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Seine Zuflucht
Schon lange, viel zu lange war er nicht mehr hier gewesen. Sein Beruf und seine privaten Verpflichtungen nahmen ihn so sehr in Anspruch, dass er sich einfach nicht oft genug die Zeit nehmen konnte hierher zu kommen. Gerade jetzt im Sommer war es besonders schön hier. Die grosse Wiese auf dem Hügel. Direkt neben dem Wald. Nur ein einfacher, holpriger Feldweg führte hier hinauf und in all den Jahren die er hierher kam, hatte er nur selten andere Menschen hier getroffen. Und es waren mit der Zeit sogar noch weniger geworden. Diese Ruhe in der Natur war heute nicht mehr so gefragt wie früher. Er war noch zur Schule gegangen damals, als er, seine Erkundungskreise rund um sein Elternhaus immer weiter ziehend, diesen Platz entdeckt hatte. Er war vom Zauber dieser Wiese eingefangen worden und konnte sich ihm seither nicht mehr entziehen. Heute besuchte man entweder einen lärmenden Vergnügungspark, oder man legte sich in den eigenen Garten. Wer machte sich schon auf den langen Weg zu einer einsamen Wiese am Waldrand. So war er auch heute, an diesem herrlichen Spätsommertag, wieder allein hier. Er ging zuerst ein kleines Stück vom Weg in die Wiese hinein, die zu dieser Jahreszeit in sattem Grün stand. Die Gräser trugen schwer an ihren vollen Fruchtständen und überall wimmelte es von Bienen, Schmetterlingen und allerlei anderem Getier, dass sich zwischen all den Blüten und Früchten der Wiese wie im Garten Eden vorkommen musste. Die Sonne schien kraftvoll von einem wolkenlosen Himmel und Nahrung gab es für sie im Überfluss. Er sog die üppige Natur rings umher förmlich in sich auf, so wie er es schon oft getan hatte um hier seine Seele baumeln zu lassen und seine mentalen Batterien wieder aufzuladen. Hier fand er Ruhe und gewann Abstand von der ihn sonst ständig umgebenden Hektik. Auch zu anderen Jahreszeiten war er immer wieder hier gewesen, aber der Sommer, wenn die Sonne ihr bestes gab und das Leben um ihn herum brummte, war seine liebste Zeit für einen Besuch in seinem persönlichen Paradies. Er war mittlerweile fast bis zur Mitte der Wiese geschlendert und hörte gerade einer Lerche zu, die steil aufsteigend ihr Lied zwitscherte, als er beschloss, heute wieder einmal etwas länger hier zu verweilen. Sein Jackett hatte er ohnehin im Auto gelassen, er lockerte seine Kravatte, öffnete sein Hemd und streckte sich mitten auf der Wiese lang aus. Die Gräser um ihn herum schienen bis in den Himmel zu wachsen und er fühlte sich auf eine wunderbare Weise glücklich. Hier war nichts von dem wichtig, was sonst sein Leben beherrschte. Hier regierte eine Art von Frieden, die es sonst nirgendwo auf der Welt zu geben schien. Die Luft war erfüllt vom Surren und Summen der Insekten, vom Zwitschern der Vögel und schwer von unbeschreibbaren Duft nach Reife und Fülle. Wie von selbst gingen seine Gedanken auf die Reise durch diese Welt der Gräser und Insekten und innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen. Er träumte davon, ein Teil dieser friedlichen, stillen und übersichtlichen Welt geworden zu sein. Er träumte sich in die Gestalt eines jener Tiere, von denen er glaubte, sie müssten in dieser ihrer Welt glücklich sein. Gerade hatte er in seiner Traumgestalt zu einem Rundflug über die Wiese abgehoben, da holte ihn ein dumpf pochendes Geräusch jäh in die reale Welt zurück. Die Wiese schien unter ihm zu beben und er brauchte einen kleinen Moment um wieder vollständig in die Wirklichkeit zurückzukehren. Das seltsame, unbekannte Geräusch, das ihn so unsanft geweckt hatte, war in der Zwischenzeit so nah gekommen, dass er sich besorgt aufrichtete um sich nach der Quelle der Störung umzuschauen. Abrupt setzte er sich inmitten der Wiese auf und das letzte was er in seinem Leben sah, war das Entsetzen im Gesicht des Traktorfahrers der sein Fahrzeug mit dem grossen Mähwerk nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte.