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Seerobbe

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06.01.2005
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Seerobbe

Draußen grollten die Wogen des Meeres, zerbrachen eine nach der anderen am Strand und zogen sich, leer wie der Wind, der um das Haus peitschte und vergeblich an den Holzbohlen rüttelte, in sich selbst zurück. So toste es die ganze Nacht hindurch, bis auch im Morgengrauen das Meer unter den Peitschenhieben des letzten Frühjahrssturmes noch ächzte und seufzte und sich von seinem stürmischen Reiter befreien wollte. In diesem vergeblichen Bemühen wurden in ohnmächtiger Wut Muscheln und Kiesel aufgerührt und an das Ufer geschleudert. Als der Sturm auf seiner wilden Flucht zu anderen Welten an diesem Meer seinen Hunger gestillt hatte, saß er an dem mit Schätzen, die dem Grunde des Ozeans entrissen waren, übersäten nassen Strand. Große, feuchte Augen blickten in eine fremde Welt und wunderten sich über die ruhige Einsamkeit um ihn herum. Eben noch wurde er mit der Macht des Ozeans in die Tiefen des Meeres gezogen, hatte den Grund des Meeresbodens gewaltsam geküsst und berührte eine versunkene Welt, in die sich jene zurückzogen, die sich am Ende Meeresalgen statt Blumen erwählt hatten. Eine Woge wirbelte ihn schließlich empor, entriss ihn den gierigen Armen des gegeißelten Meeres, um ihn an das Ufer zu werfen. So fand ihn der Junge Tom. Angerührt von dem wahrhaft treuen Blick des kleinen Heulers, der einsam und erschöpft nahe des ermattenden Wassers lag, durchströmte ihn ein warmes Glück, nach dem er Sehnsucht hatte, in diesem Leben. Darum nahm er den kleinen, feuchten Körper in seine langen, dünnen Arme und während er ihn nach Hause trug und das nasse Fell sein Hemd durchtränkte, strömte eine Melodie in ihm, die aus der Tiefe seiner Seele empor drang, wie die Erinnerung an eine ferne Vergangenheit. Er ging in die nahe gelegene Hütte am Strand, die den wilden Winden getrotzt hatte, holte ein feines Frotteehandtuch hervor, in das er den grauen, haarigen, neuen Freund einwickelte, um ihn behutsam an das brennende Kaminfeuer zu legen. „Das Meer hat ihn mir gebracht, einen kleinen Robbenjungen, und ich muss mich ab heute ganz besonders um ihn kümmern“, sagte Tom zu Anja, seiner Mutter, die in der Küche bereits Kuhmilch für den kleinen mutterlosen Sohn erwärmte. Toms Augen blickten beinahe so groß und feucht aus seinem erröteten Gesicht, wie die der kleinen Robbe. „Er ist ein Heuler, er ist zu klein, um ihn an das Meer zurück zu geben“, sagte Anja. „Er hat Glück gehabt, dass er von dem kühlen Kuss der Ewigkeit des Meeres freigegeben wurde. Wer weiß, wo er herkommt und wohin seine Familie gegangen ist?“ Die Robbe vor dem Kamin nahm gierig die warme Mahlzeit, und mit einem mit Milch durchtränkten Schurrbart sank der erschöpfte Heuler in das tiefe Trauma der Entwurzelten und schlief seiner kranken Traurigkeit davon. Als er erwachte, war Tom das erste, was er sah, denn sein noch schlaftrunkener runder Kopf lag in Toms Schoß wie an der ruhevollen Brust eines Gottes. Die blanken großen Kinderaugen sahen feucht in die Kulleraugen des Robbenkindes. „Wir haben uns gefunden“, rief Tom. „Ich nenne dich Seerobbe!“ „Ruhe und Freude sollen sein“, sagte Anja, die weiser war und über die Zerbrechlichkeit von Freundschaft wusste, ebenso, wie sie den Herbst der Kindheit in Toms Leben klarer sah, als er selbst. So ist das Wesen des Älterwerdens: Es bringt Wissen und Vorausschau mit sich, manchmal Frieden, ein anderes Mal Unruhe über die Dinge, die das weit schauende Auge sehen kann. Davon haben die Kinder in ihrer Unschuld noch kein Wissen. Sie handeln schnell, ohne Zweifel und Lüge, mit einem Herzen so rein wie der junge Morgen, der sich zaghaft über das taubenetzte Land tastet. „Du darfst so lange bleiben, bis du jene fernen Klänge und Stürme in dir hörst, mit der deine alte Welt ein schmerzliches Heimweh in dir weckt“, sagte Anja. „Bis dahin wird die Tür dieser Hütte immer offen sein für dich, gleich, ob du kommst oder ob du gehst.“
