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Sektor 11
Der Volocopter fliegt eine steile Kurve und mein Magen rebelliert. Die Quittung für meine Gier beim Willkommensbuffet. Aber wer hat sich schon zurück gehalten? Nach Sechs Jahren Synthetik Fraß stürzt man sich auf echte Nahrung wie ein Kind auf Süßigkeiten. Ohne daran zu denken, dass die Lufttaxis mittlerweile enger sind und schneller fliegen.Ich ziehe klimatisierte Luft durch die Nase. Schließe die Augen. So habe ich jeden Atmosphäreneintritt überstanden. Beherrschung ist wichtig, denn ein Leutnant kotzt nicht. Jedes Zeichen von Schwäche ist inakzeptabel. Auf Alamea funktioniert man, sonst ist man so gut wie tot.
Und mein Körper lässt sich austricksen. Tiefe Atemzüge verlangsamen meinen Puls. Wie oft hat mir diese PSI-Kontrolle das Leben gerettet! Wahrscheinlich ist sie das wichtigste, was man in der Force lernt. Die Übelkeit ebbt ab. Nur noch ein kleines Flackern über meinem Nabel, aber auch das wird schnell schwächer. Ich öffne meine Augen. Laura tanzt vor mir. Ihre brünetten Locken wirbeln durch die Luft und die rosa Lippen öffnen und schließen sich. Sie wirft mir Kusshände zu, bis ich es nicht mehr ertrage. Ich klappe die Hand zusammen und ihr Hologramm verschwindet.
Regenwasser läuft in dunklen Schlieren am Fenster des Volocopters hinab. Es wirkt schwarz, wie geronnenes Blut. Und ich frage mich, warum ich nicht weinen kann. Sechs Jahre habe ich sie nicht gesehen. Gar nicht. Auch kein VR und kein Holo. Auf Alamea gibt es nur E-Mails. Vorsintflutliche Kommunikation aus dem letzten Jahrhundert, seitdem die Picker unsere KI sabotiert haben.
Kann man sich das vorstellen? Hallo wie geht es dir? Schön, dass du schreibst. Ich liebe dich. Kein Sehen, Hören, Schmecken. Kein Gefühl. Nur das geschriebene Wort. Welche Bedeutung liegt darin? Und nun bin ich hier. Ein Fremder in der eigenen Heimatstadt. Fliege zu unserer Wohnung. Zu einer Frau, die ich nicht mehr kenne, und einem Sohn den ich gar nicht kenne.
Sie hat lange geweint, als ich ihren Bauch gestreichelt hatte. Damals habe ich zwei kleine Tritte gespürt, als wolle selbst das Baby gegen die Einberufung protestieren. Da hatte ich mein Versprechen noch ernst gemeint. Wer möchte nicht die Geburt seines Kindes erleben? Aber beim Stab haben sie sich mit meinen Anträgen wohl den Arsch abgewischt.
Als Marius geboren wurde, saß ich unter Blättern, so groß wie Elefantenohren, und der Monsun trommelte auf meinen Helm. Als er laufen lernte, steckte ich in einem Schlammloch und verlor drei Kameraden an die Picker. Und seine ersten Worte las ich in einer E-Mail, während ich Nudeln aß, die nach Plastik schmeckten. Nach der Offensive im Flusstal war ohnehin alles vorbei. Soldaten waren nötiger als Studenten. Früher nachhause kam man nur noch im Sarg.
Durch die getönten Scheiben blitzen die Neonschilder des Geschäftsviertels. Am Horizont erkenne ich die ersten Ausläufer der Wohnblocks. Rechteckige, glatte Säulen, die wie Finger eines Riesen in den Himmel zeigen. Drohnen schießen wie leuchtende Wespen umher. Das ist das gleiche leuchtende Inferno wie damals im Flusstal. Ich kann noch das MG-Feuer hören. Und ich sehe diesen Jungen, kaum drei Tage im Einsatz den ich hinter mir herziehe. Die Blutspritzer auf den Palmenblättern. Wie sich die Moskitos auf sein Gesicht setzten, als er bleich wurde. Das Dickicht. Die Dunkelheit. Und die Picker. Wir kämpften gegen Schatten.
