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Seelenmacht
Gerade als die purpurne Scheibe die ferne Bergkette erreichte, den Himmel in Brand setze und die Schatten in dem kleinen Turmzimmer immer länger wurden, traten zwei Gestalten ein.
„Ihr seid also Raol und Corter“, fragte ein alter Mann freundlich. Aber es war wohl eher als eine Art Feststellung zu verstehen. An einer elfenbeinernen Pfeife ziehend, erkundigte er sich: „Wisst ihr, warum ihr zu mir geschickt wurdet?“ Wie ein alter Drache stieß er den Rauch wieder aus. Beide schüttelten mit dem Kopf. Der eine hatte blonde Haare, die ihm in Stirn fielen. Seine eisblauen Augen strahlten Heiterkeit aus. Seine Gesichtszüge waren etwas kantig, doch verliehen sie seinem Gesicht Charakter, der bei Frauen ein gewisses Kribbeln auslöste. Er war der, der Raol gerufen wurde. Der andere war in eine dunklen Umhang gekleidet, dessen Kapuze sein Gesicht im Dunkeln versteckte. Er hatte etwas Krähenhaftes an sich.
Der alte Mann nickte, als hätte er es schon erwartet und fuhr sich durch seinen weißen Bart. „Ihr beiden habt als einzige die letzte Runde des Wettkampfes erreicht. Meine Aufgabe ist es, euch eure letzte Aufgabe zu stellen, die noch zwischen euch und der Aufnahme bei den Windwölfen steht.“
Raol klopfte seinem Partner herzhaft auf die Schulter. Seine eisblauen Augen leuchteten auf. Die Kapuze von Corters dunklen Umhang verbarg sein Gesicht im Schatten, so dass über seine Reaktion nur spekuliert werden konnte.
„Welche Gefahren werden wir meistern müssen?“, fragte der Letztere. Seine Stimme wurde von einem leichten Zischen untermalt.
„Ihr werdet aus einer Scheinwelt, die wir extra für euch erschaffen haben, den Donnerstein bergen. Mehr werde ich nicht verraten. Ab dem Zeitpunkt aber, an dem ihr mit dem Kristall den Startpunkt wieder erreicht habt, seid ihr offizielle Mitglieder der Windwölfe!“
„Und Mitglieder der Elitegarde?“, fragte Raol.
„Und auch das“, nickte der alte Mann. Dann beschrieb er mit seinem Zeigefinger einen kleinen Kreis und an der Stelle, an der ein wuchtiger Eichenschrank gestanden hatte, befand sich plötzlich ein Durchgang in eine Schneelandschaft. Kleine Eiskristalle jagten auf heulenden Windböen in das wohlig warme Turmzimmer. Corter zog seinen Umhang enger um sich. Raol grinste ihn an und rief abenteuerlustig: „Partner, ich höre Macht und große Taten nach uns rufen!“
Ein Lächeln huschte über die Lippen des alten Magiers. „Wartet erst einmal ab, wie weit ihr es bei dieser Aufgabe schafft.“ Er nickte Corter zu. „Ich bin gespannt, ob du auch dieses Mal wirst auf deine dunklere Natur verzichten können.“
„Es gibt Mächte, mit denen sollte sich kein Sterblicher einlassen“, erklärte der Angesprochene trocken. „Aber wir werden es sehen, nicht?“
„Solange sie mir helfen würden in dieser Eiswüste hier zu überleben, würde ich sie einsetzen“, rief Raol, der mittlerweile schon durch das Tor getreten war.
Der Magier fixierte die grauen Augen Corters im Schatten der Kapuze und kommentierte leise: „Wenn du andere besiegst, bist du stark. Wenn du dich selbst besiegen kannst, hast du Macht.“
„Lebenskrieger...von Ontinor. Großer Denker“, erwiderte Corter beinahe nicht hörbar.
Der alte Mann zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
„Doch strebe ich nicht nach Macht“, murmelte Corter und folgte Raol in die Scheinwelt.
Als Corters lederne Stiefel den pulvrigen Schnee berührten, schloss sich der Durchgang wieder. Beinahe gleichzeitig flimmerte vor den beiden die Luft und eine Miniaturansicht des Gebietes erschien. Eine Stelle blinkte rot auf. Eine dunkle Stimme ertönte und erklärte: „Prägt euch diese Position gut ein!“ Wenige Augenblicke später verschwand die Karte wieder.