Es kamen ruhige Zeiten, das Meer gähnte und schickte rollende Wogen an den Strand, an dem Seerobbe und Tom übermütig herumtollten. Sie robbten nach Robbenart um die Wette den Strand entlang, sammelten weiße, blaue und schwarze Muscheln und versuchten sie aufzuknacken, Tom mit einem Stein, Seerobbe mit seinen heranwachsenden spitzen Zähnen. Anjas warme Kuhmilch und der Fischbrei ließen Seerobbe groß und kräftig werden, ja er wurde richtig kugelig rund und ließ bald schon erste Speckfalten an seinem Körper erahnen. Gerne kamen die Kinder aus den Nachbarhäusern zu Besuch, um den putzigen Freund von Tom zu sehen, der jeden Gast mit Robbengebell und Gekreische begrüßte. Bei dem Gelärme hielten selbst die Möwen kurz inne, in ihrem Flug über Strand und Meer, um sich nach der Quelle der überschwänglichen Lebenslust umzusehen. Doch sie drehten nur einen Moment ihren hochnäsigen Kopf mit den wachen, scharfen Augen, bevor sie in herrlichen Flugkünsten ihren Raubzug über das Meer hinaus in ihre Fischfanggründe fortsetzten. Oft belustigte Seerobbe die Gäste durch seine Angewohnheit, die Nasenlöcher bei jedem Atemzug weit zu blähen und ein leises Pfeifen beim Ausatmen hervor zu bringen. Tom zog ihn dann am Schnurrbart und sein Gesicht legte sich in Falten, als er zum lauten Niesen einatmen musste. „Haha“, freuten sich die Kinder und Tom kitzelte Seerobbe ungestüm durch. Doch Robben sind wehrhaft: Die Freundschaft zu Tom verbot ihm den Einsatz der spitzen Zähne, so er warf sich mit klatschenden Flossen auf den Kinderkörper, blies seinen fischigen Atmen pfeifend in Toms Gesicht, stieß sich dann von ihm ab, um durch die Tür hinaus in das offene Meer zu robben und darin zu verschwinden. „Seerobbe, Seerobbe“, rief Tom am Strand, reglos angespannt stehend und schaute die Gäste vergessend angestrengt auf das Meer. „Wo bist du?“ Ein runder Kopf tauchte auf den Kämmen der schaukelnden Wellen auf und zwischen Seerobbes spitzen Zähnen zappelte ein kleines Fischchen, das dem Freund als Geschenk des Meeres in die kleinen Hände gelegt wird. Tränen der Liebe und des Glücks kullerten aus den blanken Kinderaugen. „Mein Freund“, sagte Tom und küsste Seerobbes runden Kopf so zärtlich, wie junge Liebende sich küssen, wenn die Liebe sie in süße, entrückte Räume führt. Seerobbe kreischte zurück, stupste ihn mit der Schnauze und liebkoste Tom, fast schnurrend wie eine Katze, und die borstigen Barthaare kitzelten Toms Kindergesicht während heißer, nach frisch verspeistem Hering riechender Atem diese Zuneigung bezeugte.
Der Sommer kam und brachte endlose Tage mit blauem Himmel mit sich. Das Meer erwärmte sich und Seerobbe zeigte Tom das traumhafte, schwerelose Schwimmen und Tauchen seiner Art. Tom drehte und rollte sich im Wasser, als sei er selbst eine kleine Seerobbe, doch die weiten Streifzüge des Freundes in die tiefen, versunkenen Gärten des Meeres blieben ihm verwehrt. Tom war es nicht gegeben, die pfeilschnellen Bewegungen seines Freundes unter der Wasseroberfläche schwerelos und ausdauernd auszuführen. Die Robbe war in zwei Elementen heimisch. Auch an Land konnte er sich als Freund und Helfer bewähren. „Seerobbe, hilf mir! Ich möchte ein tiefes Loch in den Sand graben!“ Seerobbe döste am Strand, robbte aber sogleich neugierig heran und rührte mit den Flossen im Sand herum, um so etwas wie ein Loch entstehen zu lassen, das Tom mit seinen langen Armen und Händen so tief weiter ausgrub, bis sie beide darin verschwanden. In der feuchten Kühle des gemeinsamen Werkes drängten sie sich eng aneinander und passten auf, dass der herabrieselnde Sand nicht übermütig die Grube verschüttete. Eine Möwe ließ sich in Vertrauen auf die Leere des Strandes auf dem Grubenrand nieder und wollte gerade in eine andere Welt wegdösen, als sie die beiden Versteckten bemerkte. Mit weit aufgerissenen Augen flog sie kreischend auf und segelte elegant davon. Seerobbe lachte sein Hundebellen und Tom lachte so sehr, dass ein großer Teil der Sandwand einbrach und plump auf sie hinunterfiel. „Wir helfen und verstehen uns, denn wir sind Freunde.“ „Sie sind wie zwei verwandte Seelen, die sich endlich getroffen haben und im Einklang miteinander leben“, sagte Anja zu Besuchern. „Doch die Seele einer Robbe gleicht nicht der Seele des Menschen, denn in ihr sind Welten verborgen, die die Menschen nicht betreten können. Unsere Seerobbe wurde gewaltsam einer Welt entrissen, die Tom und auch ich nicht betreten können und wenn aus ihr ein Gesang ertönt und Seerobbe in die Seele dringt, wird er sich sehnsüchtig auf den Weg nach diesen Harmonien machen.“
Doch jetzt war die Kinderzeit schön und Anja lächelte, denn was gab es wertvolleres als einen Freund und das unbekümmerte Spiel der sich fallen lassenden Kinder? Und gleichwohl er aus der ihnen entrückten Welt des Meeres kam, war er nicht ein Spiegel vieler ferner Sehnsüchte und Verlangen eines kleinen Jungen, der im Sommer am Meer lebt?
Seerobbes liebster Streich war das Verstecken einer frisch gefangenen, noch lebenden Krabbe, die in ihrer Panik des Entdecktwerdens Tom oder Anja mit all ihrer Kraft beide Scheren gleichzeitig in die Knöchel klammerte. „Au! Seerobbe!“ gellte sogleich ein Schrei durch die Hütte. Man hörte als Antwort ein Prusten und heiseres Gebell, dann folgt ein schnelles Schlurfen, als Seerobbe eilig zur Tür hinausrobbte, um im Meer von den Menschen unentdeckte Streiche zu spielen.
