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Segel setzen

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17.08.2016
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Segel setzen

Er stand in der Tür zu seinem Büro und sog mit geschlossenen Augen den Geruch ein. Bohnerwachs, altes Papier und die unverwechselbare Würze von kaltem Zigarrenrauch. Natürlich durfte man hier schon lange nicht mehr rauchen, aber der Geruch war noch da. So viele Jahre hatte ihn dieses Aroma begleitet, ihn eingehüllt, war ihm so etwas wie Heimat gewesen. Mit bedächtigen Schritten ging er hinüber zu dem deckenhohen Schrank. Hinter Glas reihten sich die in Leder eingeschlagenen Bücher auf, abgegriffen vom jahrzehntelangen Gebrauch. Er stand davor, die Hände hinter dem Rücken, ließ seinen Blick über die Buchrücken gleiten, wie ein Museumsbesucher über ein wertvolles Gemälde. An einigen der Ausgaben hatte er mitgeschrieben, natürlich alles Standardwerke seiner Fachrichtung. Und da drüben am Fenster der wuchtige Schreibtisch aus dunklem Holz. Vor fünf oder sechs Jahren hatte er sich dem Druck der modernen Zeit ergeben müssen, seitdem störte ein hässlicher Monitor die makellose Ästhetik von Papier auf Holz. In Anbetracht der Tatsache, dass er den Computer ziemlich selten benutzt hatte, ein umso größerer Jammer. Den Monitor würde er als erstes entfernen, dachte er mit entschlossenem Blick. Sicher, er wäre nicht mehr so häufig hier, aber immerhin musste er das alles nicht ganz aufgeben. Da hatte er in dem Gespräch mit dem Dekan entsprechend Druck gemacht. Er legte eine Hand auf das kühle Holz des Tischs und atmete tief ein.
»Professor Weinherr, da sind Sie.«
Veith Hombergs Stimme zerstörte den andächtigen Moment. Weinherr wandte sich vom trüben Novemberwetter hinter den alten Doppelfenstern ab und bedachte Homberg mit einem kurzen Nicken. Der Mann hatte ein Talent für ungünstige Momente.
»Professor Homberg«, sagte er knapp.
Homberg lehnte lässig im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, den typischen spöttischen Ausdruck um die Mundwinkel. Nicht einmal an diesem Tag hielt es sein Nachfolger für angebracht, sich eine Krawatte umzubinden.
»Da kommen viele Erinnerungen hoch – kann ich mir vorstellen.« Homberg machte eine vage Handbewegung. »Waren ja auch nicht wenig Jahre.«
»Fünfunddreißig«, sagte Weinherr.
»Fünfunddreißig? Ich hatte irgendwas mit zwanzig im Kopf.« Homberg pfiff leise durch die Zähne. »Fünfunddreißig. Alle Achtung! Umso mehr werden Sie eine Lücke hinterlassen, die nur schwer, also die ... na, Sie wissen schon.« Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam mit beschwingtem Gang auf Weinherr zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Weinherr versteifte sich unter der Berührung. »Da freuen Sie sich jetzt sicher auf den Ruhestand. Wieder mehr an sich denken. Ihre Frau. Hobbys. Professor ... ich meine, Friedrich, das haben Sie sich wirklich verdient.« Das Pathos in Hombergs Stimme war unerträglich.
»Danke«, sagte Weinherr, einfach, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Dann wollen wir mal.« Veith Homberg löste den unangemessen kumpelhaften Griff und war schon wieder an der Tür. »Die warten schon alle. Auf Sie. Ist doch Ihr großer Tag.« Damit ließ er ihn stehen. Weinherr warf noch einen Blick auf die Bücherreihen. Sein Seufzer war fast lautlos.

Die Emeritierungsfeier fand im alten Hörsaal des Zoologischen Instituts statt. Steil nach oben führende Sitzreihen mit harten Holzbänken. Unten, wie in einer Arena, der klobige Holztisch, blank poliert von hunderten von Vorlesungsblättern und feuchten Handflächen. Dahinter die riesige dreiteilige Tafel. Mit großen, schwungvollen Buchstaben hatte jemand geschrieben: »Emeritierung von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich Weinherr«. Und tatsächlich, sie waren zahlreich gekommen. Fast der gesamte Professorenstand der Fakultät sowie viele Kollegen anderer Fachrichtungen. In den Sitzreihen erkannte er außerdem einige seiner ehemaligen Doktoranden, mittlerweile auch alle fast fünfzig. Und Wissenschaftler des Instituts, junge Leute in Jeans und zerknitterten Hemden, die ihn entweder freundlich musterten oder teilnahmslos in Richtung der mit zoologischen Motiven verglasten Fenster starrten. Nur der Dekan fehlte. Natürlich.
Veith Homberg stand vor der Tafel und blickte wohlwollend in die Runde, offensichtlich vollkommen mit sich im Reinen. Nicht verwunderlich, ab morgen würde er offiziell Institutsleiter sein.
In der ersten Reihe saß Weinherrs Frau Agathe, der schmale Körper wirkte verloren zwischen der unverhohlen zur Schau getragenen Autorität der versammelten Professorenschaft. Sie trug ein dezentes cremefarbenes Kostüm, ihre immer noch dichten schwarzen Haare waren in einer Art hochgesteckt, die ihrem Alter eigentlich nicht angemessen war. Aber Friedrich ignorierte großzügig diesen – seiner Meinung nach – Fauxpas und schenkte ihr ein Lächeln, das sie strahlend erwiderte.
Dann schüttelte er hier und da Hände, nahm gemurmelte Glückwünsche entgegen, bis Homberg sich hinter ihm laut räusperte, wieder zu seinem Schultergriff ansetzte und in theatralischem Tonfall sagte: »Professor Weinherr. Es ist mir eine ausgesprochene Ehre, diesen besonderen Tag mit Ihnen feiern zu dürfen. Bitte setzen Sie sich doch!«
Er deutete auf einen gepolsterten Stuhl, ging dann zurück auf seine Position, entnahm seinem Sakko ein zusammengefaltetes Blatt Papier und räusperte sich erneut. Nach einem bedeutungsschweren Moment des Schweigens schaute er auf und setzte zu seiner Rede an.
»Lieber Professor Weinherr, liebe Frau Weinherr. Verehrte Kollegen Professoren. Liebe Wissenschaftler und Gäste. Die Lebensleistung unseres ehrenwerten Kollegen, der sich heute in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, muss ich wohl kaum näher beschreiben. Sie alle kennen Ihn, die meisten viel besser als ich. Ich werde es trotzdem tun, denn an solch einem Tag blickt man auch – ja, vielleicht sogar größtenteils – zurück.“
Weinherr hörte nicht mehr zu. Diese Genugtuung wollte er Homberg nicht gönnen. Der nutzte diese Veranstaltung doch vor allem für eines: zur Selbstdarstellung. War ja nichts Neues. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, fühlte Agathes sanften Händedruck. Dieser joviale Blick in Hombergs Gesicht. Unerträglich! Jetzt wandte er sich ihm mit demütigem Ausdruck zu: „... der größte Ansporn und zugleich die größte Herausforderung, wenn ich ab morgen als Institutsleiter versuchen werde, in die übergroßen Fußstapfen zu treten, die Sie hier hinterlassen haben. Ich hoffe sehr, dass ich diesem Anspruch gerecht werden kann.«
Und dann ging es weiter. Dienst der Wissenschaft, Pläne für das Leben danach, immer willkommen am Institut. Er legte sich richtig ins Zeug, kitzelte am Rührungsnerv. Weinherr sah kurz zu seiner Frau. Feierliches Glänzen in den Augen. Agathe, das meint der Homberg doch gar nicht so, war er versucht, ihr zu sagen.
Und endlich war Homberg fertig, faltete seinen Zettel zusammen und klatschte theatralisch die klauenartigen Hände zusammen. Aus den Reihen der Anwesenden lautes Beifallsklatschen, vereinzeltes Getrampel von Füßen aus den hinteren Bänken, die Reihe der Professoren erhob sich geschlossen und klatschte mit von sich gestreckten Armen. Homberg blickte gönnerhaft in die Runde, das hagere Gesicht erinnerte Weinherr einmal mehr an das eines Adlers. Oder eines Geiers.
Er erhob sich schwerfällig und nahm den Applaus mit leicht gesenktem Kopf entgegen, schließlich wedelte er abwiegelnd mit den Händen.
»Liebe Kollegen, was soll ich sagen? Ich bin glücklich. Glücklich und dankbar. Darüber, dass ich hier wirken durfte. Es waren hervorragende Jahre, erfolgreiche, und natürlich ist da auch ein wenig Wehmut. Einerseits. Andererseits freue ich mich –«, er lächelte in Agathes Richtung, »freuen wir uns auf die jetzt heranbrechende Zeit. Ach, ich habe so viele Pläne und endlich die Muße, sie umzusetzen. Nein, langweilig wird mir bestimmt nicht werden. Und falls doch, dann komme ich hierher und schaue mal, wie ihr ohne mich zurechtkommt. Das darf im übrigen ruhig als Drohung verstanden werden.« Höfliches Gelächter. »Aber keine Angst, das wird so schnell nicht passieren. Das Leben muss schließlich weitergehen.«
Beim anschließenden Umtrunk wurde Weinherr nicht müde, jedem seiner Gesprächspartner gegenüber zu wiederholen, wie sehr er sich doch auf seinen Ruhestand freue. Dass er so viele Pläne habe, ihm bestimmt nicht langweilig werde, und überhaupt, das Leben ja weiterginge.

