Mitglied
- Beitritt
- 23.06.2020
- Beiträge
- 1
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Sein
Eines Morgens legte sich Zahid nach unruhigen Stunden in sein Bett und schlief ein. Wenig später erwachte Marine. Sie sah mit einem müden Lächeln auf die Stelle, auf der Zahid lag. Viel Zeit hatte sie nicht, also verließ sie schnell die Wohnung und betrat den Trubel der Großstadt. Wie selbstverständlich schloss sie sich der Hektik an und wäre in der Masse an Menschen verschwunden, wäre sie nicht in Schlafkleidung. Noch trug Marine eine weite Boxershorts und ein altes Shirt, beides gehörte eigentlich Zahid. Zwar schenkte diesem Umstand keiner Beachtung, unwohl fühlte sie sich dennoch. Erst als sie sich in einer Umkleide eines Bekleidungsgeschäftes befand, die fremde Kleidung ablegte und in Kleidung, die ihr gefiel, schlüpfte, konnte sie ihr Tempo senken und tief durchatmen. Einzelne Tränen flossen auf Sommerkleider, Blusen, Röcke, Abendkleider, Morgenröcke, Sportbekleidung, Unterwäsche, Reizwäsche, Jäckchen… Nichts durfte sie behalten, also vertrieb sie sich die Zeit, indem sie immer wieder andere Kleidungsstücke anprobierte, um sich in diesen zu betrachten. So vergingen mehrere Stunden. Zumindest war der Laden sehr groß und hatte eine fast schon unrealistisch vielfältige Auswahl. Sie sah sich in einem Hosenanzug, in langen, indischen Kleidern, reich an Verzierungen, in Bikinis, in diversen Verkleidungen, Hochzeitskleider, Onesies, Trachten. Doch immer nach dem kurzen Moment der Freude kam der Moment der Resignation. Sie konnte diese Kleidung, dieses Ich nicht mitnehmen und musste wieder in die Boxershorts und das Shirt schlüpfen; sie konnte die falsche Haut nicht endgültig ablegen.
Willst du auch was kaufen oder nur das Sortiment verdrecken? Zwei Sicherheitsbeamte zerrten Marine halbnackt aus der Umkleide, bevor sie die Chance hatte, zu antworten. Hier ist nicht dein persönlicher Kleiderschrank. Marine wurde auf den Boden geworfen, nur mit der Boxershorts bekleidet und einem Top in der Hand. Geh doch in den nächsten Puff und verdien' dir neue Kleidung! Sie hetzten Marine lachend aus dem Laden, aber bemerkten das Top nicht. Als sie schon den Gehsteig entlanglief, hörte sie noch wie einer der beiden meinte, dass der Laden für Damen gedacht sei und nicht für Leute wie du. Hinter der nächsten Ecke zog sie das neue Top mit einem Lächeln über.
Zahid wurde vom Harndrang geweckt und sah, dass sein Bett leer war. Als er das Bad wieder verließ, überraschte ihn seine Mutter. Ihm ins Zimmer folgend, durchlöcherte sie ihn mit Fragen über die letzte Nacht. Auf dem Boden sah sie die Kleidung einer Frau, sofort zog sie einen Hausschuh aus und schlug auf Zahid ein. Du bringst Schande über diese Familie. Entehrt solltest du werden. Gott wird schon über dich richten. Der Herr Christus sollte auf dich spucken. Jeder Satz wurde von einem Schlag begleitet. Zahid kugelte sich lediglich teilnahmslos auf dem Boden ein, sein Gesicht mit den Händen beschützend. Immerhin war Vater nicht zuhause. Als seine Mutter fertig war, blieb er liegen bis er wieder einschlief.
Am Nachmittag saß Marine mit leichten und tiefen Verletzungen in einem Café. Ihr Kaffee, Madame! Sie lächelte zurück und nickte dem Kellner freundlich zu. Immer noch lächelnd, blickte sie sich um und dann auf ihr neues Top runter. Es war in einem hellen Lila gehalten, mit einem Knoten um ihren Hals befestigt, viele Fransen, die ihr besonders gefielen. Sie nahm einen Schluck. Hatte sie schon mal einen so guten Kaffee getrunken? Auf einmal tauchte Zahid auf und setzte sich neben sie. Er hatte ähnliche Verletzungen. Eine schöne Dame wie sie sollte ihren Kaffee doch nicht allein genießen müssen. So werde ich zumindest von seinem Geschmack nicht abgelenkt. Zahid ließ sich nicht beirren. Wie heißt du denn? Marines Augen weiteten sich leicht. Erkennst du mich denn nicht wieder? Zahid legte den Kopf leicht schräg und zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht auch besser so, ich will nämlich nichts mehr mit dir zu tun haben. Sie war gerade am Aufstehen, als Zahid sie schnell an der Hand festhielt. Aber wir gehören doch zueinander! Marine schüttelte den Kopf, ihre Augen waren feucht. Zahid drückte fester zu und wurde lauter. Lass doch endlich deine komischen Einbildungen und akzeptiere mich! Marine versucht sich zu lösen. Ich will aber mich akzeptieren. Marine zitterte, als Zahid sie auch mit der zweiten Hand packte, sie nah an sich zerrte. Was zur Hölle ist dein Plan, dir hier und da Kleidung ergaunern und in ablegenden Cafés sitzen, wo soll dein verdammtes Leben denn hinführen, wohin, was willst du tun? Er starrte sie an, sie hörte auf zu zittern, Tränen liefen ihre Wanger runter. Sein. Ich will einfach nur sein. Zahid zitterte, ließ ihre Hand los und lief davon.
Marine saß wieder in seinem Zimmer, konzentriert atmend. Mittlerweile ruhig nahm sie einen kleinen Koffer aus dem Schrank und began zu packen, nicht viel, das meiste wollte sie sowieso zurücklassen, fremde Sachen. Sie zog die Kleider, die auf dem Boden lagen, an. Die Eltern saßen im Wohnzimmer und aßen Gebäck, um die Veröffentlichung einer Studie des Vaters zu feiern, als Marine das Zimmer betrat. Langsam durchquerte sie das Zimmer, einen Koffer hinter sich herziehend. Was, bei Gott, trägst du da? Keine Reaktion. Beide Eltern richteten sich hitzig auf, die Mutter den Hausschuh erhoben, der Vater mit sichtbaren Adern am Hals, schreiend, tobend. Reagiere, wenn deine Mutter mit dir spricht, Zahid, wie kannst du es wagen, was willst du tun! Marine drehte sich langsam um, Tränen liefen ihre Wangen runter. Sein. Ich will einfach nur sein. Es ist nur noch die zufallende Haustür zu hören.