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Sektfrühstück
Der Wecker auf seinem Nachttisch tickte unablässig weiter. Wie lange tat er das schon? Er musste sich eingestehen, dass er schon zu viele endlose Stunden mit fixiertem Blick auf die weiße, komplett leere Wand in seinem Zimmer verbracht hatte, als dass er sich noch an das gleichmäßige Ticken seines Weckers erinnert fühlte.
Auch heute war wieder alles demselben, trägen Schema gefolgt: Er war früh morgens aus unruhigen Träumen aufgewacht und war nicht in der Lage genau zu beurteilen, ob er überhaupt geschlafen hatte, denn seine Augenlider fühlten sich immer noch sehr schwer an. Das taten sie jedoch immer.
„Irgendwie seltsam“, dachte er, als er auf seinen Wecker blickte. Dieser zeigte genau 6.59 Uhr an. Er hatte ihn zu 7.00 Uhr gestellt. Er fühlte sich ziemlich leer und wusste genau, dass diese Leere den ganzen Tag nicht mehr weichen würde. Eigentlich realisierte er es nicht wirklich. Man könnte es mehr mit einer Gewissheit, die tief in ihm verwurzelt schien, beschreiben.
Er blieb noch kurz liegen und wartete gespannt auf das wohlbekannte Klirren seines Weckers. Dem aufschreckenden Geräusch Folge leistend, rappelte er sich etwas überheblich auf und stieß sich den Kopf an dem Regal, dass in unmittelbarer Entfernung über seinem Bett angebracht war. Er stieß einen kurzen, schrillen Schmerzlaut aus und rieb sich den Kopf. Jedoch realisierte er direkt, dass er keinen wirklichen Schmerz empfand, sondern der Schrei nur auf den Schreck zurückzuführen war. Eher war er dem Regal dankbar. Ja, dankbar dafür, dass es ihn fast tägliche daran erinnerte, dass er lebte, dass sein Körper noch imstande war Gefühle wahrzunehmen.
Nun zog er die übliche Prozedur durch, die sich aus nicht mehr als zwei Minuten Zähneputzen, einem sanften Betasten der vielen vom Regal verursachten Beulen und einem gezielten Blick in den teilweise zerbrochenen Spiegel, der leider unvermeidbar war und einem kargen Frühstück, welches 364 Tage im Jahr aus Toast und Nougat Creme bestand, zusammensetzte.
Alles schien wie immer, doch heute war etwas anders. Er bemerkte es gerade, als er seinen Toast in den dafür vorgesehenen Toaster schieben wollte und dabei zum Kalender hinüberschielte. Dort war ein großer runder Kreis um den heutigen Tag, den 21. November, gezogen.
Wie konnte er das nur vergessen? Er gab ein vorwurfsvolles Seufzen von sich. Die Wahrheit jedoch war, dass er es nicht vergessen hatte. Das wäre nicht möglich gewesen und das wusste er selber. Es schien, als hätte er es verdrängt, um sich die Freude für den heutigen Morgen aufzusparen. Denn heute war ein besonderer Tag. Heute war der 365. Tag. Der Tag, an dem etwas anders war als sonst, denn heute traf er sich, wie er es schon seit mittlerweile fünf Jahren zu tun pflegte, mit seinen besten Freunden zu einem Sektfrühstück im „La Rapule“, einem französischen Lokal, in dem man wunderbar frühstücken konnte. Er wusste zwar, dass er nicht im Stande war einen objektiven Vergleich zu ziehen, da es das einzige Lokal war, das er je besucht hatte, aber darüber machte er sich heute keine Sorgen. Heute mal nicht.
Er warf einen raschen Blick auf seinen Wecker, der beständig weitertickte, als er mit dem Duschen fertig war. Er fühlte sich nicht schlecht. Er war überrascht, dass er nicht in der Dusche geweint hatte, wie er es so oft tat, wenn er sich seiner Klamotten entledigte. Ehe er den Gedanken verwerfen konnte, fand er auch schon eine passende Antwort: Ja, dachte er, als die Tür seiner Zweizimmerwohnung hinter ihm ins Schloss fiel, ja, heute ist etwas anders. Man könnte fast meinen, ein kleines Lächeln wäre über seine blassen Lippen gehuscht, doch das Gesicht nahm schnell wieder den gewohnten leeren, starren Blick an.