Es dauerte nicht ganz zwei Wochen, bis Professor emeritus Friedrich Weinherr klar wurde, dass er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie das Leben weitergehen sollte. Er verbrachte die Tage in Strickjacke und Haushose entweder in seinem Lesesessel und starrte an die Wand oder er sortierte mit wenig Eifer Papiere auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Ansonsten wanderte er ziellos durch das Haus, das ihm mit einem Mal unnötig groß vorkam. Nie hätte er geglaubt, dass das Loch, von dem es hieß, man würde nach einem Leben voller Arbeit hineinfallen, wirklich existierte. Noch weniger, dass es sich so rasch öffnen und vor allem nicht, dass es so tief sein würde.
Das Schlimmste für Weinherr war die fehlende Struktur. Er war es gewohnt, an jedem Morgen zu wissen, wie der gesamte Tag verlaufen würde, welche Arbeit auf ihn wartete. Vorlesungen, Termine mit Doktoranden, Gremienarbeit, wissenschaftliche Konferenzen. Dazwischen immer wieder Durchsehen von Manuskripten oder die Arbeit an einem Lehrbuch. Er hatte offensichtlich wenig Talent darin, sich seinen Tag außerhalb der universitären Strukturen selbst zu gestalten, kreativ zu sein, in sich hineinzuhorchen. Weinherr konnte sich auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal länger als drei oder vier Tage rund um die Uhr zu Hause gewesen war. Er hatte eigentlich immer irgendwelche Termine gehabt, selbst zwischen den Semestern. Oder Agathe und er waren – selten genug, seine Frau musste ihn jedes Mal dazu drängen – in den Urlaub gefahren. Norderney. Sylt. Einmal auch nach Südfrankreich. Zwei, drei Mal Italien. Dann immer wieder Norderney. Und stets hatte er auch dort den Großteil der Tage damit zugebracht, an einem wissenschaftlichen Buch zu arbeiten, seine Korrespondenz mit den internationalen Kollegen zu erledigen oder in dem Stapel an neuen Veröffentlichungen zu lesen, der ihn in jedes Urlaubsziel begleitete. Aber jetzt? Wie sollte er die vielen Stunden füllen? Er hatte keine Ahnung und so beschränkten sich seine Aktivitäten auf das Sitzen im Sessel oder das Hin- und Hergeschiebe von Papier.
Eine unerträgliche Monotonie war das.
Agathe hielt sich zurück, wahrscheinlich wollte sie erst einmal sondieren, welchen Mann ihr die Universität nach fast vierzig Jahren als Professor im Ruhestand nach Hause geschickt hatte. Ab und zu versuchte sie, ihn zu bewegen, mit ihr vor die Tür zu gehen oder eine Partie Scrabble zu spielen. Und obwohl ihm bewusst war, dass er seiner Frau damit großes Unrecht tat, war ihm ihre Nähe erschreckend gleichgültig, in manchen Momenten aber – immerhin, er schämte sich jedes Mal dafür – regelrecht lästig. Die traurige Wahrheit war, dass Weinherr seine Arbeit schmerzlich vermisste, das Leben als Institutsleiter, als angesehener Professor. Und diesen Verlust konnte ihm Agathe nicht ersetzen. Es gab also nur eine Möglichkeit.

»Morgen werde ich mal ans Institut fahren.« Weinherr ärgerte sich, dass seine Stimme leicht zittrig klang. Versucht entspannt ließ er den Wein in seinem Glas rollen, musterte die Lichtreflexe auf der roten Oberfläche. Dann warf er Agathe einen raschen Blick zu. Ihr Gesicht sprach Bände. »Einfach mal hallo sagen.«
Seine Frau legte das Besteck zur Seite, sah ihn lange an, schüttelte sacht den Kopf.
»Ich weiß nicht. Denkst du, das ist eine gute Idee? Ich finde, du solltest erst einmal Abstand gewinnen.«
»Abstand?«
»Ja, Abstand. Es sind doch erst zwei Wochen. Ich verstehe, dass loszulassen nicht leicht ist für dich.«
»Das ist es doch jetzt gar nicht. Ich will einfach nur vorbeischauen. Das muss man doch jetzt nicht, also ...« Weinherr zuckte mit den Achseln, trank einen Schluck Wein. »Ist doch nichts dabei.«
Agathe legte ihre Hand auf seine. »Liebling, das Leben geht weiter. Lass die anderen das machen.«
Er zog seine Hand zurück. »Was weißt du denn schon? Andere, wie?«, sagte er, schnaubte verächtlich. »Etwa der Homberg? Der wollte mich doch vom ersten Tag an weghaben. Sieht in mir einen altmodischen Kasper. Der mit seiner nervtötenden Lockerheit, dieses Möchtegern-Weltgewandte. Nur, weil er mal ein paar Jahre an einer zweitklassigen Universität in England war.«
»Imperial College, mein Schatz.« Sie lächelte milde.
»Na wenn schon«, rief Weinherr. »Trotzdem ist der Mann ein elender Emporkömmling. Natürlich mit Kluge auf Du. Und ich weiß genau, was der mit dem Institut vorhat. All dieser moderne Schnickschnack. Was bleibt denn dann noch übrig?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust, starrte missmutig auf seinen Teller.
»Das ist es also«, sagte Agathe. »Na gut, dann sage ich dir jetzt mal etwas, mein Lieber. Ich habe immer zu dir gestanden, vierzig Jahre lang. Habe dich unterstützt, wo ich nur konnte. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, wo du, Friedrich Weinherr, loslassen musst. Dein Platz ist jetzt hier und nicht mehr an diesem Institut.« Sie schob den Stuhl zurück, erhob sich, deutete mit dem Finger auf ihn. »Ich habe lange darauf gewartet und ich bitte dich, nein, ich verlange von dir, dass du verstehst, wie du dich zu verhalten hast. Und entsprechend handelst.« Sie strich ihre Bluse glatt, atmete tief durch. »Das wäre alles.« Damit nahm sie ihren Teller und ging in die Küche.

Weinherr konnte nicht anders. Dies war zu wichtig. Sein Lebenswerk. Er musste wenigstens versuchen, etwas Einfluss zu üben darauf, wie Homberg die Geschicke des Instituts leiten würde. Immerhin war Weinherr nicht irgendwer. Nein, er und das Institut waren wie zwei zusammengewachsene Bäume. Untrennbar. Und seine Autorität war unangefochten.
Schon der Gedanke daran, wieder durch die Pforte zu treten, den Geruch von Kalk, Holz und Reinigungsmittel zu riechen, Walter, dem Mann hinter der Glasscheibe jovial zuzunicken, um dann die Flügeltür aufzustoßen und den breiten Gang zu seinem Büro entlangzugehen, nach links und rechts grüßend, um schließlich hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen – der lederbezogene Stuhl würde wie als Willkommensgruß leise quietschen –, allein diese Vorstellung ließ seine Stimmung merklich aufhellen und die Trübnis der letzten zwei Wochen fast vergessen.
Weinherr lenkte den Mercedes auf den Institutsparkplatz, aus Gewohnheit kurvte er zu dem für die Leitung reservierten Abschnitt. Nur, um zu sehen, dass das Schild mit seinem Namen bereits verschwunden war. Prof. Dr. Veith Homberg, Institutsleiter, stand da jetzt. Grummelnd wendete er den Wagen und suchte einen freien Platz zwischen den billigen, abgefahrenen Autos der Studenten und graduierten Wissenschaftlern.
Walter sah von seiner Zeitung auf, als Weinherr im Vorbeigehen freundlich grüßte, runzelte die Stirn, dann griff er zum Telefonhörer. Kaum hatte Friedrich die zweite Tür geöffnet, da kam ihm auch schon Professor Homberg vom anderen Ende des Ganges entgegengehastet. Die Schuhe knallten auf dem Steinboden wie Pistolenschüsse.
»Professor Weinherr«, rief er gehetzt, breitete die Arme aus, ein verkrampftes Lächeln auf den Lippen. »Was für eine Freude.«
Weinherr blieb starr stehen, machte keine Anstalten, auf Homberg zuzugehen. Als dieser ihn erreicht hatte, standen sich die beiden für einen Moment unschlüssig gegenüber.
»Tja, wie gesagt«, sagte Homberg dann. »Was für eine Freude. Ich dachte, dass Sie Ihren Ruhestand, dass Sie hier nicht so schnell ... Na egal. Schön, Sie zu sehen. Sollen wir einen Kaffee ...?«
»Danke, sehr nett. Aber ich wollte gleich in mein Büro.« Weinherr nickte kurz, drehte sich um, ging mit energischen Schritten den Gang hinunter.
»Ihr Büro?«, hörte er Homberg hinter sich sagen, dann dessen harte Absätze, er hastete ihm hinterher. »Professor Weinherr. Einen Moment! Ihr Büro ist doch jetzt ...«
Weinherr war schon an der Tür zum Vorzimmer. Zwanzig Jahre hatte dort Frau Pleiss gesessen, bevor sie letztes Jahr in Rente gegangen und wegen seiner bevorstehenden Pensionierung nicht ersetzt worden war. Er öffnete und erstarrte auf der Schwelle. Durch die offen stehende Tür konnte er sehen, dass sein altes Büro nahezu leer war. Der Schreibtisch, die kleine Sitzgruppe, sein Stuhl, alles war weg. Lediglich der Bücherschrank stand noch an seinem Platz, nur dass sich darin kein einziges Buch mehr befand.
»Was zum ...«, stammelte Weinherr.
Homberg hatte ihn eingeholt, Weinherr konnte ihn hinter sich atmen hören, roch das Pfefferminz seines Kaugummis. »Wenn Sie sich angekündigt hätten, dann hätte ich Sie selbstverständlich darüber in Kenntnis gesetzt.«
Weinherr ging die wenigen Schritten, stand vor dem leeren Schrank, stemmte die Hände in die Hüften. »Ich verlange eine Erklärung«, sagte er mit kaum verhohlenem Zorn, die eisblauen Augen immer noch auf die Leere vor sich gerichtet.
»Eine Erklärung, sicherlich.« Homberg räusperte sich. »Es ist nun einmal so, und wer wird das besser wissen als Sie, dass wir räumlich ein wenig, na ja, limitiert sind. Und deswegen wird das momentan von mir genutzte Büro der gerade ausgeschriebenen Juniorprofessur zur Verfügung gestellt.«
»Sie meinen, dass Sie die Räumlichkeiten hier nutzen werden!«
»Das folgt im Prinzip daraus. Ja« Hombergs Stimme war kalt.
Jetzt wendete sich Weinherr seinem Nachfolger zu. »Herzlichen Glückwunsch.« Er gab sich keine Mühe, den Sarkasmus in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Danke, verehrter Herr Kollege. Man wird natürlich hier und da Ausbesserungen vornehmen müssen. Und mal ordentlich lüften, nicht wahr?« Er lachte bellend auf. »Na, wie auch immer. So ist wohl der Lauf der Dinge.«
»Der Lauf der Dinge?«
»Na ja, Veränderungen gehören dazu, sind quasi unvermeidbar. Das gilt im übrigen auch für das gesamte Institut. Ich – wir – haben große Pläne. Inhaltlich, klar, aber auch, was die Räumlichkeiten angeht. Ein Anbau für neue Labore ist bereits genehmigt, und dann ...«
»Was meinen Sie mit inhaltlich?«, unterbrach ihn Weinherr.
Homberg zögerte, kniff für einen Moment die Augen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken. »Wir können uns auch hier nicht den Trends widersetzen. Es geht nun einmal weg vom bloßen Katalogisieren hin zu den zellbiologischen, den funktionellen Fragestellungen. Aber selbst davon müssen wir uns lösen, müssen weiter denken. Verschiedene Disziplinen verknüpfen. Enzymanalytik. Genomsequenzierung. Anpassungsleistungen. Und letztlich doch auch die Fragestellung, inwieweit die enorme Syntheseleistung der Einzeller nicht in den Dienst der gesamten Menschheit gestellt werden kann. Das sind doch Fabriken. Anspruchslos, und dennoch höchst effizient. Das können wir doch nicht einfach liegen lassen.« Er hatte sich in Stimmung geredet, feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Stimme überschlug sich fast, als er zum Schluss seiner Ausführung gekommen war.
Dann legte sich Schweigen zwischen die beiden.
Schließlich sagte Weinherr: »Mir ist natürlich bewusst, dass ihr jungen Wissenschaftler mit einem mitleidigen Lächeln auf Forscher wie uns schaut. Dieses Katalogisieren, wie Sie es nennen«, er legte ein wenig Gift in seine Stimme, »verehrter Herr Kollege, ist in Zeiten moderner Technologien und unglaublicher Zukunftsversprechen, die die Wissenschaft, oftmals fahrlässig, macht, nicht mehr sehr reizvoll.« Weinherr deutete mit seinem Finger auf Veith Homberg, war kurz versucht, ihm auf die Brust zu tippen. »Aber eines kann ich Ihnen sagen. Dieses Katalogisieren ist die Basis für alles andere. Erst muss man wissen, was es da draußen gibt, verstehen, wie alles miteinander zusammenhängt, dann kann man sich daran machen, den nächsten Schritt zu gehen. Das ist meine tiefste Überzeugung. Und ich glaube, wir sind noch lange nicht so weit, die Natur, die Welt zu kennen oder gar zu verstehen. Zählen Sie mich ruhig zum alten Eisen, aber die Systematische Zoologie wird niemals aus der Mode sein. Kann sie gar nicht.« Weinherr schritt an ihm vorbei, blieb in der Tür stehen. »Und jetzt, Professor Homberg, möchte ich das mir vom Dekan zugesagte Büro sehen. Wenn es das hier nicht mehr ist, dann sicher ein vergleichbares hier oben.«

