ich nicht.“, sagte sie mit Bestimmtheit, „Einstein würde es Ihnen bestätigen, wenn er noch könnte.“
Hans-Joachim Drechsler horchte augenblicklich auf. Er war sich sicher, ein besonderes Gespür für Situationen zu haben. Zwar hatte ihn das bei seinen diversen Aktienspekulationen
schon öfter im Stich gelassen, dennoch vertraute er seinem siebten Sinn, der ihm sagte, dass die Alte möglicherweise über ein unglaubliches Geheimnis verfügte. Was wäre, wenn sie eine einzige, unbestechliche Chiffre gefunden hatte, nach der geniale Mathematiker seit Gründung der stattlichen Lotteriegesellschaft vergeblich forschten? Drechsler fühlte seine Chance und die Lösung all seiner Probleme.
Er legte seinen Kopf zur Seite und machte eine Schnute wie ein Kleinkind. Schließlich sagte er gespreizt:
„Sie sind wirklich eine sehr nette, alte Dame und was Lebenserfahrung anbetrifft, oder sollte ich besser Weisheit sagen, mir ohne Zweifel weit voraus. Vor Ihnen steht weiß Gott kein Gelehrter, nur ein einfacher Bankangestellter, dem Zahlen nicht ganz fremd sind, dennoch, und bitte nehmen Sie mir das jetzt nicht übel, fällt es mir schwer ihre Behauptung zu glauben.“
„Ich weiß, junger Mann.“, lächelte Johanna und klopfte ihm gutmütig den Unterarm, was ihn nur noch neugieriger werden ließ.
Sie zog an der Dackelleine und machte Anstalten zu gehen. Geschmeidig wie der Wolf im Märchen stellte Drechsler sich ihr in den Weg und säuselte:
„Und wenn Sie mir ihren Schein einfach mal zeigen würden…?“
Der Dackel winselte.
„Aber gerne doch.“, antwortete sie und Drechsler jubilierte. Gierig starrte er auf das Blatt Papier, welches sie ihm bereitwillig hinhielt.
Was er dann sah, war so unglaublich enttäuschend, dass er für einen Moment den Impuls verspürte, sich die Augen zu reiben.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, blaffte er.
Die alte Frau zuckte zusammen, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätte.
„Die sollen gewinnen?“, krächzte er in einem Ton, dass der Kassierer den Kopf hob und misstrauisch zu ihnen herüber schaute.
„Und warum bitte schön nicht?“
Diesmal kam Johanna nicht umhin, ernsthaft pikiert zu sein.
Drechsler war fix und fertig. Wie kam ein Mensch auf die Idee, die Zahlen von eins bis sechs anzukreuzen und zu glauben, dass es die sechs Richtigen sind?
„Woher die Überzeugung?“, fragte er schlaff.
Johanna überlegte, während ihr Blick von Drechsler zu Walli, dann zum Kassierer und wieder zurück zu Drechsler wanderte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
„Vielleicht kann ich nur bis sechs zählen und alle anderen Zahlen sagen mir nichts!“, provozierte sie.
„Hä?“, machte er und glotzte sie blöde an.
„Sozusagen ein 'Zahlenanalphabet'“, schob sie nach.
Drechsler traute seinen Ohren nicht. Das hatte er ja noch nie gehört. Was sollte er davon halten? Andererseits, wenn es Menschen gab, die nur über die Buchstaben verfügten, aus denen der eigene Name bestand, warum sollte es das nicht auch bei Zahlen geben?
War nicht er derjenige, der oft genug sagte, „es gibt nichts, was es nicht gibt“?
Plötzlich war er peinlich berührt.
„Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“, quetschte er hervor und hörte sich dabei an wie ein Auto, das noch mal ein aufbäumendes Schnauben von sich gibt, bevor es liegen bleibt.
„Ach, das muss Ihnen nicht peinlich sein.“
Nachsichtig schüttelte sie den Kopf und Drechsler beobachtete wie ihr Hütchen munter mitwackelte.
„Es muss schwer für Sie sein“, bedauerte er sie.
„Was? Das ich die Zahlen so gut wie nicht kenne?“
Der junge Mann gab ein bemitleidendes „Hm“ von sich.
Johanna sah ihn mit ihren glänzenden Äuglein an und sagte gutgelaunt:
„Nein, ich habe es nicht schwer. Mir hat nie mein Geburtstag einen Schrecken versetzt, geschweige denn ein Kontostand Schweißausbrüche. Ich jage keinem Cholesterinwert hinter her und schaue nicht in den Kalender, um festzustellen, ob Sommeranfang ist. Und meine Uhr muss ich nie zum Uhrmacher bringen, ich besitze nämlich gar keine.“
„Ja aber gerade die Zeit“, warf Drechsler ein, „ich meine, man muss doch wenigstens die Uhr lesen können, sonst kommt man zu spät oder verpasst eine wichtige Gelegenheit.“
„Zeit? Zeit habe ich immer genug“, lachte sie, „mein Lottoschein ist nach einer Minute ausgefüllt und dennoch habe ich dieselbe Chance wie Sie.“
Die kleine Frau richtete zum letzten Mal ihre sieben Sachen, um endlich zu gehen. Drechsler sah ihr schweigend dabei zu. Es gab keinen Grund mehr, auf irgendetwas zu beharren.
Mit der noch freien Hand winkte Johanna ihm ein schelmisches Tschüss zu, bevor sie dem Dackel Kommando gab:
„Komm auf, Walli. Frauchen will Kaffee trinken gehen.“