Als Seerobbes Zähne groß und spitz genug waren, um auch große, flinke Fische im freien Meer sicher zu fangen, schickte Anja ihn oft hinaus in die Fluten, denn sie war es leid, ihre eigenen Fischvorräte dauernd geplündert vorzufinden. Denn Seerobbe hatte wie alle heranwachsenden Jugendlichen einen ungebremsten Hunger, der seine Gier nach Fisch nährte. Am liebsten mochte er frischen Hering oder Makrele, aber auch Schollen und kleine Flundern, ja selbst geräucherten Heilbutt, Butterfisch und Aal verachtete er nicht. Anja erwischte ihn sogar in Küche und Speisekammer, wo er seine spitzen Zähne mit dem jagenden Blick eines Wildtieres in die Thunfischdosen bohrte, um mit zischendem Schmatzen den Leckerbisse an der Dose zu ziehen und diese mit spitz geformter Zunge anschließend auszuschlecken. Richtig ärgerlich wurde Anja, wenn Seerobbe sich über eine Dose Hering in Tomatensoße hermachte. Dann sah er selbst aus wie ein blutiges Raubtier und die Küche war über und über mit roten Flecken übersät, die an Masern auf Kinderhaut erinnern. Sie verscheuchte ihn und rief: „Geh hinaus in das Meer, das dich geboren hat, dort wirst du deine Speisekammer finden, die deinen Hunger stillt!“ Seerobbe schlurfte kreischend zur Tür hinaus, um im nächsten Moment auf der höchsten Welle des Meeres zu tanzen und den an Land Zurückgebliebenen zuzubellen. Ganz besonders frech empfand ihn Anja, wenn sich Seerobbe nach einem Raubzug in ihrer Speisekammer auch noch in ihr oder Toms Bett kuschelte, friedlich seinen fischigen Atem ausstieß und mit Flossen, die wie zum Gebet gekreuzt auf der Brust lagen, seinen Verdauungsschlaf abhielt. Doch niemand mochte ihn aus seinen ruhevollen Schlaf reißen, denn Anja fragt sich, ob nicht die Seele eines Kindes irregegangen war in dem Körper der Robbe.
Doch der Ruf des Meeres wurde immer lauter in Seerobbe, so dass er oft weite Streifzüge in die Gärten seiner Väter unternahm und dort Bilderbücher von für Menschen fremden Bildern mit seinen Augen las. Tom stand dann einsam am Strand und wenn er seinen Freund wieder auftauchen sah, lächelte er die kleine Sonne heraus, die auf dem Grunde seines Blickes verborgen lag. Ein Gestirn, das ein solch kraftvolles, warmes Licht aussendet, ließ Seerobbe sein elternloses Dasein vergessen und nass legte er seinen runden Kopf in Toms Schoß, um dem Widerhall der uralten, in seiner Seele schlafenden Welt zu entschlummern.
Der Sommer schritt seinem Höhepunkt entgegen und ließ die Winde andere Länder erkunden. Dumpf und drückend stand Hitze über Land und Meer. Ein heißer Tag schürte die Vorahnung einer heißen Nacht und ließ die Aussicht, selbst in der kühlenden Seide der Betten nicht schlafen zu können, ein Verlangen nach kühlender Brise aufkommen. Schwere, heiße Luft senkte sich auf das bleierne Meer und ließ die Wellen nur noch träge an den Strand gleiten. Anja baute ihnen an einem frühen Vormittag, als die Sonne noch etwas mildere Strahlen an den Strand schickte, die Strandmuschel auf. Zusätzlich rammte sie vier dicke, lange Holzstangen in den Sand, gemeinsam hievten ein ausgedientes Gartenzaunpaneel als Dach oben auf, vernagelten es mit langen Stahlnägeln und nagelten dort, wo die Stabilität es bedurfte, Latten an das Gerüst. So entstand ein herrliches, kleines Heim, in das Tom und Seerobbe sogleich einzogen. Sie legten Kuscheldecken, Kopfkissen, Bettdecken, eine Kiste mit einigen Anziehsachen und Dingen, die kleine Jungen immer dabei haben müssen in diese gemütliche Behausung hinein. Badehandtücher, Getränke, eine Schale mit Blaubeerpfannkuchen, Zwieback und eine Dose mit Makrelenfilets wanderten ebenfalls in die Kiste hinein. In die Gartenzaunpaneeldecke bohrten sie Haken, an denen sie von Seerobbe gefangene Fische zum Trocknen aufhängten und in Netze eingewickelte Strandfunde und Basteleien.
Am Tage tollten sie am Strand herum, doch Tom fiel in seinen Übermut auf einen spitzen Stein und schlug sich das Knie auf. Weinend lag er da und hielt nach seinem Freund, nach dessen Trost ihm verlangte, Ausschau. Klatschnass kam Seerobbe pfeifend angerobbt und legt ihm ein aus den Heilgärten des Meeres empor getauchtes Algenblatt auf die Wunde. Er nahm den schluchzenden, zuckenden Kinderkörper in seine kalten, nassen Flossen. Die Kühle des Meeres durchdrang Toms Körper, als Seerobbe ihn fester an sich zog. Es war, als lägen zwei Liebende eng umschlungen am Strand. In ihren Augen lasen sie, dass sie in Einklang lebten und der stechende Schmerz in Toms Knie wurde nur durch das liebkosende Lecken der Seerobbe wieder geweckt.

So verbrachten sie Tage und Nächte am Strand und in der Strandmuschel. In den Nächten, in denen keine erfrischende Brise sie in ihrer Strandmuschel erreichte, zogen sie ihre Decken hinaus bis direkt an den Ufersaum, so dass voreilige Wellen sie an den Zehen kitzelten. Wenn sie so nebeneinander lagen war es, als seien Mensch und Tier eins. „Stammen nicht die Tiere und die Menschen von ursprünglich von einem Stamm ab?“ sagt Anja. „Sind wir nicht von demselben Schöpfer geschaffen worden?“
Tom erzählte Seerobbe Geschichten über die Menschen und ihr Leben aus der Stadt, die Seerobbe jedoch nicht verstand, weil er noch nie eine Stadt gesehen hat und sich gar nicht vorstellen kann, wie Menschen, die sich nicht grüßen, in hohen Häusern übereinander wohnen können. Seerobbe kannte auch nicht die vielen Spielzeuge der Kinder, denn außer dem Plastikeimer, eine Seesternform und zwei Schaufeln hatte Tom nichts an den Strand mitgebracht. Sie spielen mit dem, was die Natur und das Meer ihnen gibt, sammeln und verändern diese Dinge, dass sie eine andere Bedeutung annehmen. So kann aus einer Miesmuschel und einer Feder mit ein wenig Strandhafer eine wunderschöne Tänzerin werden, ein angeschwemmtes Stück Treibholz hingegen verwandelt sich mit ausgetrocknetem, grauem Seetang in einen mürrischen Wolf. Leergefutterte Fischdosen werden am Strand aufgereiht und mit Flossen, Steinen oder Holzstücken geschlagen, zu dieser herrlich lauten Trommelbatterie gesellen sich Seerobbes heiseres Bellen und Heulen, lauter entstellter Gesang von Tom bis das erschrockene Kreischen der Seemöwen das seltsame Orchester verstärkte. Aus Muscheln bauten sie Berge, aus Steinen Burgen aus Treibholz Betten und aus Seetang buken sie Brot.
Seerobbes Geschichten waren auch fremd für Tom. Sie sprachen von uralten Welten, die Seerobbe in seinem kurzen, wilden Leben als Heuler gestreift hat. Manchmal kam Anja in ihr Lager. Sie brachte frischen Pflaumenkuchen und Apfelsaft mit und erzählte ihnen von der Schönheit der irdischen Gärten. Diese Sprache verstand Seerobbe und Anjas blumige Erzählungen über die Vielfalt der Blüten, Früchte und Düfte ließ ein hoffnungsvolles Lied in sein Herz einfallen und aufgeregt stieß er pfeifend seinen Atem durch die Nasenlöcher. Aber es gab auch andere Geschichten, die weder Tom noch Seerobbe mochten, denn sie handelten vom Herbst und vom Winter, diesen Gesellen, die sich unnachgiebig ihrer kleinen Welt nähern und dem Sommer einen ferneren Platz auf dieser Erde zuweisen sollten. Diese Voraussagungen ließen in ihren Gemütern einen dunklen Himmel sich bis auf ihr Haupt herabsenken. Sie hörten dann einfach nicht mehr zu, sprangen auf und liefen davon. Seerobbe stürzte sich in die Fluten und grub mit seiner Schnauze in den Gemüsegärten des Meeres. Anja seufzte dann und fragte sich, ob Seerobbe bleiben wird, bis der Tod ihn befreit von seiner sterblichen Hülle und von den unerfüllten Wünschen, wie sie in all jenen leben, die nicht wissen, zu welcher Welt sie gehören.
Eines Abends brauten sich Wolken am Himmel zusammen. In weiter Ferne, draußen am Horizont, drohte bläulich schwarz der Himmel ein Gewitter an. Schon peitschten stürmische Böen über das Meer, ließen kleine Schaumkronen entstehen und kühlten die vom Spielen erhitzten Gesichter. Seerobbe hatte, weit bevor die Menschen Veränderungen wahrnehmen, bei seinen Tauchgängen die Unruhe auf dem Meeresboden, die dem Sturm vorausgeht, gespürt. Unruhig rutschte Seerobbe dicht an Tom heran, der erfüllt von der aufbrechenden Macht der Natur dem Spektakel von seiner Strandmuschel aus zusah. Dröhnendes Donnern zog durch ihre Welt, näherte sich und sandte Blitze als Vorboten gewaltiger Entladungen über das Meer. Der Himmel setzte sich in Bewegung, dunkle Wolkenwände fielen in großen, schwarzen Fetzen nieder, verschluckten alles Licht und spieen es hinter sich schwefelgelb über giftgrün bis polareisblau wieder aus. Das Gewitter zog heran und erreichte die Freunde, die noch enger zusammenrückten, nun aber, um sich zu schützen und zu wärmen. Der Strandhafer bog sich gewaltsam im Wind, als müsse er den heißen Sand küssen. Ein Feuerwerk von Blitzen ging vor ihnen über dem Ozean herab, das ihnen sogleich folgende Donnern bebte in ihren kleinen, furchtsamen Körpern. Anja kämpfte sich unter einer großen Plastikplane gegen den Sturm durch die plötzlich aufbrausende Regenwand, die sie nun einschloss, wie Eisenstäbe die Zootiere. „Tom! Seerobbe!“ rief Anja aus und suchte pitschenass Unterschlupf in der Strandmuschel. „Wollt ihr nicht ins Haus kommen?“ „Nein, hier ist es gerade so gemütlich geworden, wo du gekommen bist“, rief Tom aus und er und die Robbe nahmen Anja in ihre Mitte und schmiegten sich so eng an sie, als wenn sie mit ihr verschmelzen wollten. So zusammengeschmiedet wie ein einziger Körper mit einer einzigen Seele, saßen sie und schauten fasziniert dem Naturereignis zu, welches ihnen spürbar machte, dass es über ihre eigene kleine individuelle Welt hinaus Kräfte gibt, die ihr Leben lenkt und beherrscht. Die Macht des Gewitters öffnete ihnen eine Tür in eine irreale, andere Dimension, in der sie entrückt auf einem federleichten Wolkenhügel saßen und sehnsüchtigen Stimmen in ihrem Inneren lauschten. Der Wind hoch oben im Himmel trieb die lauten Donnerschläge und die herabstürzenden Wassermassen weiter. Plötzlich riss der giftfarbene Himmel auf und das blutfarbene Licht der untergehenden Sonne eroberte sich den regennassen Strand zurück. Während eine wurstartige Gewitterwolke in aller Farbenpracht eines ausklingenden Sommertages am Meer über den Himmel rollte, um sich in der Dunkelheit zu verflüchtigen, schliefen Tom und Seerobbe erschöpft in Anjas Armen ein. Seerobbe hat das erste Gewitter seines Lebens erlebt, in dem er sicher in dem Armen einer Mutter lag, die ihm die Liebe schenkte, die sich so zärtlich und weich wie Meeresschaum an den Lippen anfühlte und doch so fest war wie die Schale der Austernmuschel.

