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Sehnsucht
Sehnsucht
Einst, vor Zeiten, herrschte ein mächtiger König, Albert geheißen, über ein großes Land, das durch des Königs geschicktes Lenken und Amtieren zu hohem Reichtum erblüht war. Allerorts sichtbar war dieser Reichtum, auch für die schwächsten Augen im ganzen Land. Auf den goldenen, von fruchtbaren Furchen zerklüfteten Äckern wirkten rotbäckige Bauern mit unermüdlichem Eifer; Schulter an Schulter lachten Künstler, Schauspieler und Handwerker im wirren Getümmel rasch emporwachsender Städte; und es arbeiteten tüchtig und einträglich die Händler und Kaufleute und zogen in ferne Länder, wo sie ihre löblichen Waren zu durchweg stattlichen Preisen vertrieben. Kurzum, alles Volk war guter Dinge.
König Albert, vom Adel Albertus Magnus genannt, vom Volk Albert der Weise genannt, jener Albert nun kam in ein hohes Alter, wo der Tod vor seiner Türe eine dunkle Melodie, eine Melodie des Rufens, regsam und aufdringlich zu spielen begann. Zäh im Erlöschen war also sein Lebensfeuer, und im Zuge jenes langsamen Dahinschwindens plagte den König die Sorge, wer nach seinem Tod das Reich regieren dürfe; denn keinen anstelligen und zuverlässigen Nachfolger wollte er kennen. Zwei Söhne waren ihm geboren, der erste ein brutaler Prinz, entmenschlicht in seinen Handlungen, grausam gegen jedermann, mit kaltem sachlichem Gesicht, der zweite dagegen ein Dummkopf, zwar gütig und sanft, aber ebenso unbesonnen und voreilig bei allen Taten, dass dem Vater überaus bange war bei dem Gedanken, eines Tages sein goldenes Zepter in die Hände von einem seiner Söhne legen zu müssen. Und nun ihn diese untragbare Sorge so erbarmungslos quälte und er keinen Rat wusste, offenbarte er sich seinem engsten Vertrauten, dem greisen Magister curiae, dem Hofmeister. Dieser gelehrte Herr schien alle Menschen zu kennen im Reich, vom mächtigsten Fürsten bis zum gemeinsten Mann. So wusste er auch von einem Zauberer, der in großer Ferne, fast am Ende aller bekannten Wege, einsam und weltabgewandt lebte. Aber trotz jener Abgeschiedenheit war dieser über die Landesgrenzen hinaus berühmt für seine Zauberkraft und Weisheit, und der Hofmeister empfahl dem König, den Zauberer einzuladen, damit dieser ihm Rat erteilen könne. Albertus Magnus war angefüllt mit Skepsis gegen Zauberei, aber weil sein Hofmeister ganz entschieden ihn drängte, ließ er nach dem Zauberer rufen, auch wenn sein Herz kaum von Hoffnung erwärmt war.
Tage vergingen, Wochen vergingen, aber der Zauberer fand sich nicht ein. Beim König versiegten schon die Gedanken an jenen Mann, da bat ein Fremder um Einlass in den Thronsaal. Der König gewährte dies und vor ihn trat ein sonderbarer Jüngling mit lebhaften wachsamen Augen, straff und unberührt von Angesicht, aber einen zerzausten weißen Greisenbart tragend, worauf sich Überlegungen entfalteten, dieser Fremde sei vielleicht gar kein Jüngling mehr und vielmehr ein alter Herr. Auch war er um seinen hageren Leib angetan mit einem fußlangen weißen Mantel, der hüllte ihn in solch betäubende und wohltuende Helligkeit, dass jeder, der dem Fremden begegnete, ihn einen Heiligen und Wohltäter nannte. König Albert war über diese uneindeutige Gestalt sehr verwundert, fasste sich aber wieder und fragte den Sonderbaren nach seinem Anliegen.
„Mein Herr.“, antwortete dieser mit kratziger Stimme. „Ich habe mir geschworen, meine Zaubergabe für alle Hilfsbedürftigen bereitzustellen, ohne Bevorzugung, sei es nun für einen König oder für einen Bettler. Und so bin ich gekommen, weil mir durch einen Boten des Hofmeisters zu Ohren gekommen ist, dass der Oberste im Lande meiner Dienste bedarf.“
„Wahrlich!“, erfreute sich der König und wusste nun, wer da vor ihm stand. „Ich bin der Oberste im Lande, der König, und ich bin es, der deiner Dienste bedarf.“ Und er berichtete dem Zauberer von seinem Leid.
