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Sergej Adamovitsch
Elena wachte langsam auf, tastete herum, spürte das weiche Moos unter ihren Händen. Sie drehte den Kopf zur Mauernische hinüber, von wo ein fahles Licht zu ihr hinein schien.
Langsam stand sie auf, sie hatte alle Zeit der Welt.
Als sie fertig war, drangen gerade die ersten Sonnenstrahlen in die Wohnung, und tauchten sie in ein angenehm warmes Licht. Um Elena herum war inzwischen alles mit Moos zugewachsen, ihre Schränke, die Wände alles. Es störte sie nicht mehr.
Sie sprang durchs Fenster auf die Straße hinaus, seitdem das Moos die Treppe zerstört hatte, lebte sie im Erdgeschoss.
Die ganze Stadt war eine blühende Idylle, aus dem Asphalt wuchsen Obstbäume, an den Häuserfassaden rankte wilder Wein hinauf.
Fast nichts erinnerte mehr an das alte Balaschow, die graue und kalte Industriestadt.
Sie war hierher gekommen um zu arbeiten, aber sie hatte die Stadt nie geliebt, zu kalt war sie ihr gewesen, mit ihren Industriewerken und dem schmutzigen Fluss.
Arbeit gab es jetzt keine mehr in Balaschow, aber das war ihr egal.
Sie freute sich an der Stadt, so wie sie war.
Sie wusste nicht, wodurch es dazu gekommen war, aber es freute sie, sie liebte die Natur, und dass diese etwas Unrechtes mit ihr vorhaben könnte war ihr unvorstellbar.
Viele Menschen waren aus der Stadt geflohen, schon bald, nachdem die Pflanzen angefangen hatten, sich zu verbreiten. Sie hatten Angst gehabt, die Natur war ihnen fremd erschienen, bedrohlich, unberechenbar. Wie dumm sie doch waren!
Als dann keiner die Vorgänge hatte erklären können, waren noch mehr geflohen, und auch
die Industriewerke hatten schließen müssen, als sich in den Fertigungsstraßen und den Maschinen Moos breit gemacht hatte, und nicht mehr zu entfernen gewesen war.
Sie kam am alten Bahnhof vorbei, auch hier blühten überall die Obstbäume, dazwischen lugten die prallen Früchte der bereits reifen Bäume hervor. Zwischen den Gleisen wuchsen bunte Sträucher, und auch an der Fassade des Bahnhofgebäudes rankte sich wilder Wein empor.
Eine der hölzernen Lagerhallen hinter dem Bahnhof war schon dem Moos zum Opfer gefallen, so wie die Treppe bei ihr zuhause.
Bald würde wahrscheinlich die ganze Stadt überwuchert sein, aber was machte das schon?
Die Sonne schien jeden Tag, und obwohl es schon Oktober war, war das Klima angenehm wie ihm späten August.
Sie pflückte im Vorbeigehen zwei Pfirsiche, überquerte dann den Fluss. So sauber hatte sie den Choper noch nie gesehen.
Ihre Schritte trugen sie zu einer kleinen Anhöhe über dem Fluss, einem ihrer Lieblingsplätze. Von hier hatte man eine wunderbare Aussicht über die außen herum wachsenden Obstbäume, und sie liebte die Geborgenheit und den Frieden den der Ort jetzt ausstrahlte. Ja, inzwischen liebte sie ihre Stadt, und manchmal schien ihr deren Veränderung fast wie die Erfüllung eines persönlichen Traumes.
Sie hatte sich gerade gesetzt, als ein gutes Stück von ihr entfernt ein kleiner Junge im Alter von vielleicht acht oder neun Jahren auftauchte, der mit den Schatten der Obstbäume zu spielen schien.
Er trug keine Kleidung, und seine schulterlangen blonden Haare hingen ihm leicht zerzaust über die Schultern.
Sie sah ihm eine Weile zu, wie er vergnügt zwischen den Schatten der Bäume hin und her sprang, und dann und wann klang ein fröhliches Lachen zu ihr hinüber.
Ihr gefiel das Bild, der nackte kleine Junge, frei, wild, inmitten der reinen Natur, und es schien ihr fast, als würde hier ein kleines Bisschen der verlorenen Träume der Menschheit wieder neu entstehen.
