- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Sehr geehrte Frau Lebensmüde
Gestatten, Lebensmüde
Ich glaube, ein Großteil der Menschen hat es sich schon einmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn man bei seiner eigenen Beerdigung zu schauen könnte.
Wie viele würden kommen? Wer würde den Preis der Heulboje des Tages ergattern? Auf jeden Fall würde es all denjenigen, die mich schlecht behandelt haben, jetzt Leid tun. Aber nun wäre es zu spät. Ha, geschieht Ihnen recht!
Aber was ist, wenn ich mir nun etwas vormache? Vielleicht werde ich gar nicht, im wahrsten Sinne des Wortes erhaben sphärisch über allen schweben und hinunterblicken. Ich hätte wahrscheinlich sowieso die ganze Zeit mit meiner Höhenangst zu kämpfen. Es kann wohl nicht schaden, wenn ich sicherheitshalber zum besagten Zeitpunkt etwas gegen Luftkrankheit einwerfe. Auf gar keinen Fall darf ich vergessen an dem Morgen meines Ablebens den Tagesboten zu lesen. Nicht, dass ich den Sommerschlussverkauf oder ein Pokalspiel übersehe und dann kommen womöglich nicht einmal Kurt und Irene.
Es ist wirklich schwieriger als man denkt, sich umzubringen. Ich muss mir unbedingt einen Merkzettel machen. O Nein, ich glaube, jetzt bekomme ich auch noch Migräne. Diese Kopfschmerzen werden mich sicherlich eines Tages noch umbringen.
Also, manche Möglichkeiten kommen einfach nicht in Frage, weil sie so fürchterlich unästhetisch sind. Mein Mann würde jetzt wahrscheinlich sagen: „Typisch Frau!“
Ich könnte springen. Aber man sieht so oft in Emercency Room, welche Stürze ein Mensch überleben kann und die Folgeschäden sind einfach schauderhaft. An die damit verbundenen Schmerzen möchte ich lieber gar nicht erst denken.
Schlaftabletten finde ich nicht schlecht, sie scheinen für Frauen anscheinend das Mittel der Wahl zu sein. Ich finde zwar, die bisher gesammelten Sorten passen farblich einfach toll zusammen und würden eine hinreißende Tischdeko zu meinem Rosenthalservice abgeben, doch habe ich wirklich ausreichend? Und was ist, wenn sich die Wirkungen untereinander aufheben? Oder mein Magen revoltiert und die Pillen bleiben gar nicht drin. Das einzige Resultat wäre dann, dass ich mit den knallroten, hervorstehenden Augen aussehe wie ein hypothyreoter Albino.
Oder ich reagiere paradox, habe lediglich 4 Stunden horrormäßige Alpträume und habe dann schon wieder mit Migräne.
Ich muss mir auf dem Zettel notieren: 1)Schlaftabletten, 2)Tabletten gegen Luftkrankheit,
3)Tabletten gegen Übelkeit, 4)Tabletten gegen Migräne. Zum Lesen der Beipackzettel werde ich wahrscheinlich Stunden brauchen.
Sollte ich mir vielleicht doch besser die Pulsadern aufschneiden? Aber die Arterien sitzen ärgerlicherweise extrem tief. Schneide ich verkehrt und werde zu früh gefunden, dann kann es sein, dass ich die Hände nie wieder richtig bewegen kann, weil ich wichtige Sehnen und Nerven durchtrennt habe. Außerdem tut es höllisch weh, sich zu schneiden und das gleich zweimal. Und dann die Narben, falls ich überlebe – dann kann ich meine ganzen kurzärmligen Sachen wegschmeißen und die weiße Bluse mit dem kleinen Kragen ist doch noch ganz neu.
Außerdem kann ich kein Blut sehen, falle wahrscheinlich in Ohnmacht, schlage mir den Kopf an und bekomme...schon wieder...Migräne.
(Auf Merkzettel unter viertens notieren: 1 Großpackung Migränetabletten.)