Er verließ den Plattenbau, den er sein Zuhause nannte und sagte: „Der Tag ist etwas besonderes.“ In Wirklichkeit dachte er es mehr, als dass er es aussprach, denn er sprach selten. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gesprochen? Diese Frage kam ihm in den Sinn, als er die für November relativ warme Luft tief einatmete.
Seine Mine verzog sich etwas, denn er dachte sehr angestrengt nach. Dabei konzentrierte er sich kaum darauf, wohin ihn seine Beine trugen. Er war diesen Weg schon oft genug in seinen Tagträumen gegangen und war nun wohl darauf bedacht, ihm keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
So ging er an all den grünen Tannen, die in den Vorgärten der ganzen Mehrfamilienhäuser standen, dem mit Laub bedeckten Straßenrand und den noch lasch leuchtenden Laternen vorbei.
Die Sonne war gerade im Begriff aufzugehen, wurde jedoch von dicken Wolken verschleiert, als er auf einmal mit dem Finger schnippte. Er wusste nicht genau, wieso er das tat, aber es war etwas Besonderes, denn heute war ein besonderer Tag.
Eine Weile später erreichte er das „La Rapule“, dass gerade von seinem Inhaber aufgeschlossen wurde. Ein zufriedener Blick auf seine Uhr signalisierte ihm, dass er genau pünktlich war. Der Besitzer trat ein und Er folgte ihm nicht ohne vorher einen Rundblick über die Straße zu werfen, um vielleicht schon einen seiner Zeitgenossen für den heutigen Morgen zu sehen.
Jedoch wurde ihm diese Gunst nicht zuteil und er trat, dennoch ziemlich guter Dinge, in das Lokal ein und setzte sich umgehend an den Tisch, den er noch vor ein paar Monaten, genauer gesagt im August, persönlich bestellt und reserviert hatte. Er war mächtig stolz auf sich und war sicher, dass seine Freunde diesen Stolz teilen würden, wenn sie sähen, dass er die Reservierung mal wieder sauber und ordentlich erledigt hatte.
Kurz darauf brachte der Kellner die ersten frischen Brötchen und den Sekt für vier Personen. Alles war so, wie er es sich ausgemalt hatte. Jetzt fehlten nur noch die Gäste. Er beschloss ihnen eine gewisse Verspätung nicht zu verübeln, da sie in einiger Entfernung wohnten. Er wartete.
Ein paar Stunden waren bereits vergangen, da traf auch schon der zweite Kellner ein, der für den zu Mittag aufkommenden Hochbetrieb benötigt wurde. Er schielte aus seinen Augenwinkeln kurz zu dem Viermanntisch, der nur mit einer Person besetzt war, herüber und steuerte dann direkt auf seinen Arbeitskollegen zu. Er fragte ihn: „Ist es schon wieder so weit?“
Der andere antwortete mit mitleidiger Mine: „Ja, es ist der 21. November. Heute ist der schlimme Verkehrsunfall hier um die Ecke, bei dem der Kerl seine drei besten Freunde alkoholisiert in den Tod gefahren hat, genau fünf Jahre her.“
„Hm, schlimm so was. Ich meine, wie er da sitzt, so ganz alleine, ist echt traurig mit anzusehen. Kann man ihm denn nicht irgendwie helfen?“ Der andere Kellner blickte ihn leicht vorwurfsvoll an.
„Irgendwer kann das sicherlich, aber das geht uns nichts an.“
Sein Gegenüber entgegnete schon fast entsetzt:
„Aber wenn nicht wir, wer soll das denn dann machen? Ich befürchte, dass außer uns kaum jemand überhaupt von der Existenz dieses Typen Bescheid weiß! Er braucht Hilfe, er hat niemanden! Schau ihn dir an!“ Die beiden warfen nahezu gleichzeitig einen Blick zum einseitig besetzten Tisch herüber. Der erste Kellner funkelte den anderen böse an:
„Schlag dir das aus dem Kopf! Würdet ihr die Rollen tauschen, würde der Typ dir auch nicht helfen! Es steht uns einfach nicht zu uns in das Leben unserer Gäste einzumischen und nun weiter an die Arbeit!“
Kurz darauf stand der junge Mann, der ganz alleine an dem Tisch saß, auf, schob seinen Stuhl ordentlich zurück, bezahlte die Rechnung und verließ das Lokal.
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