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Senil und schwer erziehbar- ein schlechtes Beispiel
Unsere schwarze Kleidung stach aus der fröhlich bunten Frühlingswelt heraus und unser drückendes Schweigen ließ die Vögel nur noch lauter singen. Die frisch aufgeworfene Erde duftete herrlich und ringsherum reckte sich das zarte Grün der warmen Sonne entgegen. Die ersten Fliegen summten munter über den Boden.
Der fremde Mann in der Pastorentracht redete gut über meine Großmutter. So gut hatte lange niemand von ihr gesprochen. Endlose, vor Überzeugung schwingende Sätze polterten aus seinem spitzen Mund. Dabei ließ er nicht einmal den Blick von dem tiefen Loch. Die einzigen Augen, die es nicht gedankenversunken ihm gleichtaten, musterten mich mit fast drohendem Glitzern über das Grab hinweg. Ich brauchte nicht hinsehen, um zu wissen, dass es die Augen meiner Mutter waren, die mich mit ihrem Blick zu kontrollieren versuchten und doch hob ich meinen Kopf und zeigte ihr mein trauriges Gesicht. Sie wusste, wie nah ich Großmutter stand und dennoch vermutete sie, dass ich jeden Moment aus der Reihe tanzen und die aufwendig inszenierte, total überteuerte Trauerfeier zerstören könnte. Ehrlich gesagt, bekam ich sogar Lust darauf, obwohl ich längst nicht mehr so war, aber dieser Blick forderte mich gerade dazu heraus. Das war schon immer so gewesen. Sie war nicht unbeteiligt. Wann immer sie mich so ansah, verspürte ich diesen Drang ihre Drohung herauszufordern und alles daran zu legen, sie unglücklich zu machen. Sie will es so, dachte ich oft, sie wartet ja nur darauf und lässt mich nicht eine Minute unbeobachtet, um den Moment, in dem ich etwas Dummes tat, auszukosten, um dann überall herumzulaufen und zu rufen, ich hab es ja gewusst, ich wusste, dass sie wieder aus der Reihe tanzt. In solchen Momenten entspannte sich ihr Gesicht und in ihren Zügen glaubte ich zwischen der Verzweiflung auch ein Lachen zu sehen.
Sie warf sich an Wände, in die Sofakissen, auf Tischplatten und in Betten, solange bis mein Vater sie in den Arm nahm und ihren heftig schluckenden Körper an sich drückte, wie er es sonst selten tat. Dann waren sie wieder ein richtiges Paar und ich fühlte mich alleingelassen und schuldig, ganz so, wie sie es wollte. Dann sperrte ich mich in mein Zimmer ein und dachte über diesen Teufelskreis nach, aus dem ich anscheinend nicht ausbrechen konnte.
Mutter!, wollte ich über das tiefe Loch zwischen uns rufen, ich bin erwachsen. Alles ist jetzt anders. Sieh mich doch nur mal an! Sieh nur, was aus mir geworden ist. Ich bin eine richtige Frau geworden. Doch in ihrem Blick änderte sich nichts. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war noch dieselbe, um Glück kämpfende Frau, die alles nach Fehlern untersuchte und nicht zuließ, dass sich irgendetwas anders entwickelte, als wie sie es in ihren Träumen gesehen hatte. Wer nur nach Rissen forscht, wird auch nur Risse finden.
Die Luft war klar, kein Wölkchen am Himmel und aus den harzigen, prallen Knospen der riesigen Bäume kletterten winzige, glänzende Blätter. Alles um uns gebar neues Leben und Mutter schüttete die erste Schaufel Erde auf den Sarg. Sie tat das sehr bedächtig, mit großer Erfurcht vor dem Tod, nicht vor Großmutter. Nein! Die wurde seit Großvaters Tod wie ein kleines Kind behandelt. Damals war ich zwölf und hatte nicht viel mit meiner Großmutter zu tun. Ich ging sie mit meinen Eltern besuchen, bedankte mich für die Schokolade und die Scheine, die sie mir zusteckte und jagte ihre Katzen und Enten. Sie huschte um uns herum und hatte hier und dort eine Menge zu erledigen, was ich in meinem Alter nicht weiter erforschte. Als Großvater starb, änderte sich alles. Mutter arrangierte die Beerdigung und verkaufte das Haus. Die ersten zwei Monate wohnte Großmutter bei uns, in meinem Bett während ich auf der Couch übernachtete. In dieser Zeit bekamen wir unsere Stempel, die wir wohl nie wieder loswerden würden: senil für Großmutter und schwer erziehbar für mich.
Es fing damit an, dass Mutter beim Abendessen wie immer große Reden schwang (sie hatte eine Leidenschaft dafür, weil sie in Filmen gesehen hatte, wie schön es wirkte, eine plaudernde Familie an einem großen Tisch zu sehen und außerdem liebte sie das Wort Konversation, nur war sie die Einzige mit solchen Ambitionen und es waren auch nicht gerade die einladendsten Themen) und während sie sich ereiferte, ihren eigenen Sätzen zu folgen, fragte Großmutter ab und zu nach einem Wort oder einen Zusammenhang, den sie nicht verstand, worauf meine Mutter, gestört in ihrer Rede, abwinkte und sagte, das würde sie ohnehin nicht verstehen oder sie hätte besser aufpassen sollen. Eine Frau wie Großmutter, die 75 Jahre inklusive einem Krieg und drei Kindern hinter sich hatte und die sehr stolz war, ließ sich so etwas natürlich nicht bieten und entfernte sich ohne ein Wort vom Tisch, indem sie ruhig und bedächtig ihr Besteck in die Serviette wickelte, ihr Glas und ihren Teller nahm und nicht vergaß, den Stuhl wieder an den Tisch zu schieben bevor sie in ihrem Zimmer verschwand. An diesem Abend sprach Mutter das erste Mal dieses Wort aus: „Mir scheint, Mutter wird ein bisschen senil. Sie benimmt sich wie ein kleines, beleidigtes Kind.“
Ich wagte nicht ihr zu sagen, dass sie beleidigend war und dass Großmutter die Einzige war, die sich für ihre Gespräche interessierte und ich fragte mich, ob Vater das sah und warum er nie etwas sagte, sondern nur beruhigend über Mutters Arm strich. Es war verrückt, dieses Schweigen von allen Seiten, in diesem offensichtlichen Irrenhaus. Solche Situationen häuften sich und meine Großmutter wurde immer verzweifelter und wehrte sich stärker gegen die Ignoranz meiner Mutter. Sie kämpfte um den Respekt und die Würde, die ihr zustanden. Und je mehr sie kämpfte, desto mehr wurde sie in die senile Ecke geschubst, aus der sie nie mehr rauskam. „Soll ich denn wie ein Tier leben. Essen, ruhig sein und keinen Dreck machen?, fragte sie mich unter Tränen, „Ich bin ihre Mutter. Ich habe sie großgezogen, im Krieg, wo kaum etwas zu essen da war, und jetzt kriege ich die Rechnung dafür. Glaubst du, sie hat mich gefragt, ob ich mein Haus verkaufen will? Nein, aber ich habe ihr vertraut, habe gedacht dass sie weiß, was sie tut und fand die Idee schön, hier bei euch zu wohnen. Ha! Und jetzt sieh dir an, wie sie mit mir umgeht.“ Sobald sie sich beruhigt hatte, war es ihr peinlich, wie sie über Mutter gesprochen hatte und sie bat mich, es nicht so ernst zu nehmen, das Leben sei eben schwer, wenn man alt wird und meine Mutter sei im Grunde ein guter Mensch. Ich hätte sie gern so gesehen, aber was sie Großmutter und mir antat, machte solche Gefühle fast unmöglich. So, wie sie uns sah, wurden wir, ohne es zu wollen und ohne uns dagegen wehren zu können.
