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Septemberbesuch
Laut Kalender ist heute der 14.September. Nicht, dass dieses Datum eine besondere Bedeutung hätte. Es ist nur der Tag, an dem meine Mutter mich seit den letzten acht Jahren regelmäßig besucht. Auch für sie ist dieser Tag, meines Wissens nach, mit höchster Wahrscheinlichkeit bedeutungslos.
Dennoch besucht sie mich stets unaufgefordert und ohne besonderen Grund an ebendiesem Datum. Pünktlich um fünfzehn Uhr decke ich also den Kaffeetisch und stelle die Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee dazu. Sie kommt nicht nur zu genau demselben Datum sondern auch immer um dieselbe Zeit. Der einzige Kommentar zu ihren unaufgeforderten Besuchen war bisher, dass es der ideale Zeitpunkt wäre, an dem sie mal mit mir alleine sprechen könnte. Ich habe sie nie gefragt warum. Irgendwie haben diese Besuche etwas derart faszinierend Skurriles an sich, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, sie zu hinterfragen, weil sie sonst vielleicht nicht mehr stattfinden würden. Unser Zusammentreffen läuft stets nach einem festen Ritual ab. Ich lasse sie hinein und helfe ihr aus dem Mantel, während sie ihren rattangeflochtenen Einkaufskorb, gefüllt mit selbstgebackenem Kuchen oder Keksen, neben der Garderobe abstellt. Während wir zum Kaffeetisch hinübergehen, erzählt sie mir, wo sie das Rezept für ihre Backwaren gefunden hat und was sie daran verändert hat. Ich bekunde aufrichtiges Interesse und Bewunderung.
Um möglichst authentisch zu wirken, habe ich das tatsächlich schon einmal vor dem Spiegel geübt. Mein Mann hat mich dabei unbemerkt beobachtet und meinte ironisch, es wäre schön wie sehr ich mich auf den Besuch meiner Mutter freuen würde. Blödian. Seine Mutter ist eine liebe und herzensgute Frau ohne merkwürdige Allüren. Ihre Besuche sind lustig und unkompliziert. Dafür braucht es keine besondere Übung. Meine Mutter erscheint in ihrer Art stets verletzlich und unzugänglich. Viele Dinge sind mit ihr sehr umständlich.
Nachdem meine Mutter und ich uns an den Kaffeetisch gesetzt haben, verzehren wir zunächst schweigend das Gebäck, welches ich dann lobend hervorhebe. Daraufhin erzählt sie mir stets die aktuellsten Ärgernisse aus ihrem Leben, vor allen Dingen den mit meinem Vater, und den neuesten Tratsch von den Nachbarn. Sobald dieser Teil des Besuchs vorbei ist, wird es spannend. Niemand weiß so genau, was jetzt kommt. Nicht einmal meine Mutter. Heute schaut sie sich hilfesuchend um und entdeckt eine Schliere auf meinem Küchenfenster. Sie bemerkt ganz beiläufig, dass das ja auch mal geputzt werden müsste. Das ist mein Stichwort. Im Ernst. Ich räume eilig aber möglichst unaufgeregt das Geschirr ab und gebe ihr ganz nebenher Recht. Dann begebe ich mich auf kürzestem Weg zu meinem Putzschrank und öffne ihr die Tür. Sie steht ebenfalls vom Kaffeetisch auf und sucht sich alle für sie notwendigen Utensilien aus dem Schrank heraus. Ihr Blick bedeutet mir, dass ich mich jetzt zurückziehen soll oder kann. Auf jeden Fall gehe ich dann immer. Sie weiß, wenn sie noch etwas braucht, findet sie mich im Wohnzimmer. Dort warte ich darauf, dass sie mit dem was immer sie da tut fertig wird und wir uns voneinander verabschieden können. Ich kann mir sicher sein, dass meine Mutter mir eine blitzblanke Küche hinterlässt. Gelegentlich auch ein blitzblankes Badezimmer und früher auch eine ganze Wohnung. Und sollte sich tatsächlich irgendwo auch nur der Hauch eines Staubkorns verstecken, so wird sie es finden. Sie duldet es nicht, dass sich ein solcher Unrat in ihrer Nähe befindet.