Plötzlich hielt der Junge in seinem Spiel inne und lief zu einem der Bäume hinüber, streckte den Arm hinauf, und versuchte einen der Pfirsiche zu erreichen. Sein Arm war eine Handbreit zu kurz, und Elena wollte schon aufstehen und ihm helfen, als plötzlich das Unglaubliche geschah.
Sie wollte ihren Augen nicht trauen, und doch, der Baum beugte sich zu dem Jungen hinunter, langsam, aber deutlich. Dieser pflückte den Pfirsich, woraufhin der Baum sich wieder zurückbewegte.
Der Junge lachte, dann drehte er sich zu ihr hinüber und hielt mit einem Mal inne.
Er schien sie erst jetzt zu bemerken, stockte kurz, dann lachte er wieder übers ganze Gesicht.
Er lief auf sie zu, grinsend, den Pfirsich noch in der Hand.
„Hallo! Wer bist denn du?“ Er strahlte immer noch und schien erfreut, hier jemanden zu treffen. Seine blauen Augen leuchteten aus dem Gesicht. Dem Anschein nach war er ein ganz normaler kleiner Junge. Sicher hatte sie sich vorher nur getäuscht, der Wind, ja, der Wind musste es gewesen sein.
„Hallo, mein Engelchen. Ich bin Lena. Und wie heißt du?“
„Sergej Adamovitsch! Aber-“
Der Junge sah sie einen Augenblick mit ernstem Gesicht an, dann beugte er sich vor und flüsterte in vertrauensvollem Ton:
„Aber ich bin doch kein Engelchen. Mit denen haben doch wir nichts zu tun.“
Sie stutzte, so eine Antwort hatte sie nicht erwartet. Der Kleine sah sie noch einen Moment mit seinen klaren Augen an, dann rief er: „Komm, lass uns spielen!“ und sprang davon.
Sie folgte ihm staunend und leicht verwirrt.
Der Junge lief eine ganze Weile vor ihr her, bis sie in eines der wenigen Gebiete der Stadt gekommen waren, in denen noch nicht alles komplett bewachsen war.
Sie war außer Atem, doch der Junge sah sie nur an, und rief fröhlich: „Schau, hier spiele ich momentan am liebsten!“ und lief auf eine Mauer zu, die noch immer ihren grauen Putz trug.
Er streckte die Hand danach aus, und für einen Augenblick schien es Elena, als würde um den Jungen mit einem mal ein helles Licht scheinen, als wäre er selbst eine kleine strahlende Sonne geworden, ein wärmendes Feuer vor dem kalten Beton.
Dann war der Augenblick vorbei, das Licht war fort, und mit ihm die graue Farbe der Mauer.
Stattdessen sprossen auch hier nun Blumen, und Büschel von Gras quollen aus den Ritzen.
Sieh sah den Jungen an, staunend, ungläubig.
Sergej stand vor ihr und strahlte.
„Schön, nicht? Es ist hier schon fast wie zu Hause!“
Es schien verrückt. Aber das war hier ja schon lange alles, sie hatte sich inzwischen schon fast daran gewöhnt, ungewöhnliche Dinge zu erleben. Aber das hier übertraf alles bisherige, und irgendwie weckte es eine Neugierde in ihr, die sie so noch nicht gekannt hatte. Es schien ihr fast, als spräche Sergej, der kleine Sergej, von einem Geheimnis, das sie schon einmal gekannt hatte, vor langer Zeit, aber dann wieder vergessen.
„Sergej, bitte sag mir eins, wo kommst du her?“
„Von zu Hause natürlich! Aber ich finde den Weg zurück nicht mehr.“ Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Es war doch schön bei uns zu Hause, nicht wahr? Aber jetzt ist es hier auch schön.“
Er schien wieder fröhlicher, aber umso mysteriöser. Wovon sprach er?
„Wenn es so schön war, warum bist du dann hier?“
„Ich wollte meine Eltern finden. Ich war so einsam ohne sie. Die anderen haben gesagt, es wäre besser so. Aber ich war so alleine, und dann bin ich fortgelaufen.“
„Du heißt Adamovitsch, richtig? Dein Vater heißt also Adam?“ Sie fragte sich, wo dieser seltsame Junge herkommen mochte.
„Ja!“ Er strahlte wieder, die Erinnerung an den Vater schien ihm große Freude zu bereiten.
„Ich wollte sie suchen, ich habe sie doch so sehr vermisst. Aber ich konnte sie nicht finden, hier sind so viele Menschen. Und ich kenne doch ihre Gesichter schon kaum mehr…“