Raol schirmte mit einer Hand seine Augen gegen die untergehende Sonne ab und zeigte auf einen fernen Punkt in den verschneiten Bergen. „Dort müsste das Plateau sein. Lass uns beeilen. Ich möchte mein Grab nicht in dieser Scheinwelt finden.“
So bahnten sie sich einen Weg durch die Schneemassen immer höher in das Gebirge hinauf. Durch das Gebiet manch grüner verschneiter Riesen, entlang an beinahe zugefrorenen Gebirgsbächen und über verschneite Wiesen. Sie sahen weder frische Spuren noch die Feinde selbst. Doch Corter fühlte die ganze Zeit über die Anwesenheit einer dunklen Macht. Plötzlich zischt er: „Dort unten. Siehst du die beiden Schatten?“, und zeigte einen Abhang hinunter.
Raol kniff seine Augen zusammen. „Wie ein Habicht. Ich hätte sie übersehen.“
Ein heiseres Lachen ertönte aus der Dunkelheit der Kapuze. „Bin blind. Ich kann meine Umgebung nur fühlen.“
„Wie...?“
„Ein anderes Mal. Lass uns sehen, wer sie sind, bevor sie uns bemerken.“
Unauffällig pirschten sich beide an sie heran. Bald erkannte auch Raol zwei Gestalten, die sich durch den tiefen Schnee kämpften.
„Sie haben uns zwei Menschen als Gegner geschickt!“, lachte Raol leise.
„Hmm, vielleicht sind wir doch nicht die Einzigen der letzten Runde. Vielleicht hat man es uns nur erzählt“, erwiderte Corter.
„Wie auch immer. Wettkämpfer oder erschaffene Wesen, sie sind uns im Weg!“, zischte Raol. Die Heiterkeit in seinen eisblauen Augen war plötzlich tödlicher Kälte gewichen.
„Nein, ihr Tod könnte auch umsonst sein.“
„Pff. Es sind höchstwahrscheinlich nur zwei erschaffene Wesen.“
„Vielleicht auch nicht.“
„Vielleicht auch doch. Und selbst wenn, dann sind es Wettkämpfer, derer wir uns entledigen sollten, bevor es andersherum geschieht!“
„Nein.“
„Dann kümmere ich mich eben alleine um sie, du Moralprediger“, erwiderte Raol gereizt, doch seine Worte wurden vom heulenden Wind verschluckt. Corter stapfte schon wieder weiter. Raol schüttelte den Kopf und folgte ihm widerwillig.
Als der flammende Ball beinahe hinter den Gipfeln verschwunden war, erreichten sie einen zugefrorenen See. Er maß mindestens einen Quadratkilometer.
„Wenn wir ihn überquert haben, sind wir beinahe am Ziel, ohne auch nur einem Feind begegnet zu sein“, erklärte Raol fröhlich.
Im selben Moment spuckte der Horizont über den verschneiten Baumwipfeln auf der anderen Seite des Sees einen Schwarm fliegender Kreaturen aus. Das Himmelsrot ließ sie wie Dämon erscheinen. Vielleicht waren sie es auch.
„Das dazu. Ich liebe es, wenn das Schicksal mir zeigt, wie unrecht ich habe. Es könnte verdammt ungemütlich werden!“, fluchte Raol. Seine Stimmung war augenblicklich umgeschlagen.
Um Corters Hände züngelten Flammen. „Wir werden sehen“, erwiderte er ohne jegliche Emotionen.
Doch anstatt direkt auf die beiden zuzusteuern, flogen die Kreaturen ein anderes Ziel direkt neben ihnen an. Corters Kapuze ruckte herum. Keine zweihundert Meter von ihnen entfernt, waren zwei Gestalten aus der verschneiten Baumlinie aufgetaucht und betraten ebenso den See.
„Das sind doch nicht etwa?“, fragte Raol knurrend. In beiden seiner Händen erschien plötzlich ein Dolch.
Die Distanz war so gering, dass sie nun weitere Details erkennen konnten. Doch was sie sahen, waren keine monströsen Krieger.
„Das sind zwei Frauen“, bemerkte Raol überrascht. „Nichts desto trotz wird ihr Blut bald auf das Eis dieses Sees sickern!“ Ein leises Lachen ertönte. Corter erwiderte Nichts, doch das sollte nicht bedeuten, dass er gleicher Meinung war.