Als dann des Königs Rede mit einem tiefen Seufzer ausgeklungen war, sprach der Zauberer: „Mein Herr, ich bin nicht imstande, Euren Söhnen Stärke und Eignung zuzusetzen, ich kann Euch auch nicht Glück und Zufriedenheit schenken, aber wozu ich wohl in der Lage bin, ist es, Euer königliches Leben auszuweiten. Wäre Euch dies von Nutzen?“
„Das wäre es, Zauberer. Verlängere mein Leben und rette damit das Land!“, antwortete der König, entzückt und hingerissen von jenem Vorschlag.
„Mein Herr, offensichtlich ist mein Angebot für Euch wie süßer Honig, aber ich muss Euch schrecken: Ihr müsst mir nämlich eines Eurer Glieder geben, Arm oder Bein. Einzig so wird der Zauber wirksam und verlängert Euer Leben um wertvolle zwanzig Jahr’.“
Da fuhr der König heftig zusammen und bebte, als hätte schwerer Schüttelfrost seinen Leib ergriffen.
„Gibt es denn keinen anderen Weg?“, fragte er verzweifelt.
„Nein.“, versetzte der Zauberer. „Wer sein Leben ausdehnen will, muss mit seinem Körper zahlen. So will es die Natur und deren Untertan sind alle Menschen, auch die Zauberer.“
Kein Flehen, Betteln, Beschwören nutzte; der Zauberer forderte unnachgiebig ein Glied. Da willigte der König ein, zwar nicht ohne Verdruss und Unmut, aber die Aussicht auf ein längeres Leben ließ ihn über den Verlust an Körperlichkeit hinwegblicken und so gab er ein Bein.
Zwanzig Jahre verstrichen und des Königs herrlicher Verstand bestäubte wie eine fleißige Biene rundum das blühende Land. Mehr noch als zuvor schätze das Volk seinen König, und man dankte dem Zauberer für sein hilfreiches Tun. Doch ward nach Ablauf der Zeit Albertus Magnus wieder vom Tod bedrängt und herausgefordert. Der König gab sein zweites Bein für weitere zwanzig Jahr’ und alsdann den linken Arm. Und verlor er auch gewohnte Körperlichkeit, konnte die Kürzung seinem Scharfsinn nichts anhaben, und sein Land florierte im üblichen Maße. Allein dann kam das sechzigste Jahr seiner Lebensausdehnung und zum vierten Mal rief er nach dem Zauberer.
„Du!“, tönte seine herrschende Stimme alt-gebleicht. „Nimm meinen rechten Arm und streck mein Leben so raffiniert und trickreich, wie du’s wieder und wieder getan hast!“
„Hoheit.“, entgegnete der Zauberer. „Ich muss Euch ernstlich widerraten. Verliert Ihr Euren starken rechten Arm, werdet Ihr Euer Land nicht mehr leiten können. Mit dem Arm haltet Ihr Euer Schwert, womit Ihr Soldaten anspornt und Feinde vertreibt, mit dem Arm unterzeichnet Ihr Erlasse und Weisungen, die somit Rechtsgültigkeit erlangen. Bedenkt, wie der Geist gehört nicht minder das Körperliche zum Herrschertum. Mein Herr, gebt Ihr den Arm, dann zerfällt Euer Land.“ Dem besorgten, von der Zeit geschlagenen Gesicht des Zauberers entstrahlte keine schöne Jugendlichkeit mehr, er war schwach und kränklich geworden, seine Haut glich gelbem zerknittertem Pergament, und zitternd hielt er seinen aus Spitzahorn gefertigten Zauberstab.
Aber König Albert nahm sich den Ratschlag des Zauberers nicht zu Herzen und zürnte. Solle er denn in Kummer und Sorge sterben? Wer würde das Land vernünftig regieren? Seine Söhne seien längst tot, den Enkeln traue er nicht, nein, er müsse am Leben bleiben, er könne nicht gehen.