Laura hat zu mir gehalten. Sie schrieb E-Mails wie Romane und erzählte mir, dass sie wieder malte. Sie backte Zimtkuchen. Marius war zum ersten Mal im VR gewesen und hatte gequietscht vor Freude. Leere Worte, die immer bedeutungsloser wurden. Diese Welt verblasste. Meine Realität bestand aus Blut, Eingeweiden und Schädelsplittern. Hätte ich ihr davon erzählen sollen? Ich konnte es nicht, weil ich keine Worte fand. Wer Zimtkuchen beim aufgehen beobachtet kann sich keine blutige Dschungelhölle vorstellen. So wurden ihre Nachrichten länger und meine kürzer.
Und dann schrieb Lilija das erste Mal. Die erste Nachricht hielt ich für einen Scherz. Die Art von Humor, die man nur in der Force kennt. Wir schreiben ihm einen Liebesbrief und lachen uns kaputt! Dann kam eine weitere Mail. Ich las Dinge, die nur wir beide wussten. Wir köpfen eine Flasche am Alex wenn du zurück bist. Und diesmal spring ich rein. Rotwein am Alexanderplatz. Lange Gespräche über Kunst und Politik. Und ein betrunkener Sprung ins dreckige Brunnenwasser. Ich fühlte die Heimat mehr als in jedem von Lauras Worten. Und ich konnte wieder lange Nachrichten schreiben. Lilija hörte zu. Und, was viel wichtiger war, sie verstand.
Das Taxi geht in den Sinkflug. Ich spüre ein Vibrieren und die Seitentür öffnet sich mit einem zischenden Geräusch. Als ich mich aus der engen Kapsel schäle, trifft mich kühle Luft. Ich sehe den roten Lichtern der Maschine nach, die sich wie eine deformierte Libelle in die Luft schraubt. Es riecht nach Blumen. Die Häuserwände werden von Ranken überzogen. Dazwischen leuchten die Fenster wie die Augen eines Raubtiers.
Ich blicke hoch zum ersten Stock. Gelbes Licht hinter kalten Glasscheiben. Irgendwo dahinter läuft mein Sohn. Er wartet auf den Vater, den er nie gesehen hat. Laura wartet auf den Partner, um den sie jahrelang Angst haben musste. Sie wird gekocht haben. Ihr eigenes Willkommensbüffet. Hat Marius ein 3D Bild für mich erstellt? Wird er die Daten löschen, sobald er merkt, dass ich nicht komme? Was werden sie später über mich sagen?
Dein Vater hatte seine Gründe.
Zu neutral.
Er war ein selbstsüchtiges Arschloch.
Was nicht stimmt.
Der Krieg hat ihn zerstört.
Was definitiv stimmt.
Meine Fingernägel graben sich in die Handflächen. Ich presse die Kiefer zusammen, dass es schmerzt. Heute Abend wird es hinter diesen Fenster keine Freude geben. Nur Trauer, Zweifel und Wut. Sie werden um mich weinen. Ich weine nicht. Gerne würde ich mir Tränen in die Augen pressen. Ich sollte heulen und mich schütteln. Aber ich bin wie betäubt.
Eine Weile blicke ich noch zu den Fenstern hoch. Vielleicht erhasche ich eine kleine Bewegung, einen Schatten. Ein kleines Stück meiner Familie, die ich nicht haben werde. Dann ist es vorbei. In der Ferne bellt ein Hund. Mein Weckruf. Ich hebe die gestreckten Finger an die Schläfe und verabschiede mich nach Art des Militärs. Dann tippe ich mir an die Brust und schalte mein Smart VR stumm. Ich drehe mich um, und lasse mein altes Leben hinter mir. Sektor 11 erwartet mich.
Mein Atem wirft kleine Wolken in die feuchte Nachtluft. Erinnerungen winken mir aus jeder Häuserzeile zu. Die Quallenchips und das Brotbier im Twenty4 Imbiss. Die Schlachten gegen meinen Bruder in der E-Sport Halle. Spaziergänge mit Laura in den schwebenden Gärten. Ich will nichts mehr sehen und bin froh, dass es irgendwann dreckiger wird. Ich betrete die Randbezirke. Weniger Pflanzen, mehr nackte Wände. Kaum noch Neonschilder. Und dann stehe ich davor. Die Kuppel, ein Monster aus Stahl und Glas. Die Grenze zwischen Sektor 10 und 11. Auf dieser Seite sind die Scheiben schön poliert. Aber der Dreck von draußen schimmert durch.