Raol zeigte auf die fliegenden Kreaturen. „Das wird sie genügend beschäftigen. Damit wäre dieses Problem wohl gelöst. Ansonsten werden wir eben noch nachhelfen. Egal ob bei den Kreaturen oder bei den Frauen“, murmelte Raol zufrieden. Doch Corter zeigte auf eines der Wesen und ließ ein Zischen vernehmen. Eine Feuerbrunst überzog das fliegende Wesen und ließ es als Fackel auf das Eis prallen.
„Warum konnte nicht jemand anderes die letzte Runde mit mir erreichen?“, murmelte Raol genervt und sprintete los. Sein Körper, seine Bewegungen verschmolzen mit der Umgebung, dann war er verschwunden.
Zwei der geflügelten Teufel ließen von den beiden Frauen ab und näherten sich Corter. Er begrüßte sie mit einer Feuerwelle, doch dieses Mal zeigte es keine Wirkung. Corters Zeigefinger beschrieb blitzschnell einen Kreis in der Luft und eine Eiswand schoss genau vor den Ungeheuern empor. Mit einem dumpfen Geräusch prallten sie dagegen.
Im Schatten seiner Kapuze zuckten Corters Mundwinkel nach oben, als er bemerkte, wie eine der Frauen mit Blitzen werfenden Klingen eine weitere Kreatur in Stücke riss. Doch jäh erlosch das Lebenszeichen ihrer Mitstreiterin. Corters Kopf ruckte herum und er vernahm Raols Signatur, die sich von dem toten Körper löste und auf die andere Frau zusteuerte.
Die beiden Flügelwesen hatten sich mittlerweile von ihrem Sturz wieder erholt, erhoben sich in die von verbranntem Fleisch geschwängerte Luft und steuerten auf ihn zu.
„Ich bin gespannt, ob du auch dieses Mal wirst auf deine dunklere Natur verzichten können.“
Mit einer Handbewegung, die für ein ungeübtes Auge zu schnell gewesen wäre, zeigte er auf den Himmel und dann auf das Eis zwischen der Frau und Raol. Einen Moment später krachte etwas Feuriges auf den See, das Eis barst. Ein gellender Schrei ertönte. Die Teufel rasten immer noch heran und warfen Corter spielend durch die Luft. Ihre scharfen Krallen zerschnitten das Eis und griffen nach seinem weichen Körper. Blaue Blitze waren schneller. Wie Gottes Zorn schleuderten sie die Monster zu Boden. Der Klang von singendem Stahl ertönte, kurz darauf stand die überlebende Frau, besudelt mit schwarzer Flüssigkeit, breitbeinig über Corter gebeugt.
Sie griff nach seinen Armen und stellte ihn auf seine Füße, als sei er ein kleines Kind.
„Ich bin Luv. Danke für deine Hilfe.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „...auch gegen deinen ehemaligen Partner.“
Für einen Moment musterte er sie stumm. Ihre Akzent war hart. Nordisch. Feuerrotes, langes Haar umrahmte ein Gesicht mit feinen Zügen. Ihr blasser Mund wirkte beinahe verletzlich. Aus ihren grünen Augen sprühte hingegen loderndes Feuer. Sie war beinahe genauso groß wie Corter und ihre Statur war noch kräftiger gebaut. Möglicherweise war das aber auch die Schuld des Panzers, den sie über einer mittlerweile von Blut und Schmutz befleckten Tunika trug. Dachte man sich dieses Kleidungsstück weg, so würden nicht nur ihre langen Beine so manche Blicke hinter sich herziehen.
Warum hatte er aber ihr Leben das seines Partners vorgezogen? Jetzt erst realisierte Corter, was er während seines instinktiven Handelns getan hatte. Nicht, dass er Raol gemocht hatte, er hatte ihn vielmehr verabscheut - diese durch und durch kalte und grausame Kreatur. Aber diese Kriegerin kannte er überhaupt nicht. Möglicherweise war sie nur ein Teil der Scheinwelt. Nein, dafür waren ihre Augen zu lebendig, zu feurig. Oder nicht?
Die Frau räusperte sich. „Geht es dir gut?“ Sie sah Corter besorgt an.
