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Sein letzter Kampf
Vor ungefähr drei Wochen war die Tür zum letzten Mal ins Schloss gefallen. Seitdem war er allein. Und seitdem kämpfte er gegen den Tod an.
Er, das war Albert Braun, er war 89 Jahre alt und lebte seit er sich erinnern konnte in diesem Berliner Mietshaus; anonym. So anonym wie die anderen neunundvierzig Mietparteien in dem grauen, heruntergekommenen Plattenbau.
Mit zitternder Hand griff er jetzt nach der Milchpackung, die seit über zwei Wochen auf dem Wohnzimmertisch stand. Er führte sie zum Mund und wollte trinken, endlich trinken, aber die einst frische Milch war längst sauer und verklumpt. Der alte Mann kämpfte gegen einen heftigen Brechreiz an, als die kleinen Brocken auf seine trockene Zunge platschten und er sie hinunterwürgte, aber es musste sein, es war alles, was noch da war. Ein bisschen Feuchtigkeit, mehr wollte er gar nicht. Das war sein großes Ziel an diesem Morgen gewesen.
Nachdem er sich beim Versuch aufzustehen, beide Beine und ein paar Rippen gebrochen hatte, hatte er aufgehört, sich zu hohe Ziele zu stecken. Seine Zukunft waren die nächsten fünf Minuten.
"Ich brauche noch meinen Tee, Tina", sagte Albert mit seiner schwachen, aber noch immer befehlsgewohnten Stimme.
"Ja, doch", rief Tina gereizt aus der Küche zurück. "Du kriegst deinen verdammten Tee. Du kriegst ihn, wenn ich dein Käsebrot in tausend kleine Würfel geschnitten habe, wenn ich mir an den Scherben die Hände aufgerissen habe und sobald ich deine stinkende Kacke aus der Couchritze gekratzt habe."
Die Scherben waren entstanden, als Albert gestern hinter sich gegriffen hatte, um nach dem Telefon zu tasten. Dabei hatte er versehentlich das teure Porzellangefäß von dem kleinen Tisch hinter dem Sofa geworfen. Er selbst konnte seit Monaten nicht mehr aufstehen, daher lagen die Scherben und der Inhalt des Gefäßes noch immer auf dem Wohnzimmerboden verstreut.
Der Inhalt war seine verstorbene Frau und das Gefäß selbst war ihre Urne gewesen.
Albert hatte geweint, als es passiert war. Es waren Tränen aus Wut über seine eigene Schwäche gewesen, Tränen aus immer noch frischer Trauer über seine verstorbene Frau und Tränen aus Hilflosigkeit, da er seiner Tochter jetzt zumuten musste, die Asche ihrer eigenen Mutter aufzukehren.
Sie, Tina, kam jeden Tag drei Mal vorbei, um ihn zu pflegen und zu füttern. Morgens, vor ihrer Arbeit, in der Mittagspause und abends nach Feierabend, seit einem knappen halben Jahr. Mit jedem weiteren Tag gelang es ihr zunehmend weniger, die bösen Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben. Die Dinge, die er früher mit ihr getan hatte - Dinge, die Väter nicht mit ihren kleinen Töchtern tun sollten - standen ihr immer klarer vor Augen und Albert wusste es. Er spürte es an ihrem Verhalten, an dem Ausdruck in ihren Augen und an der Art, wie sie redete. Er wünschte sich, dass das alles nie geschehen wäre, dass er stark geblieben wäre, aber ...
In der Küche fiel etwas scheppernd zu Boden. "Scheiße!", hörte Albert seine Tochter rufen. "Was hast du jetzt wieder gemacht?", rief er angestrengt herüber und schließlich kam sie aus der Küche heraus zu ihm ins Wohnzimmer.
"Ich kann es nicht mehr", sagte sie mit einer beängstigenden Endgültigkeit in der Stimme. Sie war nicht wütend, wie er erwartet hatte, sie war völlig ruhig. "Du bist alt, Vater, du hast dein Leben gelebt." Er verstand nicht, was sie meinte, bis sie alle Fenster verschlossen und am Sicherungskasten im Flur alle Schalter auf Aus gestellt hatte. "Es ist vorbei", sagte sie, während sie gerade das Telefonkabel aus der Wand riss und das Gerät selbst in ihren Einkaufskorb warf. "Ich muss mein eigenes Leben leben. Ich ... ich kann es einfach nicht. Es geht nicht mehr." Sie gab ihm einen letzten Kuss auf die Stirn und keine Minute später fiel die Wohnungstür zum vorerst letzten Mal ins Schloss.