Ein Teil der Stadt, den ich nur aus der Ferne gesehen habe. Man will uns einreden, dass wir alle gleich sind. Jeder kann es schaffen und sich ein schönes Leben unter der Kuppel erarbeiten. Mit sauberer Luft, sicheren Straßen, Schulen, E-Sport Hallen. Aber jetzt weiß ich es besser. Der Zufall unserer Geburt bestimmt unseren Status. Der Westen für die Reichen, der Osten für den Rest.
Das wird der gefährlichste Moment. Ich muss durch die bewachte Schleuse. Und der Wachmann an diesem Durchgang ist kein Jungspund. Harte Züge um seine Mundwinkel und der bohrende Blick seiner Augen verraten es: Ein Veteran wie ich. Er wird sich nicht verarschen lassen. Also hebe ich meine Hand, noch bevor er den Mund öffnen kann. Er erkennt das Force Symbol und scannt meinen Rang. Dann salutiert er, aber sein Blick ist immer noch skeptisch. Ich höre seine Stimme. Rau und dunkel. Die Folge von zuviel Tabakerhitzer.
„Guten Abend, Leutnant. Wie kann ich helfen?“ Er sieht mir genau in die Augen.
„Kameradenbesuch, Feldwebel. Ich bin gerade aus Alamea zurück und möchte einen alten Freund treffen.“ Kein Zittern in meiner Stimme. Es ist die beste Lüge, die ich erzählen kann.
Er zieht die Augenbrauen nach unten. „Sie haben Freunde in diesem Drecksloch?“ Er blickt hinter sich zur Schleuse
Ich nicke. „Mehrere. Wir waren im Flusstal.“
Seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. „Ein Leutnant, der sich um die Ostler kümmert. Respekt! Sie sind einer von den guten.“
Ich gehe darauf ein und lächle ebenfalls. „Danke“, sage ich, „Wo haben sie gedient?“
Er wischt sich Rotz von der Nase „Brückenkopf C6. Ich hatte Glück. Flusstal, Herrgott! Sie können froh sein, dass sie es geschafft haben. Ich hatte auch ein paar Ost-Freunde. Die haben es alle nicht überlebt.“
Wir fixieren beide den nassen Asphalt. Unsere Erinnerungen scheinen sich zu verbinden. Eine stille Übereinkunft, weil wir die gleichen schlimmen Dinge gesehen haben.
Ich zwinkere kurz. Keine Tränen. „Nun, Feldwebel...“, sage ich und deute auf die Schleuse, „Darf ich dann?“
Er zieht zwei Finger an seinen Helm und lächelt wieder. „Ja sicher. Alles gute! Und grüßen sie ihre Freunde von mir!“
Ein Hebel wird betätigt. Die Schleuse öffnet sich mit einem schmatzenden Geräusch, gefolgt von einem Zischen. Ich gehe hindurch. Es ist ein langer Schlauch und mehrere Zwischentüren schließen sich hinter mir. Der Übergang nach Osten. Mir wird klar, dass sich beide Welten nie berühren sollen. Und dann bin ich draußen. Der Gestank schlägt wie eine Faust in mein Gesicht. Ich rieche verbranntes Öl, Abgase und Fäkalien. Die Häuserwände sind von einem braunen Film überzogen. Die Straßengleiter lassen ihre notdürftig geflickten Motoren röhren. Ich blicke nach oben. Die Schlote der Raffinerie sind im dichten Smog kaum zu erkennen. Sektor 11. Der Platz der Industrie, der Verschmutzung und der Gifte. Heimat der Arbeiter, Kriminellen und Ausgestoßenen.
Ich ziehe mein Halstuch über die Nase und muss trotzdem husten. Dann haste ich schnell in die erste Seitengasse, weil mir der Wachmann nachblicken könnte. Der Boden ist mit Abfall übersäht und ich sehe zwei bewusstlose Junkies, die an der Mauer lehnen. Ich habe mir den Weg eingeprägt, weil ich kein SmartVR benutzen darf. Aber es ist schwierig, in diesem ranzigen Dunst etwas zu erkennen. „Hey Westler! Hast dich verirrt?“, höre ich hinter mir und gehe schneller. Ich kann mich wehren, aber hier gelten andere Regeln. Was wäre das für eine Ironie. Die höllischen Dschungelkämpfe überlebt, um von einem Drogenabhängigen in Sektor 11 aufgeschlitzt zu werden.