Nur widerwillig unterwarf sich der Zauberer jenem von scharfer Wut und Bitterkeit durchtränkten, königlichen Machtwort, nahm des Herrschers rechten Arm und verlängerte sein Leben abermals um zwanzig Jahr’. Fortan bestimmte über das Land ein kläglicher Rumpf, eine unvollkommene Kugel mit grimmig dreinschauendem Kopfwuchs, kein Menschenwesen mehr, so sprach das ängstliche Volk und beweinte das Schicksal seines Lenkers und Ernährers. Grausam erfüllte sich nun die Prophezeiung des Zauberers. In seines Feindes Augen verkam der körperschwache, seines Schwertes unmündige Albert zu einer billigen Scherzfigur, und dunkle Raubzüge überschwemmten und verbrannten das vormals reiche Land. Auch waren die Ordnungshüter machtlos ohne die schreibende und befehlende Hand ihres Königs. Rechtsbrüche und Gräueltaten griffen um sich und stürzten das Königreich in Unglück und Verzweiflung, in Armut und Verderben, in Chaos und Tod.
Mit hängendem Kopf saß der König auf seinem Thron, traurig und verlassen. Schwerer Gram schmorte böse in seiner Brust.
„Du hast mich verhext.“, klagte Albert eines Tages vor dem Zauberer. „Was soll ich mit diesem Leben, das kein Leben mehr ist? Mein Geschick entgleitet mir, mein Land geht zugrunde. Was hast du mir angetan?“
„Mein Bemühen zielte auf Eure Lebenslänge.“, entgegnete der Zauberer. „Dafür habe ich zu dienen versprochen und Ihr hießet es gut. Versteht doch, ich habe nur darauf Einfluss, das ist meine Gabe, für Euer Lebensgefühl vermag ich kaum etwas zu bewirken, geschweige denn für Eure Staatsgeschäfte. Nie behauptete ich etwas anderes! Ich warnte Euch sogar.“
„Spare dir deine Rechtfertigungen! Siehst du denn nicht das Leid, das du mir hervorgerufen hast, indem du mich zum Krüppel machtest? Ich habe reichlich zahlen müssen für deine Zauberkunst.“
„Ihr habt tatsächlich viel gezahlt, – wie jemand, dem der Preis unwichtig ist, weil er glaubt, mühelos zahlen zu können. Ihr aber gabt leichtsinnig, was Ihr nicht hättet geben dürfen, und wusstet anscheinend nicht, wofür Ihr zahlt. Die Schuld an Eurem Leid tragt Ihr allein.“
Regsam sann nun der alte König mit finsterer Miene; unerschütterliche Stille beherrschte den Saal, dann sagte er endlich: „Du bist im Recht, Zauberer, und hast verständig gesprochen.“ Warme, glitzernde Tränen rannen über seine abgeblühten Wangen. „Wahrlich, ich bin ein Narr, ich glaubte, der Sieg über den Tod schaffe mir ewiges Glück, andauerndes Geschick und letztendlich eine Unveränderlichkeit der nun vergangenen, so köstlichen Zeiten. Aber das ist ja Irrsinn, meinen Körper habe ich für eine entzückende Hoffnung gegeben, und einzig dafür. Doch in jenem Moment, da ich zahlte, konnte sich meine Hoffnung nicht mehr erfüllen. Jetzt werde ich für meine Blindheit hart bestraft. Nichts kann ich mehr so machen, wie ich es wünsche. Ich bin ein armer zappelnder Fisch, gefangen in einem Netz nichtiger Lebendigkeit. Es war ein Wahnsinn, sich durch die Körpergabe dem Tod zu verweigern. Ich verlor dadurch mein Leben. – Hilf mir, Zauberer, hilf mir! Ich vermag nicht mehr, mein Volk zu regieren. Ein anderer soll’s tun, es geht nicht anders. Ich will aber nicht zusehen, wie ein anderer herrscht, das könnt ich nicht. Ich vertraue dir, Zauberer, du musst mir einen Wunsch erfüllen, nein, es ist mehr noch ein Befehl. Du musst ihn befolgen! Höre, ich befehle dir, mich zu vergiften. Schnell und sanft will ich einschlummern. Hörst du? Allein könnt ich’s nicht, ich bin dazu nicht mehr fähig, ich brauche deine Hilfe. Vergifte mich! Mach es sofort!“