Es kamen immer häufiger Gewitter. Sie saßen dann immer in Ihrer Strandmuschel und sahen den Wolken- und Lichtschauspielen zu, lauschten den hämmernden Melodien des Regens auf dem Zeltnylon, bis diese sich in komplette Sinfonien verwandelten.
Wenn die Wolken fortzogen, Strand und Meer Frieden fanden und das gewohnte Rollen der Brandung wieder in ihre Ohren drang, saßen sie mit ruhig pochenden Herzschlägen wie die Kinder und staunten über das großartige Tun der Schöpfung.
Seerobbe war meistens der erste, der die Strandmuschel verließ, durch den nassen Sand holperte und in den Kuhlen seiner Flossenabdrücke trockenen Sand zum Vorschein brachte. Tom wartete grinsend ein Weilchen ab, bis er die Verfolgung aufnahm und mit seinen langen, dünnen, braun gebrannten Kinderbeinen hinterherlief, bis er Seerobbe eingeholt hatte, seinen runden Körper packte und beide laut prustend in dem feuchten Sand herumrollten. Weiters Wettlaufen, Fangen und Kitzeln brachte sie außer Atem und zum Schwitzen, so dass sie schließlich ermattet in die kühlen Wogen glitten, um sich in der sanften Dünung schaukeln zu lassen.
Anja sah am Strand zwei lange Spuren von zwei vollkommen unterschiedlichen Kindern im Sand, von denen eines hell lachte und eines dumpf bellte und zwei runde Köpfe, die im Rhythmus der Wellen auf und nieder tanzten, einer blond, einer grau. Sie lächelte ein Lächeln, das die Wärme ihres Herzens nach außen kehrte und diamantene Tränen des Glücks aus ihren Augen drückte.