Bei ihren ersten Besuchen habe ich noch versucht sie davon abzuhalten in meinem Haushalt irgendwelche Arbeiten zu verrichten. Besonders peinlich war mir, als sie sich in unserer Einfahrt auf die Knie herunterließ und anfing das Unkraut aus den Fugen zu kratzen. Sie erlaubte es nicht, wenn ich ihr bei dem was sie tat, zur Hand gehen wollte. Allerdings wollte ich auch nicht den Eindruck erwecken, sie müsse das was sie tat auf mein Geheiß hin tun. Also schnappte ich mir eine Gartenschere und schnippelte tapfer an unseren Rosenbüschen im Vorgarten herum. Einer unserer Nachbarn rief dann auch prompt über seine Seite des Gartenzauns hinweg, man hätte ja immer was zu tun in so einem Garten. Es wäre ja schön, dass ich Hilfe hätte. Das klang eigenartig ironisch. Meine Augenbraue schnellte missbilligend nach oben und mir lag eine passende Bemerkung auf der Zunge, empfand ich die Situation doch mehr als unangenehm. Unwillig schluckte ich diese jedoch hinunter und grüßte mit einer passenden Plattitüde zurück. Meine Mutter bekam von all dem nichts mit. Vertieft in ihre Arbeit kratzte sie sich still von einer Fuge zur nächsten. Ob mein Vater davon wusste? Ich habe ihn nie gefragt, ob sie ihm von den Besuchen berichtete und wie sich diese gestalteten. Vielleicht wäre es ihr auch peinlich gewesen, hätte er es mitbekommen.
Meine Mutter ist sonst nicht so. Ich würde sie eher als einen selbstbewussten mit Starrsinn und einer Menge Zynismus gesegneten Menschen bezeichnen. Sie lässt sich nichts sagen und weiß alles besser. Jeder Versuch ihr etwas aus dem eigenen Leben erzählen zu wollen endet abrupt mit einer Erzählung ihrerseits, die nicht zum Thema passt und sich meistens darum dreht, wem gegenüber sie sich durchgesetzt hat oder wen sie eines Besseren belehrt hat. Wahrscheinlich hört sie mir gar nicht richtig zu und empfindet meine Erzählungen als banales Alltagsgeschwätz. So als Künstlerin übe ich ja überdies auch keine in ihren Augen ernstzunehmende Tätigkeit aus.
Ihre Septemberbesuche erinnern mich irgendwie an einen Bußgang, der Bitte um Verzeihung und Vergebung. Fehlt nur noch, dass sie heimlich einen Bußgürtel trägt und sich abends anschließend geißelt, nachdem sie mich besucht hat. Dieser Gedanke ist fast schon ein klein bisschen gehässig. Und erschreckend. Ihre Besuche haben aber zugleich auch etwas Missbilligendes an sich, so als wolle sie den Dreck aus meinem Leben kehren. Worin dieser Dreck genau bestehen könnte oder der Anlass für ihren Bußgang, blieb mir bisher verborgen. Vielleicht bin ich ihr, ihrer Ansicht nach, schlecht geraten und sie bestraft sich dafür.
Mir kam die neulich in meinem Keller gesichtete Riesenkakerlake in den Sinn und einen Moment drängt es mich, ihr davon zu erzählen. Andererseits wäge ich das Risiko ab, dass sie mir Gehör schenken und mein ganzes Haus putztechnisch auf den Kopf stellen würde. Ich entscheide mich spontan dagegen ihr von Riesenkakerlaken oder anderem Ungeziefer zu berichten. Das würde nur unser Ritual stören und wer weiß was für Konsequenzen unabsehbarer Art mit sich ziehen.
Natürlich habe ich in den vergangenen Jahren schon einmal einen ihrer Besuche verpasst. Es war der dritte oder vierte dieser Art und ich hatte nicht wirklich realisiert, dass es sich um immer dasselbe Datum handelt. Also war ich nicht da. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich bei meinem schwulen und liebeskummergeplagten Frisör saß, der mir gerade schluchzend eine großzügige Menge meines geliebten Haars abschnitt. Das Klingeln meines Handys rettete mich vor dem unausweichlich scheinenden Schicksal fortan kahlköpfig oder wie ein gerupftes Huhn durch die Gegend laufen zu müssen und ich war zunächst sehr dankbar für die Ablenkung. Dann aber schallte die Stimme meiner Nachbarin von gegenüber durch den Hörer, die mir mitteilte, dass meine Mutter seit über einer geschlagenen Stunde vor unserer Haustür auf den kalten Steinen sitzen würde und offensichtlich auf meine Rückkehr wartete. Wo ich denn nur bliebe?
