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Sei dir nicht so sicher
Nachdem er die Allee hinter sich gelassen hatte, bog er auf die Hauptstraße ein.
Das Cafe lag kaum hundert Meter von hier entfernt. Gerald vermied es aber, seinen Blick dorthin zu richten.
Er zündete sich eine Zigarette an, und kehrte um. Fünf Minuten später stand er wieder auf dem Friedhof. Er trat die Kippe aus und sah auf die Uhr.
Anschließend machte er sich erneut auf den Weg zur Hauptstraße. Noch immer war es still. Er ging zurück zu den Gräbern. Dort angekommen, kramte er nach seinen Zigaretten. Die Schachtel war leer. Gerald warf sie fort und sie landete in einem frischen Blumenstrauß, der vor einem provisorisch aufgestellten Holzkreuz lag.
Als er die Straße wieder erreicht hatte, fuhr ein Wagen an ihm vorbei. Jetzt kamen Laute aus der Richtung, in der das Cafe lag.
Gerald hastete durch die Allee, und befand sich kurze Zeit später wieder auf dem Friedhof. Er hob die leere Schachtel auf und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden.
Einige Menschen begegneten ihm, als er zurück zur Straße lief. Er beachtete sie nicht, sondern beschleunigte seinen Gang noch, um das Cafe möglichst schnell zu erreichen.
Eine junge Frau stand hinter einem Glastresen, in dem einige Torten ausgelegt waren. Sie begrüßte ihn, aber das kümmerte Gerald wenig. Er rannte die Stufen hoch, die in den Raum führten, der heute für eine geschlossene Gesellschaft reserviert war. Die Frau lief ihm hinterher. Oben schlug er die Tür zu und klemmte die Lehne eines Stuhls unter die Klinke.
Dann stöberte er in der Gaderobe, die die Trauergäste auf unzähligen Haken hinterlassen hatte, während sie das frische Grab besichtigten. Von draußen hämmerte die Frau gegen das Milchglas der Tür. Sie rief etwas. Worte, die nicht ihm galten, sondern einer anderen Person, die er vorher nicht bemerkt hatte. Vermutlich wurde die Polizei gerade alarmiert.
Nach einer kurzen Suche fand Gerald das Objekt seiner Begierde.
Ein schäbiger, rostiger Ring. Er steckte ihn in die leere Zigarettenschachtel. Anschließend öffnete er eines der Fenster und sah auf den Marktplatz herunter. Gut drei Meter trennten ihn von dem Kopfsteinpflaster.
Gerald sprang.
Der Aufprall war härter, als er vermutet hatte. Aber als er sich aufrichtete und loslief, war er sich sicher, dass nichts gebrochen war.
Sein Auto stand in einer Seitenstraße. Er stieg ein und startete den Motor. Während er zurücksetzte, stieß er das Reklameschild einer Wäscherei um. Gerald legte die Marlboro Packung auf den Beifahrersitz und trat das Gaspedal durch. Sein alter Ford Mustang preschte durch einige Hecken, fuhr dann zwischen zwei Bäumen hindurch und fädelte sich schließlich auf der Allee ein. Wenige Sekunden später hatte er die kleine Kapelle erreicht, vor der sich die Trauernden versammelt hatten. Der Pfarrer hielt gerade seine Trostrede, und die Totengräber waren damit beschäftigt, den kleinen Bagger in den Schuppen zu fahren, der das Grab genauso schnell gefüllt hatte, wie das auf dem Silbersteck aufgespießte Buffet die Mägen beim Leichenschmauss.
Mit quietschenden Reifen kam er zum Stehen. Etwas weniger melodramatisch stieg er dann aus.
Die Anwesenden blickten ihn ungläubig an. Der Pfarrer hielt in seiner Rede inne und vollzog mit seiner rechten Hand eine drohende Geste, von der er selbst nicht sicher war, ob sie der Situation angemessen war.
"Dieser Ring hier..." - Gerald drehte sich zu seinem Wagen um und kletterte über den Fahrersitz, um an die Zigarettenschachtel zu kommen. Er holte das hässliche Schmuckstück heraus und ließ die Packung liegen.
"Dieser Ring hier, ist eure Meinung. Sie ist schäbig, und sie ist rostig. Ich frage euch daher: Weshalb seid ihr alle zu dieser Beisetzung erschienen?"
Für einen Moment herrschte auf dem Friedhof Totenstille. Dann trat plötzlich ein hagerer Mann hervor, der bislang an dem Platz der Gruppe gestanden hatte, an dem man am wenigstens auffiel.
"Ich habe meinen Opa geliebt", sagte er.
"Ich weiss", entgegnete Gerald. - "Du schon."
Der Pfarrer löste sich aus seiner Erstarrung und redete hektisch auf die Trauergäste ein.
"Bei vielen Beerdigungen mischt er sich ein. Aber noch nie so schlimm. Noch nie...", er warf einen Blick auf den Ford, "...mit dem Auto! Gerald, du benötigst Hilfe. Alle hier im Dorf glauben das."
Plötzlich war Gerald müde. Er ließ erst den Ring fallen, und seinen dann Körper folgen.
Als er am Abend in seinem Zimmer aufwachte, lächelte er.
Und noch Jemand lächelte. Dieser Schluck Wasser, der nach Nichts aussah. Es war kaum vorstellbar, wie er sich all die Jahre um den Alten hatte kümmern können.
Der Ring, den er vom Boden aufgehoben hatte, nachdem ein Wagen der örtlichen Polizei Gerald nach Hause gefahren hatte, war nun überhaupt nicht mehr rostig. Im Gegenteil; er schien auf einmal wunderschön und glänzte heller als die Sonne. Zumindest aus symbolischer Betrachtungsweise heraus.
Der dünne Kerl, der Florentino hieß, machte sich in der Nacht auf zu dem Grab seines Großvaters. Mit dem Ring durchtrennte er das Schloss des Geräteschuppens mühelos. Als hätte er den reinsten aller Diamanten in seiner Hand.
Nachdem er das Grab mit dem kleinen Bagger offengelegt hatte, räusperte sich der Tote im Sarg.
"Wem habe ich das zu verdanken?", wollte er wissen.
"Ich glaube, er heisst Gerald", antwortete Florentino.
"Der gute alte Gerald also. Von dem wird hier unten einiges gemunkelt, obwohl ich erst so kurz hier bin. In welcher Tasche hat er den Ring gefunden?"
"Das hat er nicht gesagt."
"Nun...Florentino, du hast dich immer um mich gekümmert. Bitte gebe mir den Ring, und ich werde diesen Gerald selbst fragen, woher er ihn hat."
***
Martha schaltete den Fernseher ein, und rieb sich dabei die Hände.
Bald schon würden sich die hintenangestellten Nullen auf ihren Kontoauszügen verdoppeln. Sehr bald schon. Nachdem der alte Trottel endlich das Zeitliche gesegnet hatte, konnte alles gut werden. Für sie war es keine Frage, ob er sie in seinem Testament berücksichtigt hatte. Dieser Narr war seit sie denken konnte schon immer viel zu gutmütig für diese Welt gewesen.
Es klopfte an der Tür. Martha stand auf und zog sich ihre Hausschluppen an. Dann schlenderte sie los. Es war eine Unverschämtheit, sie noch zu dieser Zeit zu stören, aber egal. So toll, wie der Tag bislang gelaufen war, machte dieser Umstand sie kein bisschen zornig.
Noch immer lächelnd, öffnete sie die Tür.
Dann verschwand das Lächeln.