»Das ist nicht Ihr Ernst?« Weinherr spürte, wie die Wut sein Herz schneller schlagen ließ, das Blut pochte in seinen Schläfen. »Im Keller?«
»Souterrain«, sagte Homberg, die Unterlippe vorgeschoben musterte er nickend den hoffnungslos zugestellten kleinen Raum. Der große Schreibtisch schien allein schon die Wände sprengen zu wollen, darauf Stapel von Büchern, der Lederstuhl, auf dem Weinherr so viele Jahre gesessen hatte, stand in einer Ecke, überzogen von einer feinen Schicht Staub.
»Das war doch mal die Dunkelkammer, oder?«
»Keine Angst, hier wurde alles gründlich gereinigt. Die Fenster sollten Sie vielleicht noch etwas offen lassen.«
Weinherr nahm sich eines der Bücher, blies den Staub, der sich auch hier abgelagert hatte, vom Einband. Protista, Bd. 1. Zwei oder drei Kapitel hatte er dazu beigetragen. Das hatte er, Friedrich Weinherr, nicht verdient. Hier zu enden, in diesem Kellerloch.
»Das ist inakzeptabel.«
Homberg hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, es ist nicht ideal, aber wie gesagt, wir haben kaum Platz, und da Sie ja emeritiert wurden, hatten wir eigentlich gedacht, na ja, so selten, wie Sie hier sein würden, da würde das hier doch ...« Er zuckte mit den Achseln, dann nickte er in Richtung des Bücherstapels. »Der Hausmeister bringt Ihnen noch ein Regal. Was Sie hier nicht unterbringen können, schicken wir Ihnen selbstverständlich nach Hause. Oder vielleicht wollen Sie ja auch der Bibliothek ...« Homberg öffnete ein Buch. »Neunzehnachtundsiebzig. Dann vielleicht lieber ins Museum, was? Nur Spaß. Gut, dann lasse ich Sie mal hier in Ihrem neuen Reich in Ruhe. Sie wollen sich ja sicher erst einmal einrichten.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Nochmals, schön, dass Sie da sind.«

»Das kann er nicht machen. Nicht mit mir.«
Weinherr stampfte im Wohnzimmer auf und ab, leicht vornübergebeugt, die Hände hinter dem Rücken, was seinen leicht gedrungenen Körper noch kleiner erscheinen ließ. »Eine Unverschämtheit. Mich in diese – diese Kammer zu nötigen. Mich, Friedrich Karl Maximilian Weinherr.«
Er blieb an der Tür zur Terrasse stehen, es war bereits dunkel, der große Garten war nur noch als graue Flächen zu erkennen. Abrupt drehte er sich um. »Jetzt sag doch auch mal was.«
Agathe stand, eine zierliche Gießkanne mit langer, schmaler Tülle in der Hand, vor dem großen Gummibaum in der Ecke und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Dann goss sie einen Schluck Wasser auf das Granulat, wischte das Ende der Tülle sorgsam mit einem Tuch ab und widmete sich den Pflanzen, die in – in Form und Farbe sorgfältig aufeinanderabgestimmten – Töpfen entlang des breiten Fensterbretts standen. Seltsam, dachte sich Weinherr bei dem Anblick der verschiedenen Gewächse, er war mit Leibe und Seele, sozusagen mit jeder Faser seines Körpers, Wissenschaftler, aber die Namen der Pflanzen in seinem Wohnzimmer hatte er sich nie merken können. Dabei hatte Agathe sie ihm nicht nur einmal gesagt.
Aber jetzt hatte er andere Probleme.
»Was sagst du denn jetzt dazu? Das ist doch wirklich die Höhe, oder?«
Seine Frau stellte die Kanne neben sich auf ein Tischchen, kam zu ihm und nahm seine Hände in ihre. Angenehm warm und weich waren sie. Er roch ihre Seife und dezent das blumige Parfüm. Ihr Gesicht hatte immer noch etwas mädchenhaftes, die großen, braunen Augen, der kleine Mund, die Haut war bemerkenswert glatt. Natürlich waren sie beide nicht mehr die jungen Leute, die sich vor fast fünfundvierzig Jahren, nur drei Monate nach ihrem ersten Kennenlernen, das Eheversprechen gegeben hatten, aber Agathe schien kaum älter geworden, war irgendwie immer noch die Agi aus dem Mahlerweg.
Sie strich ihm über die von Altersflecken gezeichneten Hände, seufzte. »Was hast du denn erwartet, Friedrich? So ist es eben. Dinge verändern sich.« Sie sah ihn liebevoll an. »Erinnere dich doch, als du damals Leiter wurdest. Ach herrje, du wolltest auch alles anders machen. Ich weiß noch genau, wie du gesagt hast, dass du Schluss machen würdest mit dem Mief aus der Kaiserzeit. Und was nicht noch alles.«
Friedrich schüttelte energisch den Kopf. »Das war doch etwas ganz anderes. Damals war es wirklich notwendig, die alten Zöpfe abzuschneiden. Aber heute, es steht doch alles zum Besten mit dem Institut.«
»Genau das hat Professor Trinkaus damals wahrscheinlich auch gedacht.« Agathe zuckte mit den Achseln. »Lass es doch gut sein, mein Schatz. Ich habe das Gefühl, dass du dich da in etwas verrennst.«
»Verrennst? Danke für deine Unterstützung.« Er entzog sich ihr, blieb unschlüssig stehen, als er den Schmerz in Agathes Augen sah. Schmerz, vermischt mit Mitleid. Was fast noch schlimmer war. »Ich ...« Warum nur fiel es ihm so schwer, sie um Verzeihung zu bitten? Sie hielt die Hände vor dem Körper ineinander verschränkt, sah ihn erwartungsvoll an. Er ahnte – nein, wusste –, dass ihre Hoffnung war, er wird die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Aber war es nicht viel mehr als nur eine Angelegenheit? Es ging um sein Vermächtnis, seine Reputation, und letztlich um seine Ehre. Das musste sie doch verstehen.
»Wie auch immer. Morgen werde ich mich beim Dekan beschweren. Da wird der Homberg schon sehen, mit wem er es zu tun hat. Notfalls gehe ich bis zum Präsidenten. So nicht!«
Er vermied es, seine Frau noch einmal anzusehen, bevor er sich abwendete und den Raum verließ.
»Tu, was du nicht lassen kannst, alter Dickschädel«, sagte sie leise, nachdem sie irgendwo im Haus eine Tür hatte zuschlagen hören.