Ich renne und versuche, keinen Fehler zu machen. An der Statue links, die Treppe hinunter, Querstraße 1, Querstraße 2, bei der großen Lagerhalle rechts einbiegen. Und schließlich sehe ich sie. Erkenne ihren Rücken, die magere Taille. Und das lange schwarze Haar, das sich glatt über ihre Schultern legt, als würde Tinte hinab laufen. Es ist soweit. Ich habe einen Weg gewählt, der alles ändern wird. Mein Mund ist trocken und ich kann nur krächzen. „Lilija?“
Sie dreht sich um. Die gleichen eleganten Bewegungen. Ihre Wangen sind feucht. Warum kann ich nicht weinen? „Raphael!“ schluchzt sie und fällt mir um den Hals. Sie drückt mich lange, und der saubere Geruch ihrer Haare überdeckt die verpestete Luft.
Dann löst sich ihre Umarmung und sie sieht mich an. Aus dem strahlenden Blau ihrer Augen blitzt tiefe Erleichterung. „Du hast es geschafft! Ich bin so froh!“ seufzt sie.
„Ich war bei Lauras Haus.“, antworte ich.
Sie nickt und streichelt über meinen Arm. „Das verstehe ich. Es tut mir leid. Aber du tust das richtige.“
Ich höre die stampfenden Geräusche der Fabriken. Atme weiter verschmutze Luft ein, und beginne mich zu fragen, was Liebe bedeutet. Was nehmen wir auf uns, um unser Leben mit einem anderen Menschen zu teilen? Und was treibt uns davon weg? Unzählige Gedanken, die zu nichts führen und nichts besser machen. Und dann packt mich Lilija am Arm.
„Wir müssen gehen“, sagt sie und zieht mich durch weitere düstere Gassen. Häusertreppen, glitschig vom Dreck. Fenster, die seit Jahren nicht mehr geöffnet wurden. Aber sie kennt den Weg. Das ist ihr Gebiet, sie kennt es seit ihrer Geburt. Vor einem alten Torbogen bleiben wir stehen. Es sieht aus, als würde er bald einstürzen. Lilija beginnt zu tanzen.
Ich bin zu überrascht, um etwas zu sagen. Ihr Schuh spielt einen komplizierten Rhythmus auf dem Boden, wie beim Steptanz. Es klingt hohl und dann begreife ich es: Es ist ein Code. Direkt vor ihr wird quietschend eine Klappe aufgeschoben. Die Schmutzschicht hatte sie unsichtbar gemacht. Ein schwaches Leuchten dringt aus der Öffnung und am Rand lehnt ein großer Schatten. Eine tiefe Stimme vibriert. „Lilija?“
Wir gehen vor und aus dem Schatten schält sich ein fleischiges Gesicht mit einer Augenklappe. Die dunkle Haut wird von einer Narbe verunstaltet, die sich quer über die linke Wange zieht. Seine Augen fixieren mich. „Der ist es?“, wendet er sich an Lilija, „Ein Westler?“
„Ich kenne ihn schon lange“, erwidert sie, „Er war auf Alamea.“
„Das heißt gar nichts!“ Er spuckt auf den Boden.
„Ich hab` genug Westler gekannt, die uns alle ins Feuer geschickt haben. Die wenigsten waren gut.“
Ihr Blick wird zornig. „Er schon. Denk dran, wer ihn hierher bringt. Also lässt du uns jetzt rein, oder was?“
Er brummt unverständlich und verschwindet im Loch. Lilija winkt mir zu. „Los komm!“ Wieder ein Durchgang. Immer wieder Passagen. Sie lässt sich in die Dunkelheit fallen. „Pass auf der Leiter auf!“, ruft sie hoch. Echos. Bis zum Boden scheint es weit zu sein.
Langsam klettere ich ihn die Tiefe. Ein sumpfiger Geruch umfängt mich, aber es riecht besser als an der Oberfläche. Ich erreiche die letzte Sprosse. Meine Schuhe knirschen und ich bin blind. Die Dunkelheit wird nur von einem kleinen Licht durchbrochen. Wie weit entfernt es ist, kann ich nicht abschätzen. Dann spüre ich Lilijas Hand und zucke kurz.