„Ja, ja. Ich habe meinen Partner auch erst vor wenigen Stunden kennen gelernt. Er ist selbst Schuld daran, nun in den eisigen Fluten ertrunken zu sein. Ihr, du, seid also ein weiteres Team der Windwölfe?“
„Windwölfe?“, sie zog eine Augenbraue hoch. „ Nein. Wir“, sie stoppte für einen Moment. Corter konnte den Schmerz in ihren Augen fühlen, „ich gehöre zu keinem Team.“
„Was macht ihr hier dann?“
Die Kriegerin lachte hell auf, als hätte er einen Witz gerissen.
„Wohl das selbe wir ihr! Wir, ich will den Seelenstein!“
Corter blieb für einen Moment stumm. „Ihr wurdet von keiner Gilde in diese Scheinwelt geschickt, um den Donnerkristall zu finden?“
„Donnerkristall? Scheinwelt? Ist das irgendeine Taktik? Wir wollten den Seelenstein des Dämonenlords! Bis ihr auftauchtet...“
Wieder verstummte der dunkle Krieger für einen Moment. Er atmete tief durch. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte er. Plötzlich züngelten Flammen um seine Hände. Nun erst verstand er den Zusammenhang mit dem Seelenstein. „Du sagst, auf dem Plateau auf der anderen Seite des Sees befindet sich der Seelenstein des toten Dämonenlords, Untergebener des K’tart? Der Lord, welcher vor kurzem von der weißen Union getötet wurde? Und nicht ein Donnerkristall?“
„Exakt. Durch seinen Tod ist der Stein zu einer respektablen Beute geworden. Also, was hat es mit dem Donnerkristall und der Scheinwelt auf sich?“, fragte sie neugierig.
Corter verstummte wieder für einen Moment. Was, wenn sie nur ein Teil des Tests war? Was, wenn es nur seine Loyalität prüfen sollte? Was, wenn nicht?
„Was hat es mit dem Donnerkristall auf sich?“, fragte sie ungeduldig noch einmal.
Corter seufzte. „Die Windwölfe, eine sehr mächtige Gilde, hat einen Wettbewerb für eine ihrer Elitegarden ausgerufen. Raol, mein Partner, und ich hatten als einzige die letzte Runde erreicht. Unsere Aufgabe bestand oder besteht immer noch darin, aus einer Scheinwelt, in der ich mich soeben befinden sollte, einen Donnerkristall zu bergen und zum Startpunkt zurückzubringen.“
Luv zog scharf die Luft ein. „Da ich mir hundertprozentig sicher bin, dass es sich hier nich um eine Scheinwelt handelt, kann ich nur sagen, dass man euch beide hereingelegt hat.“ Sie stoppte sie für einen Moment, dann fügte sie an: „Aber warum?“
Corter ließ ein leises dunkles Zischen vernehmen. „Damit wir den Stein auch abliefern und nicht einfach behalten. Warum sollten wir noch Interesse an den Windwölfen haben, wenn wir den Seelenstein besitzen würden?“
„Aber warum haben sie nicht einfach eine ihrer Garden mit diesem Auftrag beglückt?“
„Uns hätte man weniger schnell mit den Windwölfen in Verbindung gebracht. Für den Fall, das etwas schiefgegangen wäre.“
Die Kriegerin nickte langsam. „Was nun?“ Sie wog den Kopf hin und her und musterte ihn von oben bis unten.
„Was?“, fragte er.
„Wir haben soeben beide unsere Partner verloren. Ich brauche einen neuen. Mit Magie habe ich nämlich nichts am Hut. Wir könnten zusammenarbeiten. Lieber teile ich und erleide nicht das Schicksal meiner Partnerin.“
„Unwahrscheinlich, meiner ist ja tot“, murmelte Corter.
Die Sonne war nun vollkommen hinter den Bergen verschwunden und überließ das Schlachtfeld den Schatten.
„Reich mir deine Hand“, bat Corter.
Wiederwillig und mit runzelnder Stirn folgte sie seiner Anweisung. Ihre grünen Augen musterten ihn eindringlich. Als ihre Handflächen sich berührten, war es, als würde sie eisige Kälte durchjagen. Dann tauchten sie in den Schatten der Berge ein und traten aus der Dunkelheit eines verfallenen Turmes heraus.