Dann fingen meine Probleme an. Ich benahm mich respektlos gegenüber meinem Lehrer, aber das war eine falsche Anschuldigung, in Wirklichkeit war ich ein ganz normales Mädchen, das sich wie viele Mädchen in ihren Lehrer verliebt hatte. Er saß schon im Klassenzimmer, wenn wir aus der Pause kamen und legte sich Bücher und Notizen zurecht. Er hatte kurzes, lockiges Haar und wunderschöne, hellblaue Augen, einen sportlichen Körper und einen Tom-Selleck-Schnurbart. Er streckte seine Beine weit unter dem Tisch aus und lehnte sich immer bequem zurück, so dass er eher wie ein gelangweilter Schüler wirkte. Und das Wichtigste war die Ruhe und Gelassenheit die er ausstrahlte, mit der er mich junges, aufgekratztes Ding unglaublich beeindruckte. Ich versuchte so oft ich konnte, in seiner Nähe zu sein und genoss seine Aura, in der ich mich am liebsten aufgelöst hätte, um für immer bei ihm zu sein. Ich beugte mich über seine Schultern, tat so als sähe ich ihm beim Korrigieren meiner Arbeit zu und roch das erste Mal in meinem Leben den Duft eines Mannes, diese herrliche Mischung von harten Körpergerüchen, wie Schweiß und alter Haut, und leicht süßlichem fast blumigen Duft, der vielleicht von Duschbad, Parfüm und frisch gewaschener Kleidung herrührte. Ich träumte mich in sein Brusthaar, das am Kragen seines schwarzen Pullovers heraus quoll. Dass er in seinem kräftigen Körper nicht der Dünnste war, störte mich nicht. Und so begann die Jagd nach seiner Aufmerksamkeit, wobei ich schnell merkte, dass ich als Musterschülerin längst nicht soviel Eindruck auf ihn machte.
Wir wanderten durch einen dunklen Tannenwald, er voran mit ein paar Jungs, denen er von den Gründen der endlosen Reihe von Kriegen erzählte und ich nutzte die Gelegenheit. Ich stellte mich mürrisch, so dass meine Freundinnen schnell die Lust an meiner Gesellschaft verloren und ich mich heimlich ins Dickicht schleichen konnte. Ich riskierte mein junges Leben für diesen Mann und wanderte fernab jedes Weges und ohne Kompass durch den Wald, bis ich an eine Lichtung kam, auf der ich mich ins Gras legte und auf ihn wartete. Ich wollte gesucht werden und seine Erleichterung und Freude sehen, wenn er mich fände. Ich träumte von seinem schweren Körper und wünschte mir, dass er auf mir läge und mit seinen starken, behaarten Fingern meine Haare zurückstrich, dass sein Atem meine Wangen wärmte und ich sein Knie zwischen meinen Beinen spürte. Wie schön es war und wie schön es werden würde, wenn er wirklich da wäre, dachte ich und sah mich um, suchte am Rand der Lichtung nach seiner Gestalt und lauschte seinen Rufen, die verzweifelt meinen Namen wiederholten.
Doch es lief anders. Nicht er rief mich, sondern irgendein Feuerwehrmann aus dem Nachbardorf, ein bulliger, hässlicher Kerl, mit schmalen Lippen und unreiner Haut. Ich wollte ursprünglich ein verknackstes Bein vortäuschen, ekelte mich aber so sehr vor meinem Retter, dass ich nicht riskieren wollte, von ihm getragen zu werden. Als wir im Ferienlager ankamen, schickte man mich endlich in sein Zimmer. Ich war furchtbar aufgeregt und verkroch mich eine halbe Stunde auf den Toiletten, um mich vorzubereiten. Wie immer saß er entspannt auf seinem Stuhl und bot mir in aller Ruhe etwas zu trinken an. Ich lächelte aus Leibeskräften und klammerte mich an die Cola. Nach der Frage, warum ich weggelaufen war, die ich äußerst lückenhaft mit einem Interesse für Pilze beantwortete, grinste er mich an und sagte, dass es aber noch mehr geben müsste, dass ich mich in letzter Zeit seltsam benehme. Er führte Beispiele an, die mich in die Ecke trieben. Da war meine Unkonzentriertheit im Unterricht, die Tatsache, dass ich seinen Erklärungen nie folgen konnte und sie mittlerweile sogar unterbrach und auf persönliche Themen zu lenken versuchte, dass ich in seinen Unterlagen gestöbert hatte und dass ich die Grenze zwischen Lehrer und Schüler immer öfter überging. Auf das Alles gab es nur eine Antwort, die mir das Herz zusammenzog, weil ich damit alles zerstört hätte. Ich schwieg, doch dann fand ich die Lösung. Es erforderte einiges an schauspielerischem Talent und ich konzentrierte mich auf die traurigsten Momente in meinem Leben, wovon es nicht gerade unzählige gab, und brach in Tränen aus, stammelte irgendetwas von Missständen in meiner Familie, von Vernachlässigung.