Die Sekretärin sah überrascht vom Bildschirm auf, blickte ihn fragend an.
»Professor Weinherr«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht ... habe ich da einen Termin verpasst?« Sie kratzte mit der Computermaus über die Tischplatte, dreimaliges Klicken der Taste. »Nein, sieht nicht so aus.«
Weinherr legte den Kopf schief. »Ist ein spontaner Besuch, Frau Möllner.«
»Verstehe. Ja, ich weiß gar nicht, ob der Dekan gerade Zeit hat.«
»Ich kann ja mal klopfen.« Mit diesen Worten war er an der Tür mit dem Schild Prof. Dr. Martin Kluge, Dekan, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät I, klopfte bestimmt gegen das lackierte Holz und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Das Dekanatsbüro war zweckmäßig eingerichtet: schmucklose weiße Regale, ein kleiner runder Besprechungstisch mit vier unbequem wirkenden Stühlen, vor dem Fenster der Schreibtisch aus Chrom und Glas. Die Auslegeware sah nach Industrieteppich aus. Der Blick auf den Neubau gegenüber verstärkte noch den Eindruck eines seelenlosen Arbeitszimmers. Fürchterlich, fand Weinherr. Dekan Kluge beobachtete gerade, wie eine winzige Espressomaschine, die in einem der Regale stand, Kaffee in eine ebenso winzige Tasse presste. Als Weinherr im Raum stand, sah er auf. Kurz lag Verwirrung in seinem Blick, dann legte sich das professionelle, verbindliche Lächeln auf die Lippen.
»Professor Weinherr. Schön, Sie zu sehen. Ich mache mir gerade einen Kaffee. Für Sie auch?«
»Nein danke.«
Der Dekan deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ihren Mantel können Sie gern Frau Möllner geben.«
»Danke, ich habe nicht vor, lange zu bleiben.«
»Na dann.« Kluge ließ sich hinter dem Tisch nieder, rührte mit einem winzigen Löffel – Weinherr musste spontan an das Puppengeschirr denken, mit dem seine Schwester als Kind gespielt hatte – in der Tasse, nahm einen Schluck. Dann stellte er sie ab, legte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich zurück. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Es geht um Veith Homberg«, sagte Weinherr.
»Professor Homberg. Verstehe. Und was genau?«
»Ich verlange, dass Sie ihn in seine Schranken verweisen.«
Dekan Kluge zog die Augenbrauen hoch. »In seine Schranken verweisen? Wie meinen Sie das?«
»Mir wurde vor meiner Emeritierung zugesichert, dass ich weiterhin aktiv am Institut tätig sein darf. Und das bedeutet ja wohl auch, dass ich über die entsprechenden Ressourcen verfügen muss.«
»Aber sicher, so war es doch vereinbart. Sie haben so große Verdienste ... ich meine, natürlich können wir auf jemanden wie Sie – sofern Sie nicht anderweitig planen, könnte ja sein –, also, wir wollen nicht auf Sie verzichten.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
»Absolut.« Kluge hob beschwichtigend die Hände.
»Sehr schön.« Weinherr erhob sich, strich die Hose glatt. »Dann werde ich Professor Homberg morgen sagen, dass ich beabsichtige, wieder mein altes Büro zu nutzen.«
»Ach so, darum geht es.« Dekan Kluge verzog den Mund. »Das ist jetzt ein wenig knifflig.« Er zupfte am Revers seines Anzugs. »Veith, ich meine natürlich Professor Homberg, hat mich über Ihre kleine Meinungsverschiedenheit unterrichtet. Glauben Sie mir, ich wünschte, ich könnte da etwas machen. Aber Sie müssen auch verstehen, dass das Institut sich gut aufstellen muss für die Zukunft. Wir müssen attraktiv sein für die besten Köpfe. Ich meine, wir stehen im globalen Wettstreit um die besten Wissenschaftler. England, Amerika. Selbst China holt auf. Und das fängt natürlich bei den Forschungsbedingungen an, Labore, Geräte, finanzielle Mittel, schließt aber auch die restliche Infrastruktur ein. Und ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie beengt es da drüben zugeht. Glauben Sie mir, Professor Homberg arbeitet am Limit, und da müssen alle, denen das Wohl der Forschungseinrichtung am Herzen liegt, an einem Strang ziehen.« Er zuckte mit den Achseln. »Das schließt Sie mit ein, Professor Weinherr.« Er trat hinter dem Schreibtisch hervor, legte Weinherr eine Hand auf die Schulter. »Ich bin mir sicher, Sie verstehen das.« Wieder das zuvorkommende Lächeln, das sich aber dieses Mal nicht in den Augen wiederfand, die seltsam leblos wirkten.
»Nein, Herr Dekan, das verstehe ich nicht«, entgegnete Weinherr. Kluge sah ihn mit großen Augen an, wollte etwas sagen, aber da war Weinherr schon an der Tür. »Einen schönen Tag noch.«

Er vermisste die breiten Fenster, durch die das Sonnenlicht strahlte, sich im Glas der Schranktüren widerspiegelte. Er vermisste den Blick auf seine Bücher, vier Meter lang, bis fast an die Zimmerdecke. Er vermisste den Geruch, vor allem den Geruch. Hier unten roch es nach Staub. Und alten Chemikalien. Seine geliebten Bücher hatte er, so weit es ging, in dem kleinen Regal untergebracht, der Rest lag anklagend aufgestapelt in der Ecke neben der Tür.
Seufzend widmete sich Weinherr wieder dem Papier vor sich. Er hatte sich einige Notizen zu einem neuen Buch gemacht. Handschriftlich. Den Computer hatte er nicht wieder angeschlossen. Doch er war nicht richtig bei der Sache, schraubte den Füllfederhalter zu und erhob sich ächzend. Neben allem anderen, was ihm an seinem neuen Bürozimmer missfiel, war es auch noch kalt. Der schmale Heizkörper unter dem Fenster vermochte nicht, den Frost draußen zu halten. Weinherr rieb sich die Hände, dann machte er sich auf den Weg nach oben.
Alle Labore und die kleinen Büros, in denen sich die Wissenschaftler vor ihren Computerbildschirmen drängten, waren leer. Weinherr hörte Stimmengewirr aus dem Besprechungsraum am Ende des Flures und ging langsam darauf zu. Um den großen Konferenztisch saßen sie, die aufgeklappten Laptops vor sich, Kaffeebecher daneben, und wirkten auf Weinherr wie die Besatzung eines Raumschiffs. Alle sahen auf die Leinwand, auf die von dem monströsen Beamer unter der Decke eine Reihe wissenschaftlicher Grafiken projiziert wurde. Kapitän Veith Homberg saß zurückgelehnt auf einem Drehstuhl, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, Schweißflecken unter den Achseln und blickte wohlig lächelnd in die Runde.
»Du kannst mir glauben Veith, das hat uns mega überrascht«, sagte einer der Doktoranden – Reimann, oder Peters? – und fuchtelte mit dem Laserpointer in der Hand herum, so dass der rote Punkt über die weiße Wand hüpfte. Veith? Duzten die sich hier etwa alle?
»Keine Frage«, antwortete Homberg. »Das ist ja wirklich erstaunlich.«
»Absolut. Ich dachte erst, nee, das muss ein Irrtum sein. Hab den Assay zwei Mal wiederholt. Aber es ist so, wie es da steht. Eine irrsinnig hohe Affinität, schneller Umsatz, kaum Sättigung oder negatives Feedback. Der Hammer.«
Homberg nickte begeistert. »Setz dich mal mit Stinder aus der Biochemie in Verbindung. Ich will, dass die sich das ansehen.«
»Schon geschehen. Wir haben morgen ein Meeting.«
Homberg schnalzte mit der Zunge. »That’s the spirit, Lukas. Und natürlich das gesamte Enzym-Programm.«
»Geht klar.«
Weinherr hatte nicht alles verstanden, doch die Abbildungen an der Wand konnte er sehr wohl interpretieren. Und er konnte sehen, dass der Name der Spezies, aus dem sie das Enzym mit der irrsinnig hohen Affinität isoliert hatten, falsch geschrieben war.
»Da fehlt ein t«, sagte er, noch immer in der Tür stehend.
Homberg drehte sich, ohne die Hände hinter dem Kopf hervorzuholen, auf dem Stuhl in seine Richtung. Die Schweißflecken auf dem hellblauen Hemdstoff schienen Weinherr zu mustern wie die Augen eines Tieres.
»Professor Weinherr«, sagte Homberg stirnrunzelnd. »Was verschafft uns die Ehre?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sah er an die Wand. »Ja tatsächlich, da hat der liebe Lukas wohl in der Eile einen Buchstaben vergessen.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Vielleicht war der Grund, dass diese Ergebnisse so überragend sind, dass man darüber auch schon mal die Bezeichnung dieses überaus interessanten Vertreters durcheinander bringt. Alles eine Frage der Prioritäten, denke ich. Oder, Lukas?« Er zwinkerte dem Doktoranden zu, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Auch die anderen jungen Wissenschaftler sahen belustigt in Weinherrs Richtung.
»Ich werde das korrigieren«, sagte Lukas übertrieben eilfertig.
Homberg widmete sich wieder Friedrich Weinherr. »Was sagen Sie denn zu den Daten?«
»Ich bin natürlich kein Fachmann.«
„Tja“, sagte Homberg und lächelte süffisant.
Weinherr blickte noch einmal in die Runde, dann zuckte er mit den Achseln. »Na gut, ich will nicht weiter stören. Dann ... viel Erfolg weiterhin.«