Schmerz fraß sich wie glühende Nadeln durch seinen Körper und zog ihn unbarmherzig an den Abgrund seines Bewusstseins. In eiskalten nassen und blutüberströmten Fetzen stapfte er kraftlos durch den Schnee. Von seinen raubtierhaften Bewegungen war nicht einmal mehr ein Glanz übriggeblieben. Sein rechtes Bein war gebrochen. Er wollte nur überleben. Keuchend ließ er sich in den Schnee fallen und band mit zittrigen Fingern einen kleinen Beutel von seinem Gürtel. Wenn der Händler über dessen Inhalt gelogen hatte, dann würde es der Halsabschneider bitter bereuen. Nun, nur, wenn er selbst noch solange leben würde. Nach dem dritten Versuch schaffte er es, dessen Schlaufe endlich zu öffnen. Beinahe wäre der Beutel seinen Händen entglitten. Vorsichtig verteilte er sogleich ein weißes Pulver auf der Haut seiner Arme. Beziehungsweise auf den Fetzen, die davon noch übrig geblieben waren. Es dauerte nicht lange, da begann die Haut zu gribbeln, der höllische Schmerz ließ nach und im Bruchteil eines Augenblickes bildete sich frisches Gewebe. Vorsichtig bewegte er seine rechte Hand wieder. Er vollführte eine blitzschnelle Bewegung, griff nach einem Dolch und schleuderte ihn gegen den Baum vor ihm. Perfekt getroffen. Dieses Pulver war sein Gewicht in Gold wert gewesen. Ein Glück für den Händler. Kurze Zeit später waren auch Beine und Gesicht wieder hergestellt.
Wie eine Raubkatze huschte er als bald wieder durch die verschneite Landschaft. Sein Gestalt war für einen externen Beobachter nicht mehr zu erkennen. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Er hob seinen Kopf und es war so, als hätte er von etwas oder von jemandem die Spur aufgenommen.
Von Baum zu Baum pirschte er sich näher an seine Beute heran. Bis sie schließlich in seinem Gesichtsfeld auftauchte. Als er sie hören konnte, erstarrte er hinter eine mächtigen Fichte. Er vernahm zwei verschiedene Stimmen. Eine Zischende und eine Helle, Weibliche. Kalter Zorn stieg in ihm empor. Aber als er der Unterhaltung folgte, wurde er ruhiger. Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Grinsen.
Dunkel ragte der Turm in die Höhe, beinahe drohend. Das Gewicht von Jahrtausenden hatte ihre Spuren auf dem uralten Stein hinterlassen. Eine Dunkelheit war an diesem Ort allgegenwärtig, welche merkwürdige Gedanken im Hinterkopf erzeugte. Zu lange sollte man an diesem Ort nicht verweilen.
„Wo sind wir?“, fragte Luv verwirrt.
„Am Ziel. Ich bin ein Schattenwanderer.“
„Ich hasse Magie“, murmelte Luv und schüttelte sich.
„Warum? Und wessen bedienen sich deine Klingen?“, warf Corter trocken ein.
„Mein Vater hat sich auch immer auf seine Magie verlassen. Als er von Banditen überfallen wurde, hat sie ihn verlassen. Hätte er wie ich den Schwertkampf erlernt, wäre er noch am Leben. Ich hätte die Schattenmonster auch ohne die Blitze erledigen können“, erklärte sie und warf ihr feuerrotes Haar stolz nach hinten.
„Vielleicht war aber auch Angst das Problem und nicht Magie“, erwiderte Corter vorsichtig. Mit seiner rechten Hand zeigte er auf einen schwarzen Block, der etwa hundert Meter von ihnen entfernt aus dem Boden ragte. „Dort befindet sich der Seelenstein?“
Luv nickte und holte ein kleines, goldenes Objekt aus ihrer Tasche. „Die Wachen haben uns noch nicht entdeckt. Deine Fähigkeit war uns vielleicht doch von Vorteil. Auf konventionellem Weg hätten wir sie ausschalten müssen.“ Sie zeigte auf das Objekt in ihrer Hand. „Dieser Greifer wird uns den Stein holen. Kannst du uns wieder auf den See oder noch weiter weg bringen, sobald er sich wieder in meiner Hand befindet?“
Corter nickte. Sie warf das Objekt in die Höhe, es raste davon, um einen Augenblick später wieder in ihrer Hand zu finden. Doch im selben Moment ertönte ein gellendes Kreischen, das anschwoll und den Boden zum Vibrieren brachte. Die Erde schwankte und ein grelles Licht leuchtete auf. Vom Turm hinter ihnen krachten Steinblöcke zu Boden. Luv umkrallte Corters Hand, während er versuchte mit ihr in den Schatten zu fliehen. Doch es war unmöglich. Das Licht hatte ihren Fluchtweg vernichtet. „Wir müssen in einen Schatten gelangen“, zischte er fluchend.