„Alles gut!“, sagt sie sanft. Wir sind gleich da. Wieder bleibt mir nur Vertrauen. Ich bin Theseus, sie ist mein Faden. „Das ist die Tür“, sagt sie und ich frage mich, wie sie überhaupt etwas erkennen kann. Licht blendet mich. Es dauert einen Moment bis sich Formen heraus schälen. Narbengesicht steht vor mir und jetzt sehe ich, wie groß und muskulös er ist. Sein heiles Auge durchdringt mich wie der Blick eines Raubvogels. Vor mir erstreckt sich ein langer Raum. Blechschränke stehen dicht an dicht. Flackernde Lampen sind in die Decke geschraubt. Ich erkenne Stockbetten weiter hinten. Es riecht nach Schweiß und Alkohol
„Hier bist du nicht gern gesehen, Westler“, zischt der Vernarbte. „Wenn du Vertrauen willst, musst du es dir verdienen. Er deutete auf eine Gruppe zerlumpter Gestalten, die mit einer Flasche hochprozentigem beschäftigt waren. „Rumänen, Bulgaren, Polen… Lauter Ostler, die auf diesem Scheißplaneten von Leuten wie dir verheizt wurden.“
„Ich habe nie“, setze ich an, aber Lilija fährt dazwischen. „Schluss jetzt!“, faucht sie.
„Er hat seine Frau und sein Kind zurückgelassen, um zu uns zu stoßen. Seinen Sohn hat er nie gesehen. Nie! Ist das Beweis genug? Er hat die gleiche Hölle durchgemacht wie ihr. Und anstatt nachhause zu gehen, kommt er zu uns. Wärst du auch so mutig gewesen. Sag es mir Jan! Hättest du das fertig gebracht?“
Die Veteranen lösen ihren Blick von der Schnapsflasche. Jan blickt ihr ins Gesicht und seine Lippen sind fest zusammengepresst. Es knackt als er die Finger seiner Handprothese zur Faust ballt. Ich frage mich, ob ihr Verhalten klug war. Jan ist offensichtlich ein Leitwolf. Auch hier ist Schwäche inakzeptabel. Ich mache mich bereit zum Kampf. Aber er tut nichts. Sieht sie nur an. Dann schüttelt er den Kopf, geht zu den anderen und verlangt nach der Flasche. Ich begreife es: Lilija steht weiter oben. Was ist in den sechs Jahren mit ihr passiert?
„Tut mir leid!“, sagt sie, „Du wirst dich an sie gewöhnen. Wenn es drauf ankommt, kann man sich auf sie verlassen.“
Ich beobachte, wie Jan den halben Inhalt der Flasche auf einmal trinkt und bin mir nicht so sicher.
Im flackernden Licht erkenne ich mehrere Gänge die aus dem Raum abzweigen. „Was ist das hier eigentlich?“, frage ich sie.
„Ein stillgelegter U-Bahn Schacht.“
Ich stutze. „Die gibt es noch?“
„Der komplette Sektor ist voll davon. Und bis die spitz kriegen, wo wir sind, haben wir uns längst zu einer anderen Station verzogen. Sie finden uns nicht.“
Ich sehe sie an, und wieder wundere ich mich über die Härte in ihren Zügen. Etwas schwarzes und glattes erscheint in ihrer Handfläche. Fast erkenne ich es nicht.
„Ein Smartphone?“
„Das wird deins.“, sagt sie, „Damit kommunizieren wir. Keine Überwachung. Die Dinger können alle kein VR.“
„Ihr habt viel erreicht.“
„Nicht genug“, sagt sie und blickt traurig zur Seite. Das Smartphone leuchtet in ihrer Hand. „Hier sind ein paar Videos drauf. Gefilmt von uns und anderen aus der Gruppe.“
„Was für Videos?“
„Die Straßenschlachten. Die Polizisten, die auf uns einprügeln. Darum brauche ich meinen Lancelot.“
Plötzlich fühle ich mich müde. Ich dachte an die Mail, die alles ins Rollen gebracht hatte. Lancelot, Guinevere, die Tafelrunde. Codewörter die nur wir beide verstanden. Lilija konnte mir sagen, was sie hier erleiden musste, versteckt hinter Begriffen der Artus Sage. Ich hatte um mein Leben gekämpft und gleichzeitig erfahren, wie wir alle betrogen wurden.
Sie legt beide Hände an meine Wangen. Ich will nicht, dass sie mich küsst und zucke zurück.
„Schlaf jetzt. Morgen sabotieren wir die erste Raffinerie. Das wird hart.“
Ich blicke auf den staubigen Boden, als wäre dort ein Muster erkennbar. Eines, das diese komplizierte Welt vereinfachen würde.
„Lilija“, sage ich, „Warum tun wir denen, die wir lieben, schlimme Dinge an?“
Sie sieht mich lange an und ihre Augen sind tief wie ein Ozean.
„Wir alle müssen uns entscheiden, wie wir leben wollen.“, sagt sie.
Und dann weine ich.