Also bei meinem Talent wird es garantiert wie folgt verlaufen:
Ich habe genug Schlaftabletten gesammelt und einen geeigneten Zeitpunkt gewählt um diese einzunehmen und tue dies auch. Ich habe meine Sachen geordnet, alle Wäsche weggebügelt und fühle mich zuversichtlich und gelöst. Ich nehme die Schlaftabletten und schlafe ein.
Perfekt!
Als Nächstes erwache ich dann in der heimeligen Atmosphäre einer Intensivstation. Ich liege in einem 4- Bettraum, in dem unerhörterweise nicht einmal Trennwände aufgestellt sind. Die Überwachungsgeräte piepsen, die Luft duftet betörend nach Desinfektionsmittel und Ausscheidungen. Das viel zu enge Krankenhaushemd kneift furchtbar unter den Armen und ich mache die wenig erfreuliche Erfahrung, wie es sich anfühlt einen Blasenkatheter gelegt bekommen zu haben. Eine ausgesprochen attraktive und sicherlich sehr gut ausgebildete, junge Intensivschwester tritt an mein Bett. Sie kontrolliert meinen Blutdruck und den Zugang für die Infusion in ihrem Arm. Allerdings scheint sie in der Unterrichtsstunde „Umgangsformen“ gefehlt zu haben. Kein Vorstellen, kein „Guten Morgen“, nicht die Spur eines Lächelns. Dafür ruft sie über ihre Schulter in Richtung Flur „der Suizidversuch ist aufgewacht“. Soviel zur Wahrung der Intimsphäre. Es erscheint der Stationsarzt. Es ist schon erstaunlich, wie immun ich in manchen Situationen gegen blendendes Aussehen sein kann. Die Aussage des Schönlings, dass der Termin mit dem Psychiater zwecks Weiterverlegung auf dessen Station für den späten Vormittag festgelegt ist, löst Panik aus und schnürt mir die Kehle zu. Ich mache die Erfahrung, dass wenn ein Suizidversuch fehl schlägt, man auf jeden Fall erst einmal auf so einer Station landet und kaum einer derjenigen, die dort arbeiten, hat sich intensiv damit beschäftigt, wie man in einer solchen Situation jetzt psychisch am besten mit mir umgeht. Hier an dieser Stelle habe ich kein Mitgefühl zu erwarten. Doch es kommt garantiert noch schlimmer.
Am nächsten Morgen wird bestimmt mein Chef, den ich eigentlich sehr mag und der mir sonst stets, vielleicht nicht gerade als sehr warmherzig, aber immer vertrauenswürdig und entgegenkommend ist, an der Ernsthaftigkeit des Suizidversuches zweifeln. Er äußert garantiert, es hätte sich wohl um Hustenbonbons gehandelt, ansonsten würde ich jetzt wohl kaum schon wieder hier stehen. Sicherheitshalber werde ich dann aber ins Archiv zu Frau Rebenstolz mit dem entsetzlichen Mundgeruch versetzt, um die anderen Kollegen nicht zu verunsichern.
Und zum guten Schluss wird mein Mann sicherlich spöttisch grinsend verlauten lassen, ich wäre selbst zu blöd, um mich umzubringen. (Im Übrigen ist er allerdings froh, dass es daneben gegangen ist).
Vielleicht sollte ich doch vorher noch mal mit jemandem reden. Es muss schließlich nicht gleich ein Psychotherapeut sein.
Ich werde mal im Telefonbuch nach einer dieser netten Selbsthilfegruppe schauen. Ich kann zu den Treffen ja auf jeden Fall mein Strickzeug mitnehmen. Dann bekomme ich wenigstens endlich den Pullover für Hans- Heinrich fertig. Oder ich rufe im Kirchenbüro an und mache einen Termin mit dem netten Pastor. Seine Frau soll einen traumhaften Apfelkuchen machen, hat Irene neulich erzählt.
In einem kann ich ja zum Glück wirklich sicher sein: Der Tod läuft mir nicht weg.