Der Wein sah fast schwarz aus im dämmrigen Licht der Stehlampe. Weinherr hatte ein Fotoalbum auf dem Schoß. Das dünne Papier der Trennseiten war beinahe durchsichtig geworden und knisterte vernehmlich, als er vorsichtig die Seiten umblätterte. Die Farben der Fotos sahen nicht mehr natürlich aus, aber die Erinnerungen an die Momente waren so lebendig in seinem Kopf, als wäre das alles nicht Jahrzehnte her.
Die fabelhaften Fünf hatten sie sich genannt, scherzhaft zwar, aber irgendwie auch nicht. Und letztendlich hatte jeder von ihnen ja eine beachtliche akademische Karriere gemacht. Was waren das für tolle Jahre gewesen. Die Zukunft vor sich, die Kraft der Jugend und verliebt in das schönste Mädchen des Viertels. Und hatte er nicht alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte? Vielleicht sogar mehr? Und dennoch, wenn er ehrlich sein sollte, hatte er schon vor vielen Jahren den Anschluss verpasst. Es war ja auch alles immer komplizierter geworden. Diese fast schon zwanghafte Internationalität, die neuen Technologien, Computer überall, Mobiltelefone, überhaupt das ganze Tempo. Immer mehr Informationen in immer weniger Zeit. In diesem Malstrom fühlten sich Typen wie Homberg natürlich pudelwohl. Ja, das war der neue Typus Wissenschaftler. Und natürlich hatte Agathe Recht, er selbst war doch zu Beginn seiner Karriere vergleichbar ehrgeizig und sah genauso herab auf die alte Garde an Professoren. Und war dann doch eben genau so geworden. Ein alter, verbohrter Akademiker, der krampfhaft versuchte, sein Grundstück gegen Eindringlinge zu verteidigen. Dabei saßen die doch längst in seiner Küche. Vielleicht sollte er wirklich loslassen, wie seine Frau ihm nahegelegt hatte. Wenn dieser Homberg nur nicht so ein Widerling wäre.
Weinherr klappte das Album zu, schloss die Augen. Aus dem Nebenzimmer hörte er Agathe gedämpft reden. Er erhob sich und warf einen Blick in den Flur. Die Tür war angelehnt. Weinherr wollte sie gerade öffnen, als er seine Frau leise weinen hörte. Er blieb an der Tür stehen, unschlüssig, was er tun sollte.
»Was soll ich denn machen?«, sagte Agathe hinter der Tür. Sie schien zu telefonieren. »Er lässt ja überhaupt nicht mit sich reden. Hat immer nur diesen Homberg im Kopf. Einfach nur kindisch.« Sie seufzte schwer, schwieg, dann sagte sie mit Zorn in der Stimme: »Du kennst ihn doch, Stefan. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man reden, wie man will. Ach, mein Junge, ich weiß nicht mehr weiter. Wenn ihr nur nicht so weit weg wärt. Natürlich weiß ich, was er das letzte Mal zu dir gesagt hat. Es ist nur, ich habe hier niemanden. Nein, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Er ist so ein Egoist.«
Agathe weinte wieder, Weinherr trat leise von der Tür zurück, ging zurück in das Lesezimmer und leerte das Weinglas mit drei großen Schlucken.

Am nächsten Tag kam der Brief. Er lag auf seinem Schreibtisch, Agathe musste ihn dort hingelegt haben. Ein Umschlag in dezentem silber-grau mit einer schwarzen Bordüre am unteren Rand. Seine Adresse handschriftlich mit schwarzer Tinte. Als er den Absender las, ließ er sich schwer in den Schreibtischstuhl fallen.
Lieber Friedrich. In großer Trauer. Nach kurzer Krankheit. Tod von Erich. Liebender Ehemann. Guter Freund. Karin.
Weinherr starrte auf das elegante Briefpapier in seiner Hand, auch hier eine schwarze Bordüre. Ein Kreuz in der oberen Ecke, neben dem unaufdringlichen Briefkopf. Erichs Adresse in Amerika. Er hatte es bis nach Harvard geschafft mit seinen für Weinherr kaum nachvollziehbaren mathematischen Theorien, seiner unglaublichen Intelligenz. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Das musste fünf Jahre her sein. Kurze Krankheit. Was konnte das bedeuten? Warum hatte er nichts davon gewusst? Und hatte er nicht noch vor kurzem zufällig von einer Konferenz gehört, auf der Erich als Ehrengast sprechen sollte?
Weinherr legte den Brief auf den Tisch, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ihm – endlich – die Bedeutung des Briefes klar wurde. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Strahl kalten Wassers, ließ ihn schaudern: Er war jetzt der Letzte der fabelhaften Fünf. Der nächste Gedanke ließ ihn seltsamerweise lächeln. Friedrich war immer der jüngste ihrer Gruppe gewesen. Jetzt, wo sie alle tot waren, war er mit einem Mal in gewisser Weise der Älteste von ihnen. Auch wenn das mathematisch unsinnig war, Erich würde stirnrunzelnd den Kopf schütteln.
Dort drüben auf dem Tisch lagen noch die Fotoalben, die er gestern aus dem Schrank geholt hatte. Weinherr studierte die Jahreszahlen, die in der ordentlichen Schrift seiner Frau auf die Albenrücken notiert waren. 1971. Da war er vierundzwanzig Jahre alt. Er blätterte Seite um Seite um, dann fand er das Bild. Der Biergarten in Göttingen. Unter der riesigen Kastanie. Die fabelhaften Fünf. Sie hatten – ein jeder in seiner Disziplin – der Welt der Wissenschaft einen kleinen, aber unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Paul, Moritz, Reinhard, Erich und er. Krebs, Herzinfarkt, noch mal Krebs, kurze Krankheit. Blieb nur noch er selbst. Paul, Reinhard und Erich waren damals schon verheiratet, hatten den Arm um ihre Frauen gelegt, alle strahlten in die Kamera, so voller Energie, voller Lust auf das Leben. Er lernte kurze Zeit später Agathe kennen. Reinhard war ein Jahr danach unter die Haube gekommen.
Und jetzt? Vier Witwen. Vier Frauen, die ihr Leben in den Dienst ihrer Ehemänner gestellt, die gewartet hatten, jahrelang, jahrzehntelang, immer mit der stillen Hoffnung, dass es irgendwann anders wird, das Leben zu zweit beginnt. Weinherr hatte Agathes Schmerz, die Enttäuschungen, die Last des Sich-selbst-Zurücknehmens oft genug geahnt, gefühlt. Und doch immer ignoriert. Weil es schließlich um etwas Größeres ging. Ein hehres Ziel. Das Wissen. Er hatte vorausgesetzt, dass sie es versteht. Und Agathe? Sie hatte sich dem ergeben. Genau wie Karin, Marianne, Johanna und Doris. Vier Witwen. Gelebte Leben. Aus. Ende. Basta.
Lang saß Weinherr in seinem Sessel, das Album aufgeschlagen neben sich, und starrte vor sich hin. Er hörte Agathe im Haus. Ihre zarten Schritte, ein leises Husten, Fenster wurden geöffnet und wieder geschlossen, Geschirr klapperte. Schließlich erhob er sich, ging zum Schreibtisch, nahm das Hochzeitsbild in die Hand. Das schönste Mädchen im Viertel, das war sie allerdings.
Die Tür öffnete sich. Agathe steckte den Kopf ins Zimmer, lächelte, aber es wirkte unsicher, müde, resigniert. Alles, nur nicht liebevoll.
»Wir können essen.«
Weinherr nickte automatisch, immer noch das Bild in der Hand. Sie schloss die Tür.
In dem Moment traf er eine Entscheidung.
Und außerdem hatte er noch etwas anderes zu erledigen.