Nachdem ich erst mal angefangen hatte und merkte, wie er die Ohren spitzte, legte ich richtig los und berichtete von einem prügelnden Vater und einer ständig betrunkenen Mutter, die mich seit jüngster Kindheit vernachlässigte, die mich schikanierte und ohne Abendessen ins Bett schickte, dass ich niemanden hätte. Er stand auf und setzte sich neben mich, legte endlich seinen warmen Arm um mich und drückte mein Gesicht an seine Brust. Gleich dahinter war seine Haut und ich sog tief den Duft ein, aber ich durfte nicht zu sehr genießen, schließlich musste ich meine Rolle spielen. Ich packte Einzelheiten aus, die ich in Dokumentationen von sozial schwachen Familien gesehen hatte, wie ich zum Beispiel täglich Hunderte Schnaps- und Weinflaschen die Treppen hoch und runter schleppte, dass ich nur des Kindergelds wegen gezeugt wurde, dass die Wohnung stank, ich alles putzen und auf dem Flur schlafen musste, dass die Nachbarn mich mitleidig ansahen und ich mir die getragene Kleidung von Freunden besorgte oder aus Kleidercontainern fischte. Seine Hand fuhr mir beruhigend durch die Haare. Er sagte nichts und auch mir gingen die Beispiele aus. So wiegte er sich mit mir vor und zurück und ich bekam Angst, dass er mich bald loslassen und in mein Zimmer schicken würde. Es blieb nur eins: ich atmete regelmäßig und stellte mich schlafend. Doch da es in seinem Zimmer nur ein Bett gab und er ein anständiger Lehrer war, trug er mich in mein Zimmer, legte mich in mein Bett und zog mir die Schuhe aus. Ein letztes Streichen durch die Haare und er war weg. Ich brauchte Stunden, um einzuschlafen und rief mir immer wieder seine Nähe und seine Berührungen in Erinnerung.
Es waren die schönste Klassenfahrt meines Lebens. Er wich nicht von meiner Seite und unterhielt sich stundenlang nur mit mir. Die Jungs liefen ein paar Meter hinter uns und warteten vergeblich auf eine Gelegenheit, ihre Fragen über Kriege und Sport und das ganze Jungszeug zu stellen. Als wir zurückkamen, begann das große Drama, dass mich zum schwer erziehbaren Kind machte.
Ich kam vom Sport nach Hause und legte meine Tasche in die Waschküche, als ich die verheulte Stimme meiner Mutter hörte. Auf Zehenspitzen schlich ich mich an die Tür des Wohnzimmers und drückte meine Ohr an das kalte Holz. Ich lauschte seiner weichen Stimme, die genau das wiedergab, was ich in seiner Umarmung erzählt hatte. Verräter, dachte ich und war unglaublich sauer auf ihn. Wie konnte er sich nur nach der vertrauten Zeit im Ferienlager mit meinen Eltern verbünden. Er hatte alles verdorben und saß jetzt in unserem Wohnzimmer und kommentierte meine Erzählungen mit Theorien, wie: Vielleicht fehlt es ihr an Aufmerksamkeit. Sie sollten sich mal mit ihr darüber unterhalten, schließlich hat ihr Verhalten schlechte Auswirkungen auf ihre Noten...blah, blah, blah.