Er konnte spüren, wie sich etwas Körperloses, Unsichtbares den beiden rasend näherte. Sie waren entdeckt worden! Luv sprang auf und zerrte ihn wie ein kleines Kind hinter sich her. Im selben Moment polterte es hinter ihnen und der gesamte Turm brach in einer Staubwolke in sich zusammen. Gestein spritze. Sie mussten in den angrenzenden Wald gelangen, koste was es wolle. Doch die Wesen nährten sich zu schnell. Corter beschrieb ein eckiges Zeichen und hinter ihnen schossen Feuersbrünste aus dem Boden. Auch sie konnten die Wesen nicht aufhalten.
„Schneller!“, schrie Luv keuchend. Nur noch wenige Meter. Aber da blieb er abrupt stehen. Vor ihnen kroch etwas aus den Baumreihen. Auch Luv schien es zu spüren. Sie schrie wütend auf und zog ihre Schwerter. Im selben Moment ertönte hinter ihnen eine Explosion, das gleißende Licht flackerte und erlosch dann entgültig. Die Macht des Ortes war entgültig kollabiert. Corter Finger umkrallten Luvs Hand.
Sein Atem ging gleichmäßig. Die weiße Landschaft raste an ihm vorbei. Es fühlte sich gut an. Erfrischend. Befreiend. Noch immer roch er die Fährte seiner Opfer. Für einen Moment hatte er sie verloren, doch nun würde es nicht mehr lange dauern. Eine kalte Vorfreude loderte in ihm hell auf.
Anstatt auf dem See, traten sie in einem dunklen Wald aus den Schatten hervor.
„Schnell, wir müssen uns beeilen!“, rief Luv keuchend. „Die Wächter des Steins können uns trotz deiner Teleportierfähigkeit einholen!“
„Kann ich kurz den Kristall sehen?“
Luv überreichte ihm diesen zögernd. „Aber schnell!“
Vorsichtig strich Corter mit seinen Finger über die Oberfläche, als könne er sich verbrennen.
„Er ist es tatsächlich.“, murmelte er leise. Wie zu heiße Kohlen übergab er ihr den Stein hastig wieder und fragte leise: „Kannst du die Schreie der Seelen hören?“
„Nein“, schüttelte sie den Kopf und runzelte verwirrt die Stirn. Hätte Luv in seine grauen Augen blicken können, so hätte sie eine Spur von Trauer gesehen.
„Sei froh“, erwiderte er knapp. „Wie seid ihr in das Gebiet gelangt? Kennst du einen Weg raus? Mein Tor können wir nicht mehr benutzen.“
Luv nickte. „Folge mir.“
Etwas schwerfälliger schloss Corter sich der Raubkatze an. Ohne ihn wäre sie sicherlich schneller vorangekommen. Zu ihrem Glück waren keine weiteren Verfolger aufgetaucht. Der gesamte Wald schien leblos. Nicht einmal Tiere spürte er. Da jäh, wurde Corter von einer unsichtbaren Faust gegen eine Tanne geschmettert und dort mit eisernem Griff festgehalten. Luv wirbelte herum, doch erstarrte, als ihr jemand mit einem Dolch leicht die Haut am Hals aufritze. Warmes Blut trat aus.
„Den Stein bitte“, erklärte Tyriel von Dunkelweiler, der Erzmagier der Windwölfe, freundlich. Was sich doch für ein Teufel hinter der Maske dieses alten Mannes mit weißem Bart versteckte.
„Mieser Verräter!“, zischte Corter und versuchte sich zu befreien.
„Wer? Wieso...?“, fragte Luv verwirrt, doch sofort wurde es ihr klar.
„Macht, ihr Dummköpfe. Macht! Und jetzt den Stein, bevor die Wächter auftauchen.“
Luv holte ihn langsam aus einem Lederbeutel hervor. Das Gesicht des Magiers verwandelte sich in eine grinsende Fratze. Doch das sollte sein letzter Triumph in seinem Leben gewesen sein. Sein Kopf rollte von seinen Schultern und dunkles Blut entjungferte die weiße Erde. Dahinter erschien Raol. Er grinste die beiden an und kommentierte: „Glück, dass ich eben in der Gegend war.“
Genauso schnell hatte er auch die Position des Zauberers eingenommen und verlangte seinerseits den Seelenstein.
