Sehnsucht nach Stille
„Einatmen – langsam ausatmen und die Bauchdecke entspannen. Das ist das wichtigste!“ ruft Bernhard. Rebecca hält sich mit sehr gleichmäßigen Flossenschlägen über Wasser und rückt ein letztes Mal ihre Brille zurecht. Es soll ihr bisher längster und tiefster Tauchgang werden. Fünf Meter ohne Flasche. Bisher hat sie es mehr als drei Minuten ohne Atemgerät geschafft. Diese Freiheit macht Süchtig! Ein letzter Atemzug; Einatmen, ausatmen und gleich wieder Einatmen! Rebecca versucht noch einmal so viel Luft wie möglich mit nach unten zu nehmen, ehe sie abtaucht. Bernhard, ihr Begleiter nimmt das Mundstück zwischen die Zähne, ehe er ihr folgt.
Beim Tauchen ohne Flasche oder Apnoetauchen weiß man nie was als nächstes passiert.
Rebecca läßt sich sanft mit einigen Flossenschlägen nach unten gleiten. Dank ihrer Größe geht das mühelos. In wenigen Augenblicken scheint ihr das Rauschen der Wellen und da flüstern des Windes weit entfernt zu sein. Es empfängt sie eine bunte Welt aus Fischen und Korallen. Frei wie ein Delphin läßt sie sich treiben. Ihre Gedanken versinken in dem aufregenden und prickelnden Gefühl der geheimnisvollen verschwiegenen Welt. Langsam beginnt sie zu vergessen, daß sie nur ein Gast hier ist. He, war da nicht in einer Riffspalte ein außergewöhnliches Lebewesen? Neugierig schwimmt Rebecca hinterher. Die Zeit scheint hier unten still zu stehen. Nähe und menschlicher Kontakt rücken in weite Ferne. Sie läßt einige Luftblasen zur Oberfläche steigen, ehe sie weiterschwimmt. Den Drang nach neuem Sauerstoff nimmt sie erst wahr, als es zu spät ist. Sie verliert das Bewußtsein.
Das Boot schaukelt friedlich auf den Wellen, als sie langsam wieder zu sich kommt. Bernhard hat sie sanft in seine Arme genommen und wiegt sie wie ein kleines Kind. Langsam macht Rebecca die Augen auf. Ihre Braunen Haare sind vom Salz des Meeres ganz verkrustet. Erst jetzt spürt sie die Sauerstoffmaske auf ihrem Gesicht. Das Gas zischt leise in ihre Nase. Sehr langsam gehorchen ihre Glieder wieder ihrem Willen. Es muß nach ihrem Empfinden Stunden gedauert haben, ehe sie die Hand heben konnte. Bernhard hat sie inzwischen alleine gelassen und macht sich gerade an einigen Schwimmwesten und Decken zu schaffen. Vorsichtig bringt er sie in eine stabile Seitenlage und deckt sie mit einem Badetuch zu. Wie gut ist es doch, einen Sanitäter zum Freund zu haben, der ihre Vorliebe für das Meer teilt! Langsam hebt Rebecca die Hand und gibt ihm ein Zeichen, das sie in Ordnung ist. Sie versucht leise zu sprechen. Es geht nicht. Alles was sie heraus bringt sind unverständliche Laute. Das letzte, was sie mitbekommt ist, das Bernhard den Anker hochgeholt hat und den Motor anläßt. Dann verliert Rebecca wieder das Bewußtsein. Sie träumt. Wieder vom blauen Meer von der Endlosen Weite und der Tiefe des Ozeans. Von der Stille und der sanften Kraft des Meeres. Dem bunten Farbenspiel unter Wasser. In der Ferne kann sie das Singen der großen Meeressäuger hören, das sich mit dem keckernden Schnattern von Delphinen mischt. Die Töne werden immer spitzer und gehen am Ende in ein monotones piepen über. Langsam schlägt sie erneut die Augen auf. Die Zimmerdecke ist weiß und kahl. Ebenso die Wände. Sie ist alleine. Ihre Hände und Füße sind am Bett fixiert. Diverse Schläuche und Infusionen wurden an ihren Körper angeschlossen. Wie lange hat sie wohl geschlafen? Draußen geht gerade die Sonne unter. Eigentlich hatte sie sich ihren Urlaub anders vorgestellt und nicht als Patient im Krankenhaus. Ihre Kehle brennt. Endlich bemerkt sie eine Schwester. Rebecca versucht zu sprechen. Es geht immer noch sehr schwer. Aber mit allergrößter Mühe formt sie das Wort „Trinken“. Die Schwester sieht sie etwas verwundert an und löst erst einmal ihre Arme aus der Fixierung. Rebeccas Kehle brennt vor Trockenheit. Sie nimmt noch einmal ihren ganzen Mut zusammen und formt noch einmal das Wort „trinken“. Gleichzeitig deutet sie mit ihrer linken Hand auf eine Wasserflasche auf dem Tisch, der in der Ecke des Zimmers steht. Die Schwester nickt. Sie füllt einige Schlucke Mineralwasser in einen Becher und gibt ihn Rebecca. Das Schlucken ist für sie sehr mühsam. Rebecca muß das eine oder andere Mal Husten. Erschöpft läßt sie den Kopf wieder auf das Kissen sinken und schließt die Augen. Wieder kreisen ihre Gedanken um den wunderbaren Ort im Meer. Es ist das Riff, das sie bei ihrem vorletzten Tauchgang gesehen hat. „wäre ich bloß ein Fisch“ denkt sie sich, ehe ihre Gedanken in die unendlichen Weiten des unbekannten abgleiten. Sie findet in ihrem Unterbewußtsein Orte, an denen die Zeit eine untergeordnete Rolle spielt. Selten nimmt sie Bernhards Stimme wahr, der versucht, ihr einen Weg in die Welt des Seins zu zeigen. Rebecca sollte erst viel später erfahren, wie lange sie das Bewußtsein verloren hatte.
Als sie wieder zu sich gekommen war, wurde sie mit Bernhard nach Hause geflogen. Auf dem Flug erzählt Bernhard, was mit ihr passiert ist. Sie war mehr als 6 Minuten unter Wasser. Und das ohne einen einzigen Atemzug! Sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Am schönsten war das Erlebnis, wieder zum ersten Mal alleine schwimmen zu gehen. In ihr brannte immer noch diese unheimliche Sehnsucht, die sich nur dann stillen ließ, wenn sie die Welt der Fische betrat und sich in ihr treiben lassen konnte. Insbesondere, weil sie durch ihren Unfall einen sehr hohen Preis bezahlt hatte. Sie würde niemals wieder richtig gehen können. Aber das war ihr gleich. Im Wasser und unter der Oberfläche war sie frei. Im Rausch der Tiefe.
C. S.