Immer häufiger waren die Morgen Nebelverhangen und das Meer brachte kühle Winde aus dem Norden, in dem bereits der Polarwinter einzusetzen begann, mit sich. Anja trug dickere Decken, lange Hosen und Pullover zur Strandmuschel und ermahnte Tom schließlich, nicht mehr so lange mit der Robbe im bereits abgekühlten Meer zu baden.
„Morgen habe ich Geburtstag“, rief Tom aus. „Wir feiern. Es kommen Gäste. Ich habe sechs Kinder aus der Umgebung eingeladen, denn ich werde sechs Jahre alt.“ Seerobbe war ganz aufgeregt. Er wusste, immer wenn Gäste kamen, gab es gutes Essen und Anja machte immer einen Fischsalat, den er auch essen durfte. Außerdem ging es immer lustig zu, die Gäste freuten sich, Seerobbe zu sehen und lachten über seine heiseres Heulen und seinen plumpen Gang. Selbst wenn er gerade aus dem Meer kam und vor den Gästen laut in seine Flossen klatschte und sich schüttelte, dass die Wassertropfen nur so aus ihm heraus auf die Besucher flogen, zeigten sich die Menschen, die ihn längst in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gestellt hatten, amüsiert.
In der Hütte begann Anja hektisches Treiben, denn sie bereitete den Geburtstag vor. Dosen und Schüssel wurden herausgesucht, Kindergeschirr, Tüten und Schachteln mit leckerem Inhalt wurden aus Schränken und Einkaufsbeuteln gezerrt, bunte Päckchen heimlich durch die Räume getragen und wieder versteckt.
Am nächsten Morgen zog raue Luft in die Strandmuschel und Tom stellte fest, dass er fror. Anja kam mit heißem Kakao und frisch gebackenen Brötchen und sang zärtlich liebkosend ein Geburtstagslied. Seerobbe schlug vor Aufregung mit seiner Schwanzflosse und stimmte heulend ein Lied an, dass so schauerlich in den Ohren schmerzte, dass Anjas Gesang verstummte und Tom einen Lachanfall bekam. Selbst die Möwen antworteten nicht. Unter ihrem Pullover zog Anja ein bunt verpacktes Paket hervor. „Das ist dein Geburtstagsgeschenk von mir. Damit kannst du im Winter, wenn die Nacht schon am frühen Nachmittag unsere Häuser berührt, fein vor dem Kamin spielen. Tom wickelte eine Spielzeugeisenbahn mit Dampflok, Tender und Personenwaggon, Schienen einigen kleine Bäumchen zum Formen der Landschaft sowie einen Miniaturbahnhof aus. Jubelnd sprang er in die Luft und rief „Seerobbe! Guck ´mal: Mama hat mir eine Eisenbahn geschenkt!“ Seerobbe freute sich, weil sich der Freund so sehr freute, doch einen Sinn sah er nicht in diesen bunten Teilen Der Herbst schickte mit diesem Geschenk seinen Vorboten.
So saßen sie in ihrer Strandmuschel und sahen wie die Sonne hervor kroch um wieder einmal das Land und das Meer farbig zu gestalten. Möwen segelten ruhevoll am Himmel, stießen dann und wann einen sehnsuchtsvollen Schrei aus und verschwanden aus dem Blickfeld derer, die am Strand in die Ferne schauten. Frieden sang sanft in ihren Seelen und sie kuschelten sich zu dritt aneinander, um sehnsüchtig diesen Moment der Glückseligkeit zu spüren.
Am Nachmittag kamen die Gäste. Kinder tollten durch die Hütte an den Strand, ergriffen Besitz von der Strandmuschel und stopften leckeren Zitronenkuchen und Schaumküsse in sich hinein. Alle Kinder brachten bunte Geschenke für Tom mit, die er sogleich entzückt Seerobbe zeigt. Seerobbe kreischte vor Vergnügen, doch schielte er immer nach dem leckeren Fischsalat und den herrlich duftenden Heringshappen, die jedoch bis zum Abendessen noch von ihm fern gehalten wurden und Anja haute ihm mehr als einmal auf die Flossen, um ihn vom Naschen abzuhalten.
Anjas lustige Gewinnsspiele, wie Eierlaufen und Sackhüpfen am Strand, um die Wette Muschelschalen zerhauen, Steinweitwurf und Zeitungspapiertanzen unterhielten und erfreuten die erwartungsvolle muntere Geburtstagsgesellschaft. Die Kinder wollten aber auch mit Seerobbe spielen, er sollte tanzen und sein putziges pfeifendes Einatmen machen. Sie zogen ihn an den Barthaaren und er stupste sie mit seinem runden Kopf in die dicken Bäuche. Schließlich wurde es ihm zu toll und er robbte zum Meer, um in den dessen Tiefen zu verschwinden. Er wollte Tom auch eine Freude machen und suchte die Meeresgärten nach einem geeigneten Geschenk für seinen Freund ab. Er fand traumfarbene Fische, die über orangefarbene Anemonen, die in der sanften Unterwasserströmung schwerelos ihre Tentakeln öffneten und wiegten, dahin glitten. Seegras schwang von vorn nach hinten, ein purpurfarbener Seestern überfiel gerade eine durchsichtige Garnele und ein mit einer sandfarbenen Wellhornschnecke bepanzerter Einsiedlerkrebs lief eilig am Meeresboden entlang. Blassgelbe Siphonen von Herzmuscheln ragten aus dem Sand und filterten das Wasser nach Nahrung, eine Venusmuschel hatte ihren Halt verloren und schwebte auf der Suche nach einem neuen Halt durch das Wasser, ein kleiner Fischschwarm streifte Seerobbes Bahn, während weiter draußen an einem unterseeischen Felsen die grauschwarzen Seeigel lautstark mit ihren Kiefern die weißen Seepocken abraspelten. Er fand einen prachtvoll gewachsenen sandfarbenen Seetangarm, der ein wunderschönes Geschenk sein könnte, doch am Land würde diese Schönheit blass und welk aussehen und von niemanden beachtet werden. In seinem Herzen drang Schweres ein, dass an ihm nagte und ihn zerfraß, denn die Menschen sehen nicht die Juwelen des Meeres, die den Robben auf ihren Streifzügen Gefallen bereiten. Er fand kein passendes Geschenk für einen Menschenjungen und blieb lange draußen, im Meer, ließ sich treiben, prustete Wasser aus und jagte nach fetten Makrelen, die er gierig in sich hineinschlang. In der sanften Dünung dümpelte er dösend dahin, bis die hereinbrechende Finsternis ihm Schrecken einjagte und er der über das Meer herabfallenden Decke der dunklen Nacht entfloh.
Es war ein Feuer am Strand, direkt vor der Strandmuschel. Tom und Anja saßen in dicke Pullover gekleidet und brieten die restlichen Heringe und Würstchen der Geburtstagsfeier über dem Feuer. Die glücklichen Kinder waren von ihren zufriedenen Müttern und Vätern abgeholt worden und nahmen die Erinnerung an einen traumhaft schönen Kindergeburtstag an einem goldenen Strand mit. Anja sah den sich dunkel, doch dennoch deutlich von den zerfließenden, silbrig schillernden Formen der Wellen abzeichnenden Kopf der Seerobbe zuerst. Sie holte den gebratenen Hering aus dem Feuer, um ihn abzukühlen. „Komm, Seerobbe“, rief sie dann in das Dunkel hinein, da die Robbe inzwischen am Strand im Dunkeln reglos verharrte. „Komm, der Tisch ist auch für dich gedeckt und deinen Platz haben wir freigehalten.“ Nass und schnüffelnd schlurfte Seerobbe an das heimelige Feuer, blickte in feuchte Kinderaugen, die geweint hatten und ließ sich lautlos von einem heißen Kinderkörper in den Arm nehmen. „Das schönste Geschenk bist du!“ schluchzte Tom.