Nach drei Tagen musste er aufstehen. Er musste irgendetwas essen und noch viel wichtiger: Er musste trinken. Also nahm er alle Kraft, die er in seinem alten, verdurstenden Körper noch finden konnte zusammen und stemmte sich aus eigener Kraft auf die Beine.
Ein erhabenes Gefühl verdrängte die Schmerzen für einen Moment. Er stand. Alle Ärzte dieser Welt hätten es für eine bodenlose Lüge gehalten, aber es war wahr. Albert Braun war aus eigener Kraft aufgestanden.
Als er den ersten Schritt wagte, kamen die Schmerzen sofort zurück. Sie kamen dieses Mal nicht aus der Magengegend oder dem trocken Hals, sondern direkt aus seinen Beinen. Sie rebellierten gegen die plötzliche Belastung nach monatelanger Untätigkeit und selbst der stärkste Überlebenswille hätte ihn nun nicht mehr halten können. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, er wankte unbeholfen hin und her und fiel schließlich der Länge nach auf den Boden, nachdem seine schwachen und porösen Beinknochen unter ihm wie Streichhölzer gebrochen waren.
Ein kurzer, trockener Schmerzensschrei erfüllte das Zimmer für einen Moment. Dann war es still.
Es dauerte über eine Stunde, bis Albert wieder ganz beisammen war. Der Durst war jetzt übermächtig. Wenn er jetzt nichts zu trinken bekam, würde er sterben. Also biss er die Zähne zusammen und zog sich mit seinen Armen Zentimeter für Zentimeter voran.
Wäre die Küchentür nicht nur angelehnt, sondern ganz verschlossen gewesen, hätte er von Anfang an keine Chance gehabt, aber in dieser Beziehung war das Glück auf seiner Seite gewesen. Er war bis zum Kühlschrank gekommen und hatte getrunken. Als nächstes hatte er nach dem Zipfel der grün-weiß-karrierten Tischdecke gegriffen und daran gezogen, bis sie auf dem Boden neben ihm lag. Schließlich hatte er dann mit den Armen sämtliche Lebensmittel aus dem dunklen und mittlerweile abgetauten Kühlschrank herausgeholt und auf die Decke fallen lassen, hatte daraus ein Bündel geschnürt und war damit zurück ins Wohnzimmer gerobbt, wo er sich unter beißenden Schmerzen wieder auf das Sofa gehievt hatte.
Das war vor sechzehn Tagen gewesen.
Albert ließ die letzte leere Milchpackung einfach fallen und sie landete neben ihm auf dem Haufen von Aufschnittpapier, Marmeladegläsern, Tetrapacks und allen möglichen Lebensmittelverpackungen. Er hatte nun gar nichts mehr, nichts zu essen und nichts zu trinken.
Er lag da und starrte an die Decke. Sein Rücken war wund. Seine Beine taten noch immer höllisch weh. Er konnte kaum atmen. Er hatte seine Stimme nach einigen kläglichen Hilferufen völlig verloren. Hinter ihm auf dem Boden lag noch immer die Asche seiner Frau. Das alles war schlimm, doch am schlimmsten war noch immer der Geruch. Er war seit über zwei Wochen nicht mehr auf einer Toilette gewesen.
Aber Albert spürte, wie ihm all das zunehmend unwichtig wurde. Er sah die Fliegen auf seinen Ausscheidungen landen und dachte daran, wie er als junger Mann mit seiner Tochter immer Schmetterlinge gefangen hatte, er hörte die Kakerlaken über den Boden trippeln und dachte an seine Schulzeit, wo er sich zum ersten mal aus dem Unterricht geschlichen hatte, um sich im Umkleideraum der Sporthalle heimlich mit einem Mädchen zu treffen, und einmal sah er eine Ratte in dem Haufen neben ihm wühlen und dachte an das Weihnachtsfest, als sie Tina den Hundewelpen geschenkt hatten. Wie sie lachen musste, als der tapsige Vierbeiner ihr das Gesicht abgeschleckt hatte, wie sie überhaupt nicht mehr hatte aufhören können zu lachen... O ja, er liebte seine kleine Tochter. Jetzt konnte er sie sehen. Sie stand direkt neben ihm und lächelte ihn an.
Die Haustür blieb noch drei weitere Wochen verschlossen.
Die Augen des alten Mannes schlossen sich an diesem Morgen für immer.