Fieberhaft überlegte ich, ob sie angerufen und ihren Besuch angekündigt hatte. Vielleicht hatte ich es vergessen. Ich wurde ähnlich hektisch wie mein verheulter Figaro und trieb ihn an, sich zu beeilen. Er zeigte sich tief beeindruckt von der Liebe zu meiner Mutter und gab sich redlich Mühe mir einen vernünftigen und gelungenen Haarschnitt zu verpassen. Nur wenig später traf ich zu Hause ein und half ihr von unserer Eingangstreppe hoch. Sie sagte nichts. Nicht einmal Hallo oder etwas vergleichbares in der Art. Schweigend folgte sie mir ins Haus. Ich fragte betreten nach, ob wir verabredet gewesen waren. Sie erzählte mir von ihrem Kuchenrezept und was sie daran verändert hatte. Ich schaute auf den Kalender über dem Telefon. Seit diesem Tag kann ich mich ganz genau daran erinnern, dass es der vierzehnte September war. Und seit diesem Tag bin ich an diesem Datum garantiert zu Hause.
Wie erwartet blitzt meine Küche als hätte ich sie gerade erst neu eingerichtet. Ich bedanke mich brav und wir verabschieden uns mit der uns eigenen obligatorischen und irgendwie sehr eckigen Umarmung. Ich glaube, nur meine Mutter und ich sind in der Lage uns eckig zu umarmen. Sie fragt an dieser Stelle stets nach, ob sie meinem Vater Grüße von mir ausrichten darf. Ich erwidere stets, dass sie das sehr gerne darf. Ich helfe ihr in den Mantel und sie wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dann legt sie sich ihre Handtasche über die Schulter und öffnet sie. An dieser Stelle komme ich mir vor wie ein kleines Kind, dass auf Weihnachten wartet. Denn nun holt sie ihr Portemonnaie hervor und steckt mir einen Geldschein zu. Ich weiß, er ist klein gefaltet, so klein, dass man auf den ersten Blick nicht sofort erkennen kann, um wie viel Geld es sich handelt. Es ist immer derselbe Betrag von fünfzig Euro. Sie lächelt dabei erleichtert. Merkwürdig. So als hätte sie damit eine Schuld bezahlt. Anschließend reiche ich ihr ihren rattangeflochtenen Korb zurück, in den ich zuvor schon das mitgebrachte Geschirr, welches sie zum Transport ihres Gebäcks benutzt, deponiert habe. Ohne ein weiteres Wort öffnet sie eilig die Tür. Manchmal befürchte ich, dass sie die Klinke dabei versehentlich abreißen könnte. Sie verlässt mein Haus in Richtung ihres an der Straße geparkten Autos. Ich sehe ihr einen Moment nach und winke ihr zu, sobald sie losfährt. Sie würdigt mich keines Blickes. Die ganzen letzten acht Jahre nicht und doch winke ich jedes Mal zum Abschied.
Erst nachdem ich die Tür geschlossen habe, ist es vorbei. Der vierzehnte September wäre somit überstanden. Normalerweise rufe ich jetzt meine Freundin an. Zeit für ein neues Paar Schuhe und ein wenig Zerstreuung. Vorher falte ich den Geldschein auseinander und staune. Dieses Mal sind es hundert Euro, zwei Scheine. Und ein kleiner weißer Notizzettel, auf dem steht, dass sie genau heute vor acht Jahren herausgefunden hat, dass mein Vater sie schon jahrelang betrügt und es immer noch tut. Mehr nicht.
Ich wusste schon immer, ihre Besuche haben eine besondere Bedeutung. Heute werde ich wohl nicht meine Freundin anrufen. Ich wähle stattdessen die Nummer meines Vaters.