Dies war die letzte Nacht, die sie unter einem Mond, dessen Umrisse so scharf wie Wolfzähne waren, in der Strandmuschel verbrachten. Während hoch im Norden der Himmel schon schwanger ging mit Tausenden Schneeflocken, entriss eine schaurig kühle Böe die Schlafenden aus ihren Traumländern. Tom zog in die Hütte zurück, dessen Tür nach wie vor lose hin und her schwang, um Seerobbe beständig Ein- und Auslass zu gewähren.
Der Herbstwind kam und grub er tiefe Löcher in die See, als wollte er schauen, was auf dem Grund verborgen sei. „Der Sommer hat sich von diesem Jahr verabschiedet und geht in südlichere Länder. Es ist an der Zeit für uns, die Hütte zu verlassen und in unsere Stadt zurückzukehren“, entschied Anja und packte nach und nach die Sachen weg, die sie nicht mehr benötigten, andere wiederum packte sie in einige Taschen und Koffer. Tom legte die Schätze des Strandes in verschiedene Schachteln: Miesmuscheln, Herzmuscheln, Sandkliffmuscheln, Seeschnecken, Seeigelgehäuse, einen getrockneten Seestern und sogar einen toten Krebs konnte er sauber ausgetrocknet verpacken. Zu Hause würde er die Schachteln bunt verzieren und sie dann seinen Onkels und Tanten zeigen und die ein oder andere gar verschenken. Dazu kamen die selbst hergestellten Traumwesen aus Seetang, Möwenfedern, Gehäusen, Treibgut, Muscheln und Steinen.
In Seerobbe wuchs indes ein unstillbarer Durst, denn nun vernahm er die heiseren Stimmen, die ihn in eine ferne Heimat riefen. Er schlurfte immer häufiger an das Fenster der Hütte, blickte mit blanken Kulleraugen hinaus auf die wogende See. „Ich habe noch nicht alles in dir entdeckt“, schien Seerobbe dem Meer zu sagen. „Du hast ein Geheimnis, das du noch nicht preisgegeben hast. Ich werde bald hinaustauchen, um es zu erfahren.“
Tom ging schon lange nicht mehr mit Seerobbe schwimmen. Das Wasser war dem kleinen Kinderkörper zu kalt geworden. Schon längst hatte die Sonne beschlossen, sich zur Ruhe zu begeben und nicht ihre gesamte Kraft für die Erwärmung des Wassers und der Luft zu spenden. Die letzten Sommerblumen schliefen mit hängenden Köpfen ein und blinzelten nur noch, wenn die Sonne ihnen kurz und warm über den Kopf strich. Nebelschwaden eroberten die Morgen und drückten die Wellen nieder. Feuchtigkeit kroch auch am Tage in das Strandmuschellager, Decken schützten nicht mehr vor der klammen Umarmung des Herbstes. So beschloss Anja: „Morgen packe ich, und dann ziehen wir zurück in die Stadt. Seerobbe darf, wenn er möchte, mitkommen. Doch Fisch gibt es dort nur in Fischgeschäften oder in der Dose, das Meer jedoch ist weit, und wenn es im Traum ruft, wird es dennoch weit entfernt sein.“ In der folgenden Nacht schlummerte Tom selig in seinen Federkissen in der Hütte. Neben ihm prasselte der Kamin und weil er Seerobbe dort wusste, lächelte er im Schlaf. Doch Seerobbe wälzte sich wie von schweren Zerwürfnissen geplagt und als mochte er nicht an seinen menschlichen Freund, den er so lieb hatte, denken. Als Tom in einem Moment der Unruhe erwachte, war Seerobbe fort. Schlafwandlerisch ging Tom durch die leicht schaukelnde Tür in den kalten Morgen hinaus. Die nördlichen Polarwinde hatten über Nacht das Land erreicht, wirbelten Sand vom Strand auf und rissen nervös an dem Strandhafer, als wenn sie ihm sein schlafendes Dasein missgönnten. Tom griff sich einen Pullover und zog ihn sich eng um den schläfrigen Körper, während er seine Schritte zum Meer lenkte. „Seerobbe! Seerobbe!“ rief er mit dünner Stimme, die der Wind sogleich mitnahm, aus. Seine Rufe waren verzweifelt und heiser, erstickt. Er wusste, der Freund wurde als ein Kind der Wildnis geboren und flieht, weil er alles was er und Anja ihm über die Stadt erzählt hatten, in ihm kein Wohlgefallen ausgelöst hat. Die Kräfte in seiner tierischen Seele wirkten in ihm und so, wie Anja es voraus gesagt hatte, riefen die Stimmen in ihm nach ihm. Wo und wer sind seine Eltern: Leben sie noch? Hat er Brüder, hat er Schwestern? Tom war verzweifelt. Er hatte Seerobbe gefunden und das reichte ihm, doch, reichte er Seerobbe? Wohin, in welche Welt wollte sein Freund? „Seerobbe!“ Der Ruf verlor sich in den fauchenden Winden, die stets mehr hören, als der einzelne Mensch sich vorstellen kann. Doch der Wind antwortet nie. Er zieht einfach weiter und kehrt nicht wieder um. Er trägt nicht alle gesprochenen Worte an interessierte Ohren, denn er ist stets in Eile und ohnehin nicht interessiert an Lauten, die ihn begleiten. Tom erinnerte sich plötzlich an das alte Ruderboot, das Anja und er letzten Sommer in das Holunderbuschgestrüpp hinter dem Strand gezogen haben. Sie fanden es herrenlos am Strand, angetrieben von einem Frühjahrssturm, und lagerten es im Verborgenen, um es im Jahr darauf mit Farbe zu versehen und wieder zu Wasser zu lassen. Doch das Wissen um das Boot ging verloren und so schlummerte es vergessen, dennoch auf seine Aufgabe wartend, im Dickicht. Tom stolperte durch den Sand dorthin, zerrte es hervor und zog es keuchend an das Ufer, wo die Wellen bereits gierig an den Strand leckten. Er stemmte sich gegen den Widerstand der sich ihm entgegenstellenden Meereskräfte und zog es schließlich in das Wasser hinein. Er sprang mit schon nassen Beinkleidern in das schwankende Boot hinein und rufend ruderte er auf das offene Meer hinaus. „Seerobbe!“ Die Wellen ließen das kleine Boot tanzen, seine Ruder ins Leere schlagen. Dunkle Wolken zogen drohend am fahlen Himmel auf und kündigten Unwetter an. „Seerobbe! Seerobbe!“ Wieder und wieder gellte Toms Ruf und wurde von dem Wind fort getragen. Die Wellen spielten mit dem Bötchen und während Toms Augen verzweifelt in jedes Wellental hinein spähten, gingen die Ruder verloren. Salzige Tränen bahnten sich ihren Weg aus den sonst so lustigen Kinderaugen, liefen über ein heißes, sorgenvolles Gesicht, um letztendlich in die Weiten der tosenden Umgebung fort getragen zu werden. Die Wellen trugen nun Schaumkronen, gepeitscht von noch wilderen Winden und wüsteren Wogen leckten sie in das Boot hinein. Tom stand bereits von der Gischt durchnässt im Wasser, während seine Rufe über das Meer abermals und abermals von den Winden verschluckt wurden. Die rasenden Wellen gierten nach seinem Boot, umklammerten es mit starrem und festem Griff, bis sie endlich den Kampf gewannen und ihr Opfer bekamen. Seufzend und klagend versank das Boot in den Wogen und entließ Tom, dessen Schwimmkünste ihm bald untreu wurden. Gurgelnd tauchte er in die tiefe, geheimnisvolle Welt ein, die seinen Freund verführt hat. Unter den ermüdenden Liebkosungen der Wogen sank er tiefer und tiefer in die sich wogenden Garten des Meeres, bis ein runder Kopf und ein fester Körper ihn aufhob und an das sichere Land trug. Dort wartete Anja, hüllte Tom in eine dicke Decke und trug ihn in die von einem Kaminfeuer in Gemütlichkeit und Wärme getauchte Hütte. Seerobbe robbte schlurfend und platschend hinterher und ließ sich prustend neben Tom vor dem Kaminfeuer fallen.

