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Sehnsucht
Als er aufwachte, lag er nicht in seinem Bett. Im Zimmer war es dunkel, nur das fahle Licht des Mondes fiel zwischen den Vorhängen hindurch, traf hin und wieder sein Auge, wurde aber dann schließlich von Wolkenformationen, die sich vor den Mond schoben, verdrängt. Vor dem Fenster ragte ein Kirchturm in die Höhe, dessen Glocke drei Mal schlug, daraufhin blieb es still. Georg musste plötzlich an ihre letzten Worte denken, an die enttäuschte Stimme: "Ich hatte mich wirklich darauf gefreut. Du hattest mir versprochen dabei zu sein... Ich weiß, du kannst gar nicht anders, so sehr du dich auch dazu bewegt fühlst. Du hast einen Job, musst diesen samt seinen Pflichten erfüllen. Und dazu gehören nun mal jene leidigen Geschäftsreisen. Dagegen bist du hilflos." Das traurige Lächeln, welches sie bei solchen Vorwürfen immer aufsetzte, hatte in ihm einerseits quälende Schuldgefühle und anderseits eine noch sehr viel quälendere Verlustangst erzeugt. Noch hatte diese Beziehung keine solche Festigkeit gewonnen, noch fühlte er sich an ihrer Seite nicht standfest. "Was mache ich hier überhaupt? Warum liege ich nicht neben Judith im Bett, küsse sie auf die Wange und schmiege mich an sie?..."
Plötzlich spürte er, wie ihm die Kontrolle entglitt. Er stieg aus dem Bett, zog sich seine blaue Jeans über und rief zuhause an. Sein Blick wanderte noch einmal über die Uhr an dem Kirchturm, von dort aus das düstere Wolkengebilde entlang, bis er letztlich Vollmond klebte. Es war kalt im Zimmer, durch den schmalen Spalt zwischen Fenster und Rahmen blies der Wind. Georg empfand, wie sich seine Müdigkeit in Spannung wandelte, wie er langsam von einem plötzlichen Aufruhr überschwemmt wurde. Schließlich erklang Judiths freundliche verschlafene Stimme: "Ja?"
Georg erklärte, das er es sei, nicht genau wüßte, warum er anrufe, aber sich ganz sicher wäre, das es in dieser Angelegenheit keine Zeit mehr gäbe. Es müsse sofort gehandelt werden. Judith war verwirrt: "Hättest du damit nicht warten können, bis die Sonne aufgeht?"
"Ich denke nicht... ich kann es nicht einmal präzise erfassen. Wir müssen reden, jetzt."
"Worüber?"
"Du hast mir letzthin gesagt, das du dir sicher über unsere Bindung geworden wärst, das wir uns ineinander fügen wie geschmolzenes Blei. Aber ich... ich kann mir da noch nicht so sicher sein. Irgendwie schreitet diese Beziehung in einem unübersehbaren Fortschritt voran. Heute gemeinsam wohnen, morgen treffe ich deine Eltern - wovon du schon öfter gesprochen hast - und bald wird die Heirat unausweichlich. So will ich es nicht. Ich muss mir einfach im Einzelnen über die Schritte klar werden, brauche ein bißchen... Langsamkeit..." Als er sich so selbst sprechen gehört hatte, wunderte er sich, mit welcher Trefflichkeit er sein Problem schließlich darstellen konnte. Es wurde ihm bewußt, das da eigentlich gar nichts mehr zu überdenken verblieb. Oder?
"Langsamkeit? Wovon sprichst du?"
"Ich meine, das wir unsere Zweisamkeit mit Ruhe behandeln sollten. Weil ich sie brauche! Ich muss mir klar, über unsere Liebe... über die Beziehung zwischen uns werden."
Er wartete. Judiths Atmen im Hörer, plötzlich eine Windböe. Wie würde sie reagieren?
"Du hast ein Leben Zeit dazu. Dir sollte klar sein, das du keine Ewigkeiten besitzt, nicht mit aller Gemach hoffen kannst, das sich deine Zufriedenheit von allein entwickelt... ich bin zu müde, lass uns bitte morgen darüber reden! Es ist 3 Uhr nachts."
Es war später Morgen geworden. Die Spitze des Kirchturms stieß nun in die Mitte der Sonne, um sie herum hatte sich das Wolkengebilde größtenteils verzogen. Stattdessen ertönte durch das Fenster nun leise ein Stimmengewirr, zwei Stockwerke unter Georg floßen die Menschenmassen dahin. Als sich dann die Tür öffnete, ihm eine durchaus bekannte Frau zuzwinkerte und er sie mit einem lässigen Kopfschwenken herein bat, sehnte er sich nach einer Heimat.