Durch das bodentiefe Fenster fällt das Licht der untergehenden Sonne, macht das Innere der geräumigen Kabine weich. Ihr nackter Körper ist warm, sie schwitzt leicht unter der Daunendecke. Weinherr hat einen Arm um sie gelegt, streicht sanft über ihren flachen Bauch. Ihr Haar riecht nach Shampoo, im Nacken klebt es an der schweißnassen Haut. Er spürt Agathes kleine Pobacken an seinem Penis und versucht sich zu erinnern, wann sie zuletzt so zusammengelegen haben. Ohne einen halben Meter Luft und mehrere Schichten Textil zwischen sich.
Seit vierzehn Tagen sind sie auf dem Kreuzfahrtschiff unterwegs, in New York würden sie von Bord gehen. Stefan und seine Frau besuchen. Das erste Mal seit der Hochzeit. Weinherr fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, denkt an die vielen Streitereien mit seinem Sohn, und an die nun fast schon fünf Jahre andauernde Funkstille zwischen ihnen. Aber er will sich ändern, und vor allem will er nie wieder dieses resignierte Lächeln in Agathes Gesicht sehen.
Er haucht einen Kuss auf ihren Nacken, sie brummt genüsslich und dreht sich zu ihm um.
»Ich liebe dich«, sagt sie leise.
»Ich liebe dich auch.«
»Es ist wirklich wunderschön.« Sie zuckt unbestimmt mit den Schultern. »Das alles. Nachdem ich so lange auf dich gewartet habe.«
»Wenn du willst, fahren wir einfach immer weiter. Die Ozeane sind groß genug«
Agathe kichert, er spürt ihren warmen Atem an seinem Hals. »Das wäre schön«, sagt sie. Dann schweigen sie, das Zimmer ist mittlerweile dunkel, ganz schwach, mehr wie die Ahnung eines Gefühls, spürt er das Vibrieren der Maschinen, die weit unter ihnen kraftvoll arbeiten.
»Hast du auch Hunger?«, fragt er schließlich.
»Mein Gott, und wie.« Sie lacht.
Er steht auf, knipst die kleine Lampe auf der Kommode an. Ihr Blick ist sanft und ein wenig schlaftrunken.
»Zimmerservice?«, fragt er.
»Gute Idee, mein Schatz.«
Sie lächelt liebevoll.

Veith Homberg steht vor der Wand, schüttelt immer wieder den Kopf. Er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Respekt“, flüstert er.
Hinter sich das Gemurmel und leise Lachen der Mitarbeiter.
Er wendet sich ab, sucht Lukas in der Menge, winkt ihn grinsend heran.
„So schreibt man das“, sagt er in gespielt strengem Tonfall und weist mit dem Daumen hinter sich.
„Ich werde es mir merken.“ Lukas tippt mit Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand an die Stirn.
„Mach mal ein paar Fotos. Ist doch zu lustig.“
„Wird gemacht.“ Lukas holt sein Handy aus der Hosentasche und fotografiert die Wand hinter Homberg. In roter Schrift steht dort über die gesamte Breite des Meetingraums bestimmt hundert Mal das Wort Tetrahymena. Das zweite t ist besonders fett geschrieben.
„Jetzt weißt du, wie man das schreibt“, sagt Homberg, als er an Lukas vorbeigeht. „Weinherr, Weinherr.“ Er klatscht laut lachend in die Hände. „Also echt, hätte ich nicht gedacht.“

 

Hallo @maria.meerhaba
habe ich es also wieder nicht geschafft, dich mit meiner Geschichte zu überzeugen. Schlimmer noch, drei, vier Versuche brauchtest du, um dich durchzuquälen. Na gut, da kannst du wohl ne Nummer ziehen hier ;).

Aber mal ehrlich, überwinden?

Ja, überwinden. Grausame Wortwahl, ich weiß, aber ich finde die Einleitung ziemlich zäh. Erst als der Arrogante auftaucht
Bis dahin sind es 225 Wörter. Muss ja wirklich schlimm gewesen sein, wenn du für etwas mehr als 200 Wörter drei, vier Anläufe brauchst.

Mah, ja, ich lese jetzt brav weiter.
Das ist nett.

und das muss ich gleich am Anfang loswerden, diese Geschichte würde ich nur dann wieder noch mal lesen, wenn man mit Gewalt droht.
Unter den Umständen reicht 1x wohl.

Vor allem der Anfang hat mich fast umgebracht.
Ja, das hatten wir schon.

Doch dann taucht die Frage „Was dann?“ auf und die grauenhafte Vorarbeit entfaltet sich rasend schnell
Hm, ist das dann irgendwie doch als Kompliment zu verstehen? Grauenhafte Vorarbeit. Ich musste ja schon grinsen dabei.

Es ist halt nicht eine Geschichte, die meinen Geschmack trifft
Das blinkte durchaus so zwischen den Zeilen durch.

Aber es ist solide geschrieben
Na, das ist doch was.

einigen hier wird die Geschichte sehr gut gefallen haben.
Du hast die Kommentare nicht gelesen? ;)

Liebe Maria, ich freue mich, dass du die Geschichte gelesen und kommentierst hast. Und ich verspreche dir, ich werde IRGENDWANN eine Geschichte schreiben, die dir gefällt (auch wenn du mir bisher nicht wirklich durch allzu viel Wohlwollen aufgefallen bist). Hm, vielleicht sollte ich doch lieber kein Versprechen dieser Art machen...?

Beste Grüße,
Fraser

 

Lieber @Fraser,

schwierige Sache, das mit Deiner Geschichte. Eiiigäääntlich ... könnte der altgediente Proff meine volle Zuneigung erlangen. Denn seine Ablösung steht nicht nur für ein persönliches Schicksal, sondern auch für den Verlust des sinnlichen und spirituellen Anteils in den Naturwissenschaften, was einerseits durch Technologisierung aber vor allem durch die Ökonomisierung des universitären Betriebs vorangetrieben wurde.
Gerade im Lebenswissenschaftlichen Bereich enthält diese Entwicklung eine gewisse Tragik, wenn z. B. nicht mehr Begeisterung und Liebe zum Leben an sich die neuen Disziplinen antreibt, sondern die Geilheit auf eine Karriere in irgendeinem akademischen Bereich. Ich habe in den letzten Jahren mit genügend Studenten geredet, um mir ein realistisches Bild machen zu können. Technokraten und Ökonomen bevölkern die Vorlesungen, sowie die wissenschaftlichen Gruppen. Und mir wird jedes Mal das Herz warm, wenn ich noch einen der Dinosaurier bei der Arbeit sehen kann, denen es mit einer Tafel und einem Stück Kreide gelingt, Wissen zu vermitteln, dass nicht nur die finanzielle Verwertbarkeit von Technologien behandelt, sondern auch Demut und Staunen über das Leben und seinen Weg auf diesem Planeten. Bis heute eine Anekdote, an die ich mich gern erinnere, als der altmodische Zoologieprofessor, den Studenten, die verzweifelt das Internet per Laptops durchforschten, einen staubigen Wälzer aus den Siebzigern auf den Tisch knallte. Nun konnte die zu identifizierende Quallenart problemlos anhand ihrer Merkmale eingeordnet werden.
Du siehst, mich hast Du zufälligerweise mit dem Thema sehr gut erreicht. Doch das "Aber" darf ich nicht verschweigen. Nach meinem Geschmack dreht sich der größte Teil der Geschichte zu sehr im Kreis um das Selbstmitleid des Protagonisten. Weder führt er seine hippen Nachfolger auf elegante Weise vor (Die Rechtschreibszene wirkt leider eher kleinlich auf mich), noch findet er einen zufriedenstellenden Kompromiss. Er macht zwar die notwendige Entwicklung, aber im Verhältnis zum vorhergehenden Teil rennt mir das viel zu plötzlich zum Happy End. Da verlässt der Autor dann sehr auf einmal seinen gemächlichen Erzählton und scheint selbst etwas ungeduldig zu werden. Noch ein kleiner Kritikpunkt: Die Dialoge sind mir eine Spur zu künstlich. Auch Akademiker sagen "Scheiße", wenn sie sauer sind. Und gerade die Gespräche unter den Eheleuten klingen mir sehr danach, dass vor einem Publikum gesprochen wird.
Fazit: Für mich würde die Geschichte besser funktionieren, wenn der Protagonist weniger passiv und innerlich jammernd gestaltet wäre, was vielleicht schon durch Kürzung erreicht würde. Die Dialoge sind mir zu steril. Der Umschwung sollte besser nachvollziehbar, vielleicht allmählicher erfolgen.
Und, bevor ich's vergesse: Dass ich den Text, in dem ja anfangs nicht wirklich viel passiert, trotzdem interessiert gelesen hat, spricht für die handwerklich gute Umsetzung.

