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Sein Erwachen
Kaum hatte der Morgen seine ersten zarten Lichter in das Zimmer geschickt und damit dem aus altem Bambusholz gefertigten, belederten Schaukelstuhl als einzigem Objekt in dem ansonsten kargen Raum feine Konturen geschenkt, wachte er auf. Durch die Spalten des Rollos drangen vereinzelt dünne, weiße Sonnenstrahlen, auf die er zurückführte, dass es wohl ein schöner Morgen sein musste. Neben ihm lag, in eine braune Kamelhaardecke gehüllt, seine Frau. Obgleich er in der fast völligen Dunkelheit kaum mehr als schwache Züge ihrer Gestalt wahrnehmen konnte, merkte er, dass sie sehr tief im Schlaf versunken war.
Weil er sie nicht in ihrer Seligkeit stören wollte, schlich er sich leise aus dem Zimmer, während die warmen, weichen Fasern des blauen Teppichbodens sanft gegen seine Fußsohlen rieben.
Sobald er das Schlafzimmer verlassen hatte und den Gang betrat, erinnerte ihn das Gefühl des harten Steinbodens unter seinen Füßen an den begonnen Tag.
Er war sich sicher, dass der Tagesanbruch, das Erwachen aus den Träumen für die meisten Menschen endgültige Realität bedeutete, die unumgängliche Erkenntnis, dass das wirkliche, wichtige Leben gerade angefangen hatte. Für sie war der Schlaf nichts weiter als eine Ruhephase, in der sie Kräfte mobilisieren konnten.
Aber für ihn war der Tag nichts weiter als ein immergleicher, unveränderbarer Ablauf von Ereignissen, die ihn in ihrer Monotonie gefangen hielten.
Lieber wollte er im Bett liegen bleiben, solange bis er müde genug würde um wieder vom Schlaf überkommen zu werden.
Viele Jahre lang hatte er das Gefühl spüren müssen, eingedrückt zu sein wie eine Ölsardine im Blech. Immer wenn er aufstand, begann sich sofort eine Angst in ihm festzusetzen, die ihn innerlich soweit auffraß, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als willenlos dem starren Rhythmus des Alltäglichen nachzugehen. Er ließ sich dann in seiner Hilflosigkeit einfach treiben, wie eine verlassene Luftmatratze, die von den sich kräuselnden Wellen des Ozeans in dessen Unendlichkeit getragen wird.
Jetzt fürchtete er sich nicht mehr vor dem Aufstehen, aber je weiter der Tag voranschritt, desto mehr wurden seine Empfindungen aufgerieben und ermüdet, bis dann nichts mehr von ihm übrig blieb als nur ein fleischiger Körper mit funktionierenden Organen.
An den Seiten des Ganges, der von seinem Schlafzimmer aus durch das obere Stockwerk seines Hauses führte, ragten hohe, kahle Wänden empor. Aus Ehrfurcht vor der Mächtigkeit dieser Wände wählte er seine Schritte sehr bedacht und vorsichtig. Er wollte zunächst die Treppe hinuntergehen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass seine Frau noch schlief. Seine tägliche Routine war durch diesen Vorfall, den er selbst für geringfügig erachtete, völlig gestört, also musste er selbst versuchen seinen Tagesplan zurechtzuflicken. Anstatt also wie gewöhnlich zum Frühstück nach unten zu gehen, beschloss er, erst das Bad aufzusuchen.
Als er sich dem Badezimmer näherte, war die Tür entgegen seiner Erwartung bereits leicht geöffnet, und während sein Auge noch die vordersten weißen Fliesen durch den Spalt ausmachen konnte, gähnte dahinter endlos schwarze Dunkelheit.
Er betätigte den Lichtschalter, und nachdem der Raum von gleißend hellem, gelbem Licht überflutet worden war, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass im Waschbecken noch ein nasser Lappen kauerte.
Um Klarheit zu gewinnen, ließ er kaltes Wasser über seine Zunge hinweg in seinen Mund strömen.
Während ihn das Wasser mit einer überwältigenden Frische erfüllte, stellte er sich in Gedanken einen gewöhnlichen Tag in seinem Leben vor.
Wenn er aufwachte, dann war seine Frau immer schon aufgestanden und saß unten in im Halbdunkel in der Küchendiele. Hörte sie seine Schritte auf dem Fußboden im Gang, schaltete sie das Licht unten ein und setzte den Kaffe auf.
So stand er jeden Morgen auf und ließ den Prozess des Alltäglichen über sich ergehen. Zum Frühstück trank er erst einen Orangensaft, dann einen schwarzen Kaffee, verspeiste ein kahles Stück Brot zusammen mit einem bunten Rührei, das ihm seine Frau jeden Morgen mit Liebe und Fürsorglichkeit, so schien es ihm, zubereitete. Dann fuhr er in die Arbeit, erfüllte sie weder mit besonders großem Pflichtbewusstsein noch mit Nachlässigkeit, weil sie bedeutungslos an ihm vorbeizog wie ein zarter Windhauch, der auf seinem Weg ein paar Gedanken einsammelt und mit ihnen dann gleichmütig in den weiten Himmel fortschwebt.
Nach der Arbeit fuhr er heim und aß das ihm aufgesetzte Abendessen, ohne dass er im Stande dazu gewesen wäre zu beurteilen, ob es ihm geschmeckt hatte oder nicht.
Nichtsdestotrotz war sein Körper nach dem Essen oft von einer eigenartigen Wärme erfüllt, sie gab ihm flüchtige innere Zufriedenheit, und er sehnte sich danach, sie für immer festhalten zu können.
Er schlief auch so ziemlich jeden Abend mit seiner Frau, manchmal weil er ihr einen Gefallen tun wollte, manchmal weil er sich lediglich seines sexuellen Verlangens entledigen wollte. Nachdem er gekommen war, beachtete er seine Frau nicht weiter, er ließ einfach von ihr ab, und wenn sie von ihm ihn den Arm genommen werden wollte, sagte er, er sei zu müde.
Schließlich rückte er das Kissen, das manchmal hart, manchmal sanft war, solange zurecht bis er endlich einschlafen konnte und zu leben begann. Er hatte auch die Hoffnung schon lange aufgegeben, sein Leben in den Tag führen zu können, und er wusste auch, dass es sowieso nicht möglich war, egal welche Anstrengung er auch unternommen hätte.
Heute jedoch hatte der Tag völlig unerwartet begonnen, und er wusste aufeinmal nicht, ob er sich noch länger treiben lassen wollte.
Der nasse Lappen im Waschbecken und der Umstand, dass seine Frau noch fest schlief ließen ihn plötzlich am ganzen Leib erschaudern.