Die Taschen und Koffer waren bereits fertig gepackt und warteten auf den Morgen, der alle Sachen und die Erinnerungen an diesen Sommer am Meer in die Stadt und den Winter fortbringen würde. Während dessen ruhten Tom und Seerobbe schweigend neben dem Feuer, dicht aneinander geschmiegt. Sie wussten, dass von nun an sie nichts mehr voneinander trennen könnte.

 

Hallo mielmunker und herzlich Willkommen! :)


Du erzählst diese besondere Freundschaft recht poetisch und auch etwas abgehoben (Dialoge, vor allem von Antje). Für Kinder halte ich Deine Geschichte aus dem Grund für nur sehr eingeschränkt tauglich - der Stil ist auf Erwachsene oder zumindest Jugendliche ausgelegt, nicht auf Kinder. Oder für welches Alter hattest Du die Geschichte gedacht?
Insgesamt recht flüssig und angenehm zu lesen. An einigen Stellen hättest Du den Spannungsbogen etwas straffen können - bestes Beispiel ist der Schluss, als der Junge fast im Meer ertrinkt.

Inhaltlich und erzählerisch hat mir der Text eigentlich gut gefallen - nur glaube ich, solltest Du Dir eine andere Rubrik suchen.

schöne Grüße
Anne

 

Hi mielmunker :)

Wow das ist ja mal ein ganz anderer Stil :)
Dieses poetische, abgehobene das auch Maus schon empfand finde ich sehr schön - allerdings weis ich nicht ob es sich denn für Kinder eignet. Oft sind die Sätze doch sehr lang und voller peotischer Bilder - teilweise sehr überladen - was aber den Stil der Story ausmacht und deswegen passt.
Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen - allerdings hast Du doch einen kleinen Stilbruch drinnen:

Schwupps! Er sprang mit schon nassen Beinkleidern in das schwankende Boot hinein und rufend ruderte er auf das offene Meer hinaus. "Seerobbe! ...

Dieses "Schwupps!" ist doch eher Comicstil im Gegensatz zur restlichen Story. Bei jeder anderen Geschichte hätte mich "Beinkleider" gestört da es sehr altertümlich ist - aber hier passt es - wobei sich da wieder die Frage stellt: In wie weit kennen Kinder das Wort?

Vielleicht wäre die Geschichte wegen dem Stil doch eher in "Alltag" besser aufgehoben :)

 

Hallo Maus, hallo Jadzia,

danke für die allerersten öffentlichen Kommentare meines Erstlingswerkes. Ich teile Eure Einschätzung hinsichtlich der überladenen Sprache. Das ist im großen und ganzen so gewollt, kann aber sicherlich etwas knapper ausfallen. Über die Frage, in welche Rubrik ich die Geschichte einstellen soll, habe ich einige Zeit nachgegrübelt. Ich habe sie für mein Kind geschrieben, insofern sind viele tatsächliche Begebenheiten aus unserem Leben darin. Beim Vorlesen merkte ich, dass es sich nicht um eine Kindergeschichte im eigentlichen Sinne handelt. Hmm. Vielleicht verschiebe ich sie noch, wenn mir das technisch gelingt. "Alltag" würde doch besser passen. Das "Schwupps!" war lustig gemeint, passt aber gar nicht! Ich entferne es.
Komme bisher nur noch nicht mit dem Programm klar. Daher auch die späte Antwort.
Viele Grüße

mielmunker

 

Verschieben kannst du nicht, dafür musst du einem Moderator Bescheid sagen. In dieser Rubrik somit Maus oder mir. Du kannst uns einfach eine PN schreiben und wir machen das dann für dich. Oder hier rein - wie du möchtest.

 

Hallo Kitana,

ja, wenn die Geschichte in Àlltag´besser aufgehoben ist, dann kann sie gerne dorthin verschoben werden. Danke schön!

Gruß, Anja

 

Hallo groper,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Wie schon erwähnt, liegen dieser Geschichte Eigenarten meiner Familie zu Grunde. Wir beseelen unsere (Stoff-) Tiere. Um eine Fabel handelt es sich hier nicht. Sprachlich das Werk einer Amateurin. Vorbild die mündlichen Überlieferungen aussterbender nordischer Völker und noramerikanischer Ureinwohner. Für sie sind Tiere Kamerad, Namensgeber und Lebensgrundlage. In Ihren Geschichte spielen Tiere als ein wesentlicher Teil Iher Welt eine große Rolle. So ist es auch für meinen Sohn, dem ich diesen Text zu seinem Geburtstag geschrieben habe. Eine kleine Erfüllung, ein Experiment. Die nächste Geschicht ist in Arbeit, bedarf noch einiger Recherche und Zeit - ohne Tiere.

Lieben Gruß

mielmunker :)

 

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