„Wo Blinde keine Macht mehr haben, brauchen die Sehenden nicht einmal mehr Gewalt gegen sie anzuwenden“, amüsierte er sich über Corter, der sich immer noch nicht von dem Fluch des toten Erzmagiers befreien konnte. Doch das Amüsement trug keine Wärme. Keine Menschlichkeit. Purer Hass blickte ihnen aus eisigen Augen entgegen.
Mit aller Gewalt versuchte Corter sich zu befreien. Doch es reichte gegen die Macht des Fluches nicht aus. „Ich bin gespannt, ob du auch dieses Mal wirst auf deine dunklere Natur verzichten können.“ Dieser verdammte Magier der Windwölfe! Es war ausgeschlossen. Aber wenn Raol den Stein bekommen würde, dann würde der personifizierte Tod wieder auferstehen. Was würde aus den Seelen werden? Nein, auch dieser Versuchung musste er wiederstehen. Er hatte es geschworen!
Luv atmete hörbar ein und aus. Ihr Gesichtszüge waren angespannt. Corter war nicht der einzige, der einen innerlichen Kampf ausficht. Aber würde ihre Macht reichen, auch wenn sie diese einsetzen würde?
Raol lachte immer noch. Diese Laute waren unerträglich. Seine Finger langten nach dem Stein. Plötzlich wurde das lachen zu einem gurgelnden Röcheln und erstarb vollkommen. Fingerdicke Wurzeln waren aus dem gefrorenen Boden geschossen, hatten sich blitzschnell um Raol gewickelt und Luv so aus seinem tödlichen Griff befreit. Wie in einen Kokon eingespannt lag Raol leblos im Schnee. Luv blickte sich zu Corter um. Ihre grünen Augen leuchteten auf und da brachen Corters Fesseln.
Unter seiner Kapuze ertönte ein leises Lachen. „Du hasst also Magie?“
Luv sah ihn trotzig an. „Sie war der letzte Ausweg. Wir hätten dieser Kreatur den Stein ausgehändigt!“
Corter wollte etwas erwidern, doch plötzlich brauste ein Wind auf und wuchs zu einem brausenden Heulen heran, das seine Stimme übertönte. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter. „Der Stein ist unser! Sein ist euer Grab für die Ewigkeit! Gebt uns den Stein. Den Stein. Stein“, heulte es aus den Baumwipfeln.
Die Wurzeln, die auf Luvs Befehl hin Raol endgültig getötet hatten, wandten sich plötzlich gegen ihre Herrin und griffen nach dem Kristall. Überrascht schrie sie auf. Ihre Finger jedoch krallten sich verzweifelt um den Stein und plötzlich fegte ein Hauch aus Pein, eisiger Kälte und Dunkelheit durch den Wald. Es war nicht etwa das Werk der Wächter gewesen. Es war Luvs Werk. Sie hatte den Stein angezapft. Die Wurzeln erschlafften. Um Luv und Corter wurden dunkle Gestalten sichtbar. Sie waren mehrere Köpfe größer als der nicht gerade kleine Corter. Ihre graue Haut war von schwarzen, geschwulst-geschwürartigen Strukturen überdeckt. In ihren Klauen pulsierte pure Dunkelheit. Ihre Gesichter symbolisierten den Tod selbst. Corter konnte fühlen, wie Luv sich immer stärker der Macht des Seelenkristalls bediente, um die Wächter des toten Dämonenlords zu attackieren. Dunkelheit trat Schwärze gegenüber. Tod der Verdammnis.
Er spürte erschreckt, wie nicht sie sich des Steines bediente, sondern der Stein in sie kroch. Für einen Moment blickte Luv ihn aus dunklen Augenhöhlen an und grinste teuflisch. Unter der Oberfläche ihres Geistes erahnte Corter ein körperloses Wesen. Mächtiger als alles, was er je gespürt hatte. Gegen ihn war er, waren die Wächter kleines Ungeziefer. Unwillkürlich erinnerte er sich an einen seiner früheren Mentoren, der immer gesagt hatte: Im Streben nach Macht werden so manch bösen Geister erschaffen. Der Stärkste und Gefährlichste ist die Macht selbst.
