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- 11.11.2006
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Selbstporträt
Ich befinde mich in einem dunklen, leeren Raum. Die Decke ist bedrohlich nieder und die Wände sind so nahe, als ob sie mich erdrücken wollten. Vor mir sehe ich eine Tür die mich einladend auffordert hindurchzugehen. Ich mag diese Stille nicht, die sich wie ein undurchdringlicher Schleier über mich breitet. Das plötzliche Geräusch in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken und erschauern. Ein furchtbares Gefühl durchflutet mich, Flucht ist mein einziger Gedanke. So schnell mich meine Beine tragen, stürze ich durch die Tür und gelange in einen endlos scheinenden Gang, an dessen Seiten sich unzählige Türen aneinanderreihen. Ich spüre die bohrenden Blicke in meinem Rücken und weiß, dass ich hier nicht verweilen kann. Ohne lange zu überlegen drücke ich den wunderschön gearbeiteten Türknauf zu meiner Linken, betrete den neuen Raum und drücke mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür, um den unheimlichen Verfolger am Eintreten zu hindern.
Ich lasse meinen Blick im Raum schweifen und sehe ein kleines Mädchen. In ihren kleinen Fingern hält sie einen gewöhnlichen Stein, und betrachtet ihn eingehend, als ob damit gleich etwas passieren würde. Das Mädchen sieht mich an und in ihrem Blick sehe ich Enttäuschung und Unverständnis. Mit langsamen Schritten kommt sie auf mich zu und hält mir mit ausgestreckter Hand den Stein wie ein Geschenk hin. Ich nehme die Gabe entgegen und blicke verwirrt auf den gewöhnlich anmutenden Stein. Ich möchte ihn schon wegwerfen, doch ich halte inne. Der Stein beginnt zu leuchten und schimmert in allen Farben. Niemals zuvor habe ich etwas so schönes gesehen. Wie kann das sein? Ich drehe wohl langsam durch, doch das kleine Mädchen zieht mich an meinem Hosenbein und als ich zu ihr hinunterblicke sehe ich in ihr lachendes und strahlendes Gesicht. Sie sieht das Selbe wie ich. Ich fühle mich, als wäre gerade etwas Wunderbares und Wichtiges in diesen Raum zurückgekehrt. Das brutale Hämmern an der Tür lässt mich wieder zusammenzucken und reißt mich aus meinen Überlegungen. Ich sehe mich Hilfe suchend in dem Raum um, aber ich sehe keine Tür. Das kleine Mädchen nimmt meine Hand und deutet an die Wand genau vor mir. Ich lasse mich von ihr führen und vor meinen Augen entsteht eine Tür, die in einen anderen Raum führt und durch die ich mit dem Mädchen gehe.
Vor uns sehen wir einen großen Platz. Da steht ein Junge von zirka sechzehn Jahren, der in Mitten einer Mauer sitzt und sich nicht rührt. Um ihn herum tummeln sich Mensche, die zielstrebig ihren Weg kennen und sich nicht davon abbringen lassen, während der Junge sich in seiner Bastion selbst zermartert. Er trauert seinem Traum nach, den er verloren hat und der sich für ihn nicht erfüllen wird. Sehnsüchtig sieht er die Leute an sich vorbeiziehen und möchte sich ihnen anschließen, doch er sitzt fest. Das Mädchen und ich drängen uns zu ihm durch und betrachten ihn eingehend. Er wirkt sympathisch, nett und freundlich, doch eine tiefe Bitterkeit sitzt in ihm, die ihn schüchtern und zurückhaltend macht. Die anderen Menschen sehen ihn nicht und wenn doch, dann wollen sie ihm nicht helfen. Was soll denn nun ohne seinen Traum, der ihn zu etwas Besonderem gemacht hat, werden? In welche Richtung soll er denn auch hin? Es ist besser hier in Mitten der Mauer zu bleiben, sind seine Gedanken. Das kleine Mädchen zieht mich zu sich hinab, und deutet auf den Stein, der nun wieder zu pulsieren beginnt und sich in wunderschöne Farben kleidet. Ich halte den Stein hoch und die Farben umspielen das selbst gewählte Exil des Jungen. Als sich das Spektakel legt sehe ich in das Gesicht des Jungen und erkenne, dass viele seiner Ängste und Zweifel verschwunden sind. Er will nicht mehr hier alleine verweilen, er will nicht mehr trauern, er will endlich frei sein. Mit Händen und Füßen bringt er die Mauern zu Fall und erkennt nun, wie viele Wege ihm offen stehen. Möglichkeiten gehen ihm durch den Kopf, an die er niemals gedacht hatte. Wie engstirnig er doch war, denkt er bei sich. Die neuen Eindrücke durchlaufen ihn und füllen die große Leere, die sein Traum hinterlassen hatte beinahe ganz auf. Wieder höre ich Geräusche vor der Türe. Etwas Schweres wirft sich immer und immer wieder dagegen und bringt sie fast zum Bersten. Diesmal führt uns der Junge weiter und abermals entkommen wir durch eine versteckte Tür.
Wir treten in einen wunderschön eingerichteten Raum, mit einem Tisch in der Mitte und mehreren Stühlen. Einige Kerzen sorgen für eine romantische Stimmung. Eine hübsche Frau sitzt am Ende des Tisches und ein junger Mann singt ihr romantische und von Liebe erfüllte Lieder vor. Ich fühle mich zu dieser Frau sehr hingezogen, doch ich gönne dem jungen Paar ihr Glück. Ich setze mich schließlich mit dem kleinen Mädchen und dem Jungen an den Tisch und beobachte die Szenerie. Der Stein erwacht erneut zum Leben und zeigt sich in all seiner Pracht. Der junge Mann hört auf zu singen, steht auf und beginnt zärtlich das Haar seiner Geliebten zu streicheln, während sie ihren Kopf in seinen Armen birgt. Ich tausche einige beschämte Blicke mit meinen beiden jungen Begleitern aus und möchte diesen Raum verlassen.
Die Tür erzittert wieder unter heftigen Schlägen und dieses Mal gibt sie nach und zerspringt. Eine vermummte Gestalt tritt ein und bewegt sich raschen Schrittes auf uns zu. Ich treibe die Anwesenden voran, um einen Ausgang zu finden, aber es gibt keinen. Das Mädchen, der Junge und das Liebespaar blicken voller Angst den Eindringling an, der nun seine Kapuze abnimmt. Es ist der Räuber der Phantasie des kleinen Mädchens, der Erbauer der Mauer, hinter der sich der Junge verborgen hatte, der eifersüchtige Nebenbuhler des jungen Mannes, der seine Geliebte begehrt. Auch ich sehe ihn an und blicke in mein Spiegelbild. Schneller als mein Auge folgen kann, packt er das Mädchen, den Jungen und das Liebespaar und nimmt sie in sich auf. Sie verschwinden einfach. Ich dränge mich an die Wand und sehe voller Entsetzen wie mein Spiegelbild nun auf mich zugelaufen kommt und zu einem Sprung ansetzt. Er taucht in mich ein und ein eisiges Gefühl klettert meine Eingeweide hoch. Ich kriege kaum noch Luft, ich ertrage die Last nicht, ich drohe zu zerspringen….
In diesem Moment wache ich schweißgebadet und zitternd auf. Ist es nicht eigenartig wen man alles in sich trägt?