Aus der Sache kam ich nicht mehr raus. Seit diesem Tag war ich mir der nervenden Aufmerksamkeit eines Psychiaters, der es mir wirklich schwer machte, meine Geheimnisse zu verteidigen und mir außerdem noch meine ohnehin rare Freizeit stahl, und meiner Mutter gewiss, diesem drohenden Blick, der mich seither verfolgte. Seit dem Tag war ich das schwer erziehbare Kind, unter dem sie litt und an das sie einfach nicht rankam, ein Problem zu dem sie Vaters Hilfe brauchte, seine Unterstützung und seine zärtlichen Worte, warmen Umarmungen, seine feuchten Küsse auf ihrem Gesicht, ihrem Hals, dem Busen und Innenschenkeln und schließlich seine ganze, pralle Aufmerksamkeit. Das war ein Bund gegen mich, drei gegen einen, wobei einer davon glücklicherweise nicht bei uns wohnte. Alles, was kurz vorher noch die niedlichen Patzer eines entzückenden Kindes waren, wurden jetzt im nachhinein als Zeichen einer Störung in meiner Entwicklung gedeutet, als böse Ohmen, die meine arme Mutter in ihrem guten Glauben nicht als solche erkannt hatte.
Nachdem ich eine zeitlang beleidigt über eine solche Verkennung meiner Person war, besonn ich mich und packte beim Abendessen die Wahrheit auf den Tisch. Ich ließ nichts aus und erklärt jeden einzelnen Punkt, fügte sogar hinzu, dass ich so was nie wieder machen würde und dass es dumm war, solche Mittel zu benutzen, um einen Lehrer rumzukriegen. Aber da war es schon zu spät. Mein Schicksal war besiegelt, denn wer einmal gelogen hat, dem glaubt man nicht mehr. Nur meine Großmutter glaubte mir, weil sie am eigenen Leib erfuhr, wie ihre leibliche Tochter sie aufgrund fadenscheiniger Beweise in die Unzurechnungsfähigkeit und somit in ein Altersheim schickte. Ihr Schicksal war jedoch um einiges schlimmer, als meines, wie ich nach dem einigen Besuchen im Heim feststellen musste. „Ich wohne hier in einer Wohngemeinschaft aus Verrückten.“, sagte sie, „Mit vier alten Weibern in einem Zimmer, wovon zwei inkontinent sind. Weißt du, was das bedeutet?“ Ich verneinte, dachte mir aber, dass es etwas Schlimmes sein musste. „Sie scheißen sich die ganze Nacht in die Hosen, daß man am Morgen fast in dem Gestank erstickt. Aber nicht nur das, sie reden unzusammenhängendes Zeug und legen sich in fremde Betten, durchsuchen meine Sachen und heulen manchmal tagelang vor sich hin. Aber selbst in den selten klaren Momenten geben sie keine gute Unterhaltung her. Neulich wurde ich beschuldigt, Geld gestohlen zu haben. Stell dir das mal vor, ich, eine Diebin. Und das Essen! Man darf sich sein eigenes Essen nicht kochen, gar nichts darf man hier. Ich habe mein ganzes Leben für mich allein gesorgt und kann es auch heute noch, aber niemand gibt mir die Chance dazu. Ich sage dir was, das ist ein Knast hier. Die werden hier teuer bezahlt dafür, auf unseren Tod zu warten.“ Sie sagte es nicht, aber ich wusste, dass Mutter daran Schuld war. Wir planten im Scherz Ausbrüche und ich brachte ihr heimlich Campari mit, den sie so liebte. Ich bedauere, dass sie nie wirklich ausgebrochen ist. Sie war eine starke, schlaue Frau und sie hat so ein Ende nicht verdient, das hat niemand verdient.