„Nein.“, sagte der Zauberer. „Töten werde ich Euch nicht. Noch besteht die Hoffnung, Ihr möget lernen, mit Eurem abgewandelten Leben gut zurechtzukommen. Tilgte ich Euch jetzt von dieser Welt, würde ich den Schwur brechen, an den ich gebunden bin, den Schwur, allen Lebenden dienlich zu sein und ihnen im Momente höchster Not und Bedrängnis beizustehen. Der Tod ist keine Hilfe, solange Hoffnung besteht. Ihn herbeizuführen, hieße meinen Schwur aufgeben. Nein Hoheit, die zwanzig Jahr’ sollt Ihr leben.“
„Was redest du für wirres Zeug? Hoffnung ist eine garstige Leere, wenn kein würdiges Leben hinter ihr steht. Ich will nichts mehr von ihr wissen, sie erweckt in uns Träume, die keine Aussicht auf Erfüllung haben, sie drängt uns in einer Qual zu verweilen, einer mörderischen Qual, die den letzten Funken behaglicher Lebensfreude mit einem eisigen Hauch zum Erlöschen bringt. Mein Körper ist gebrochen und zerfallen, er wird nimmermehr gesunden. Du sagtest es aber selbst: Mein Herrschergeschick ist ebenso auf ihn angewiesen wie auf meinen Geist; und dies Geschick, dieser für mich unentbehrliche Lebensinhalt ist verloren wie mein Körper und wird nicht wiederkommen. Ich kann nur als König leben, doch der bin ich nicht mehr und kann es auch nie wieder sein. Zauberer, ich flehe dich an, erlöse meine arme Seele!“
Die gütigen, von Alterstrübheit milchigen Augen des Zauberers lagen mitleidsvoll auf der gekürzten Gestalt des einst so mächtigen und strahlenden Königs. Leise sprach er: „Hoheit, wohin führt die Schwermut Eure Worte? Beileibe, jedem Menschen wohnt die urmenschliche Kraft inne, aufkommenden Schmerz in lichte Glückseligkeit zu wandeln, – auch in Euch.“
„Du hast keine Ahnung, wovon ich rede.“, schluchzte der König traurig. „Seit alters ist es so, dass nur die am eigenen Leib gespürten Erlebnisse uns Einsicht und Verständnis einbringen. Vermagst du dereinst aus körperlicher Schwäche nicht mehr deinen Zauberstab zu halten, so wirst du’s gewahren. Die Kraft, mit der du gefochten hast für deine Wünsche und Ziele, mit der du deine Vorhaben zuwege gebracht hast, sie wird schwinden, und Frohsinn und Heiterkeit werden in dir verebben für alle Zeiten. Du wirst deiner idealistischen Gedanken müde werden und wirst deine gutherzige und wohlwollende Klugheit ablegen. Was – du schüttelst deinen Kopf? Lieber solltest du deinen Schwur halten und Gutes tun, ich bin in höchster Not und Bedrängnis und weiß um den feinen Vorteil des Todes. Er ist nicht so grausam, wie wir denken, er besitzt auch Güte und Barmherzigkeit; aber unser Verstand kann das nicht sehen, – allein unser Herz kann es. Ach, ist es so schwer, mein Innenleben nachzuempfinden? Mit dem verbliebenen Quäntchen Würde will ich von der Welt schreiten, mehr nicht. Es ist ein schöner, feierlicher Gedanke! Kannst du mich denn gar nicht verstehen? Ach, ich seh’s, du nimmst deinen weißen Mantel und willst gehen. Bleib doch, Zauberer, bleib und erhöre mich! Nein, gehe nicht! O, er geht, er will mich nicht anhören, will mich nicht verstehen. – O nein, er ist gegangen, ist fortgegangen, mit schüttelndem Kopfe, mit unerbittlichen Augen. Wer hört mich überhaupt noch an? Bin ich überhaupt noch jemand? Was ist das für ein unglücklicher Schwur, der fürs Gute geschworen und fürs Böse gehalten wurde? Was soll ich nur tun? Ich bin gescheitert…“
Ende