Luv lachte wieder auf. Es war wie das schrille Kreischen einer Harpyie. Wie Stahl auf Stahl. Der Geist hatte einen neuen Körper gefunden. Der Dämonlord war nun vollkommen Vergangenheit. Auch er war nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Corter atmete tief ein und spielte seine letzte Karte aus. Denn konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Er gab sich den dunklen Schatten hin, zerbarst, wurde mit ihnen eins und labte sich an den gefallenen Seelen. Erst an Raol, dann an dem Erzmagier und schließlich an den gefallenen Wächtern. Sie waren sein. Ihre Macht würde fortan durch seinen Körper pulsieren. Er spürte die Süße jedes der kleinen Bausteine, die einmal seine Opfer dargestellt hatten in sich. In Bruchteilen eines Augenblickes vollführte er eine grässliche Metamorphose. Schwingen aus Dunkelheit umhüllten ihn und verschmolzen mit den Schatten.
Als die Kreatur, die Luv einmal gewesen war, den letzten Wächter zerstört hatte, sah sie auf und lächelte Corter an. „Mein Gefährte, wir haben es vollbracht.“ Er lächelte zurück. Ein freudloses Lächeln. Da schoss Schwärze aus ihm auf Luv zu und entrissen ihr den Stein. Sie wollte sich wehren, doch es geschah zu unerwartet. Im Sinne von Macht hätte sich Corter nie mit ihr messen können, auch nicht auf der dunklen Seite. Doch Macht war nicht das einzige was zählte. Augenblicklich sackte Luv in sich zusammen, wie eine leblose Puppe. Corter spürte, wie die Macht des Seelensteins durch ihn hindurch raste.
So dann war es, als würde die Zeit innehalten, als würde sich der alte Wald vor dem neuen Herren der Finsternis verbeugen. Die dunkle Macht fühlte sich gut an. Sehr gut. Es war wie eine Erweiterung der Sinne. Doch etwas Leises drang an sein Ohr und verdarb den Moment des Triumphes. Es wurde lauter und lauter. Schreie, Winseln, Weinen. Er atmete tief durch und versucht sie zum Verstummen zu zwingen. Ohne Erfolg. Etwas kam mit diesen Schreien zurückgekrochen. Erinnerungen. Wie glühend Eisen brannten sie sich in seinen Geist und da erkannte er, was er einmal gewollt hatte. Ein Zischen ertönte aus Corters Mund. Ein einziger Befehl. Dann jagte ein Raunen durch die dürren Äste der Riesen, wurde lauter und lauter, schwoll zu einem Orkan an. Als es wieder verstummte, kniete Corter neben Luv. Das Gefängnis des Steines war geöffnet worden, die Seelen entschwunden. Luv schlug die Augen auf und das Grün des Frühlings war wieder dorthin zurückgekehrt. Sie lächelte schwach, richtete sich etwas auf und bemerkte: „Deine Kapuze ist dir verrutscht.“
Er wuschelte sich verschmitzt durch sein silbriges Haar. Etwas zittrig stand er auf und reichte ihr seine Hand. Sie ergriff diese dankbar und zog sich daran nach oben. Sich auf ihn stützend murrte sie: „Wundervoll, einmal in meinem Leben hätte ich Macht besitzen können. Wer wird uns, dir, dafür danken, den Stein vernichtet zu haben?“
„Hast du die Seelen nicht gehört?“
„Nein.“
Corter lachte leise auf. „Als Entschädigung geb’ ich dir einen heißen Met im nächsten Gasthof aus. Vielleicht sogar zwei.“
„Mhhh, ich liebe Met an kalten Wintertagen.“ Sie schnitt eine Grimasse und fügte an: „Aber es wird sooo lange dauern, bis wir das nächste Gasthaus zu Gesicht bekommen.“ Sie zog betont entnervt die Luft ein. „Und jetzt müssen wir auch noch in der Dunkelheit durch diesen Wald marschieren.“
„Hast du Angst?“, fragte er.
„Nein“, antwortete sie. „Nein, nicht mehr.“
Ein Lächeln huschte über Corters Lippen und er konnte fühlen, wie die grünen Funken ihrer Aura seinen dunklen Panzer durchdrangen und den Frühling brachten. Es tat gut. Richtig gut.