Mit der Zeit wurde sie zu einem komischen Kauz, sie passte sich den Umständen an, wurde bockig und fing ebenfalls an die Nächte durchzuweinen. Und das alles, weil sie teilhaben wollte an den Monologen meiner Mutter. Ich sagte ihr immer wieder, sie soll sich erinnern, an ihren Stolz und ihre Leistungen, die sie vollbringen kann und soll sich von niemandem so behandeln lassen. „Ich danke dir, mein Kind,“ sagte sie dann und versuchte ihre Stimme zu kontrollieren, „aber es macht mich verrückt, zwischen all dem Wahnsinn kann man nur verrückt werden.“ Großmutter wurde verrückt und Mutter hatte wieder Recht bekommen. Ich wurde schweigsam und dachte über all diese Umstände nach, was mich und Großmutter verbündete und wie sehr wir diese Rollen angenommen hatten, die Senile und die schwer Erziehbare. Aber ich hatte noch eine Chance, ich war jung und konnte nach der Schule weggehen, ein neues Leben anfangen, ohne den drohenden Blick meiner Mutter, der mich gerade zur Aufmüpfigkeit zwang, statt mich davon abzuhalten. Kurz bevor ich endlich auszog, entdeckte ich glücklicherweise eine andere Seite der Geschichte.
Nach der besagten Klassenfahrt, war mir der Unterricht nicht mehr so lieb und ich hatte nichts dagegen, ihm ab und zu ausfallen zu lassen. Meine Verliebtheit war durch den Verrat verflogen. Es war mir eher unangenehm meinem Lehrer unter die Augen zu kommen, obwohl er sich mehr denn je um mich sorgte. Es war im Herbst, diese wunderbare Zwischenjahreszeit, in der man überall von Veränderung umgeben war. Ich sollte eigentlich im Deutschunterricht sitzen, aber da ich in diesem Fach recht gut war, beschloss ich, lieber mit meiner Großmutter einen Spaziergang durch den Park zu machen. Ich erkannte Mutters kleinen Volkswagen sofort an den vielen Taschen auf dem Rücksitz und den getrockneten Blumen über den Armaturen. Ich befühlte die warme Motorhaube und ging in das Gebäude, schlich langsam die Treppen rauf, bis vor Großmutters Zimmer. Durch einen Spalt konnte ich meine Mutter sehen, wie sie auf dem Bett kniete und die Hand meiner Großmutter hielt. Sie flüsterte liebevoll in Großmutters Ohr, die mittlerweile sehr schwach und nervlich zerrüttet war. Dann fing sie an zu weinen und hob ihre Stimme. „Warum musst du so leiden.“, schluchzte sie, „Das hast du nicht verdient. Du warst mir immer die beste Mama, hörst du?“ Mutter beugte sich über den dürren, zitternden Körper meiner Großmutter und drückte ihren Kopf neben dem meiner Großmutter ins Kissen. Das ganze Bild, dass ich von meiner Mutter hatte, verschwamm in den Tränen, die sie vergoss.
Sie wusste nicht, dass sie an dem Leid beteiligt war! Sie hatte keine Ahnung, dass sie diejenige war, die das, was passiert war, lange zuvor ausgesprochen hatte, dass sie das Leid herbeigerufen hatte. Sie und all die anderen, die ihrem Urteil Glauben schenkten. Mein meinungsloser Vater, die Pflegerinnen mit ihren unangebrachten Verniedlichungen, der Arzt, der einmal die Woche kam und sich jedes Mal wieder über seine eigenen Scherze freute, die Freunde meiner Mutter, die verständnisvoll nickend auf dem Sofa saßen. Nur ich, mich hatte es nicht erwischt, obwohl ich doch die tiefste Beziehung zu meiner Mutter haben sollte und ihr höriger sein müsste, als jeder andere aus diesem Reigen.
Trotz meiner neu erworben Einsicht verließ ich die Stadt. Ich habe ab und zu daran gedacht, meiner Mutter zu sagen, was ich über ihre Unheilsbeschwörung dachte, aber was, wenn sie diese Schuld anerkannte, wenn es ihr das Herz brechen würde und wenn ich danach selbst schuldig wäre.
An diesem Tag in der ersten warmen, gelben Frühlingssonne, zwischen den schwarz gekleideten Verwandten, die mich noch als böswilliges Mädchen kannten, gingen mir diese Fragen wieder durch den Kopf. Und meine Wut verging wieder in dieselbe Quelle, in der sie schon damals auf dem grauen Steinboden im kahlen Gang vor dem Zimmer meiner Großmutter verging.