Viele Grüße!
Kellerkind

 

Lieber @Friedrichard
Ich mache es (ungerechtfertigterweise, ich weiß) kurz.
Vielen Dank fürs Zurückkommen und nochmaliges intensives Analysieren. Ich bin erstaunt, was du noch alles so identifiziert hast und werde mich deinen Anmerkungen in Ruhe widmen.

Ich wünsche dir alles Gute für den Jahreswechsel und wir hören uns wieder.

Beste Grüße,
Fraser


Hallo @greenwitch
Vielen Dank, dass du deine Gedanken zur Geschichte hinterlassen hast.
In der Tat bist du in guter Gesellschaft, was die multiplen Anläufe und den tag "zäh" angeht. ;)

Schon in Ordnung. Ich finde es natürlich schade, dass der Text nicht dazu gemacht schien, dich "dranbleiben" zu lassen, aber so ist es dann eben. Offensichtlich gibt es für diese Geschichte einige wenige Liebhaber, und damit muss und kann ich dann leben. Denn ich befinde sie im jetzigen Zustand für mich als gelungen, bzw. ich würde sie nicht mehr anders schreiben wollen. Man muss ja auch seinen Seelenfrieden damit machen. Und hier ist es nun einmal so, dass ein erzählender Charakter vorherrscht. RinaWu nannte es "oldschool". Trifft es gut.

Gab es da ein anderes Ende? Der Titel und irgendwas in meinem Hinterkopf lässt mich grübeln.
Das Ende habe ich in der Tat etwas verändert bzw erweitert. Nimmt sich im Verhältnis zur Gesamtlänge wenig, aber gibt dem Ganzen hoffentlich noch einen Schmunzelaspekt.

Ich freue mich auf eine andere Geschichte von Dir, denn Dein genereller Schreibstil gefällt mir, ruhig, ausgeglichen und die Geschichte im Vordergrund, ohne das ich mich zur ständigen Analyse gedrängt fühle. Da wiederum hat mir hier sehr gefallen.
Na mal sehen, vielleicht kann ich dich noch überzeugen...

Danke dir, greenwitch und das Beste fürs Neue Jahr.

Gruß,
Fraser

 

Gude @Fraser,

eine Geschichte, die sich sehr angenehm lesen ließ - trotz der Länge, aber auch ein Stück weit gerade wegen der Länge. Ich mag das (gemächliche) Tempo und bin auch anfällig für das Thema bzw. die Atmosphäre, die dein Text ausstrahlt. Ich hätte mir fast gerne noch mehr fachwissenschaftliche Quacksalbereien angehört, auch wenn ich jetzt bereits nur Bruchteile verstanden habe. Aber es klingt so schön :lol:

Direkt am Text habe ich nur eine Kleinigkeit: Ich war mir bei der Schiffszene nicht sicher, ob es ein Rückblick sein könnte. Ich denke, da ihre Schilderung unvermittelt beginnt, fällt mir ihre zeitliche Einordnung schwer. Das löst sich auf (könnte aber vielleicht für Begriffsstutzige wie mich mit einem Satz übergeleitet werden), aber darüber bin ich hierauf aufmerksam geworden:

Stefan und seine Frau besuchen. Das erste Mal seit der Hochzeit.
-> Zur Klarheit, wessen Hochzeit gemeint ist (könnte ja auch die von Weinherr-Senior sein ...), würde ich empfehlen ein Possessivpronomen zu setzen o.Ä.

Zum allgemeinen Verlauf der Geschichte würde ich mich durchaus dem Chor derjenigen anschließen, die etwas mehr Überraschung hätten vertragen können. Der alte Mann kommt nicht mit den jüngeren klar, macht am Ende eine Art "Böse-Jungen-Streich" und haut ab (um sich dann gleich noch mit seinem Sohn auszusöhnen).
Aber du hast ja schon geschrieben: "Es muss ja (heutzutage) immer irgendwo das Unerwartete lauern, das Extrem. Ich teile diese Auffassung nicht. Und ich habe auch keine Furcht vor Happy Ends. Am Ende darf ruhig auch mal "alles gut sein". "
Ich würde allerdings an zwei Punkten dennoch Vorschläge machen wollen, um das Ganze schlanker zu gestalten.

1. Die Beziehung zum Sohn ist höchst nebensächlich. Er wird im Text zweimal genannt, wir erfahren nichts über die Art des Streits mit seinem Vater. Ich würde daher vorschlagen, ihn gleich ganz zu streichen - Agathe kann das Telefongespräch auch mit xyz-unbedeutend führen. Damit würde m.E. auch das Ende etwas weniger kitschig geraten. Ich meine, er versöhnt sich mit seiner Frau, mit seinem abgeschlossenen Arbeitsleben, macht noch einen netten Abgang ... UND versöhnt sich womöglich mit seinem Sohn über etwas, das wir nicht mal wissen? ;)

2. Dieser Absatz hier:

Und dennoch, wenn er ehrlich sein sollte, hatte er schon vor vielen Jahren den Anschluss verpasst. Es war ja auch alles immer komplizierter geworden. Diese fast schon zwanghafte Internationalität, die neuen Technologien, Computer überall, Mobiltelefone, überhaupt das ganze Tempo. Immer mehr Informationen in immer weniger Zeit. In diesem Malstrom fühlten sich Typen wie Homberg natürlich pudelwohl. Ja, das war der neue Typus Wissenschaftler. Und natürlich hatte Agathe Recht, er selbst war doch zu Beginn seiner Karriere vergleichbar ehrgeizig und sah genauso herab auf die alte Garde an Professoren. Und war dann doch eben genau so geworden. Ein alter, verbohrter Akademiker, der krampfhaft versuchte, sein Grundstück gegen Eindringlinge zu verteidigen. Dabei saßen die doch längst in seiner Küche. Vielleicht sollte er wirklich loslassen, wie seine Frau ihm nahegelegt hatte. Wenn dieser Homberg nur nicht so ein Widerling wäre.
-> fasst nur zusammen, was du bereits gezeigt hast. Diese Reflexionsarbeit ist im Prinzip eine Textzusammenfassung im Text. Das liest sich fast als: "Sieh mal, lieber Leser, falls du es noch nicht verstanden hast ..."
Ich glaube, da kannst du deinen bisherigen Szenen (gerade der Blick auf das Fotoalbum) genug vertrauen, dass du diese Erklärung nicht brauchst :shy:


Liebe Grüße
Vulkangestein

 

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