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Setz die Segel, Matrose
In roter Bluse und hellem Rock, wie eine Boje, stand ich im Eingang der Bar; festgekettet, damit der Sturm mich nicht davontrug.
Drei Jahre, fünf Monate und eine Woche - in dieser Zeit hatte ich etliche Szenarien entworfen, wie das Wiedersehen mit Sebastian aussehen könnte. Dieses war nicht dabei. Neben der Theke gab es Palmen und Strandkörbe, die durch indirektes Licht in Szene gesetzt wurden; an den Wänden hingen Fotos von Stränden mit kleinen Preisschildern und in Nischen langweilten sich bunte Fische in Aquarien. Sebastian saß in einem dieser monströsen Korbsessel, wie ein Stück Treibholz, das man vergessen hatte fortzuräumen.
Er lächelte, als er mich sah und ich löste meinen Griff vom Türrahmen, trieb auf ihn zu und als wir uns umarmten, waren wir darauf bedacht, uns dabei so wenig wie möglich zu berühren. Sein Atem streifte meinen Nacken, und seine Fingerkuppen brannten auf meinem Rücken.
„Setz die Segel, Matrose! Abenteuer erwarten uns“, flüsterte er mir zu. Das hatte er meinem Großvater geklaut, der damit unsere „Kreuzfahrten“ auf dem Bodden eingeleitet hatte. Es war mein Zeichen, den Choke zu ziehen, den Motor anzureißen und Gas zu geben.
Wenn Sebastian die Ferien in unserem Reetdachdorf verbrachte, begleitete er Großvater und mich in unserem kleinen Boot. Großmutter füllte Malzkaffee in die Thermoskanne, packte Schinkenbrote ein und steckte uns Kindern Karamellbonbons in die Tasche. Manchmal fuhren wir zu Großvaters Freund und während die Männer auf den Bürgermeister und das neue Ferienheim schimpften, räuberten Sebastian und ich am Ufer entlang, bauten Piratenbehausungen unter ausgespülten Wurzeln, verbuddelten unsere Schätze im Sand und malten Karten, damit wir sie später wiederfinden würden.
Fuhren wir angeln, musste ich für Sebastian die Regenwürmer auf- und die Fische von seinem Haken friemeln, weil er ihnen nicht weh tun wollte. Großvater zog ihn damit immer auf, aber Sebastian reagierte nicht auf seinen Spott. Wortlos hielt er mir Pose und Haken hin und ich löste die Fische, warf die kleinen zurück ins Wasser und die großen ins Netz.
Daran dachte ich, als Sebastian mich in den Arm nahm und in diesem Moment roch er nach Tang, Fisch und Malzkaffee.
Wir setzten uns, studierten die Karte, bestellten und suchten nach Themen, wie einst nach unseren Schätzen.
„Was macht der Job?“, fragte ich.
„Hab die Firma gewechselt.“
„Und?“
„Nur die Firma gewechselt. Nicht mehr. Nicht weniger. Und bei dir?“
Die Kellnerin stellte die Gläser zwischen uns. Ich nippelte an meinem Strohhalm und kaute auf den Früchten. Wir schauten den Fischen zu, schwammen mit ihnen im Kreis. Wenn sich unsere Blicke trafen, hielten wir es nicht aus und rührten statt dessen das Eis in unseren zu schnell geleerten Gläsern.
Nach dem Abitur ging ich für ein Jahr als Au-Pair nach Irland. Sebastian besuchte mich in den letzten drei Wochen und wir reisten durchs Land. Als wir die Kirchenglocken in Cork leuteten, schickten wir mit jedem Schlag Wünsche über die Stadtdächer, die alle mit „wir“ begannen.
Ein Jahr später unterschrieben wir unseren ersten gemeinsamen Mietvertrag. Die Stufen im Treppenhaus klagten, wenn man sie betrat. Die Tapete in den Zimmern pellte sich von den Wänden, Kabel für Fernsehen und Telefon hingen wie Wäscheleinen durchs Wohnzimmer. Einzig der schnörkelige Kachelofen im Schlafzimmer hatte nichts von seinem Glanz eingebüßt. Dass er nicht funktionierte, erschien uns nebensächlich.
Die Duschkabine, die ich auftrieb, zelebrierten wir wie unseren ersten Jahrestag und seine kindliche Freude über jedes Möbelstück, das ich platzierte, ließ mich nicht zur Ruhe kommen, bis die Wohnung zu uns passte.
„Die panschen“, behauptete Sebastian. „Eis und Pfefferminze packen die in die Gläser, und am Rum sparen die.“
Ich überlegte, ob ich sein Lächeln erwähnen sollte. Noch zwei Drinks und es wird zu einem Dauergrinsen anwachsen.
„Dabei kann dieses Grünzeugs doch unmöglich billiger sein. Da steckt doch keine Logik dahinter!“
Sein Blick zog mich aus. Fraß mich auf. Ich versteckte meine Scham, meine Unsicherheit und meine Erregung hinter der Karte. Hielt sie vor mein Gesicht, wie einen Schutzschild. 'Nur reden. Sich mal treffen und plaudern. Unverbindlich.' Darauf hatten wir uns geeinigt, als er mich anrief. Und es war mir in diesem Augenblick egal. Ich wollte meine Hand ausstrecken, wollte Sebastian am Arm berühren, mit meinen Fingern das Muster auf seinem Pullover nachzeichnen, wollte ...
„- nicht miteinander schlafen. Versprich es mir“, holten mich Sebastians Worte ein, zogen mich wie Blei hinab und für einen Moment verlor ich die Orientierung. Ich schluckte es wie salziges Wasser, nickte mechanisch, hörte meine Stimme „ja, versprochen“, sagen und ließ die Karte sinken.
Wir starrten nicht mehr einvernehmlich auf die Aquarien. Sebastian wurde unruhig. Trank schneller. Strich sich durchs Haar oder kratzte sich, zog den Pullover erst aus und sogleich wieder an; schließlich sprang er auf und stieß dabei so heftig gegen den Tisch, dass die Gläser umstürzten. Er kniete sich auf den Boden, um die Scherben aufzusammeln. Die Kellnerin kam. Mit Kehrblech und Handfeger. Ich verlangte die Rechnung, legte Sebastian meine Hand auf die Schulter und flüsterte: „Komm.“
„Der hat genug“, stellte die Kellnerin fest, als sie mir das Wechselgeld herausgab.
Ich nahm seine Hand. Sie blutete. Er hatte sich verletzt. Ich zog ihn raus, winkte ein Taxi heran und gab seine Adresse an. Er legte seinen Kopf auf meinen Schoss und grinste. 'Doch ein bisschen zu viel Rum', dachte ich und brachte ihn nach Hause, in seine Wohnung, in sein Bett.
In der Nacht weckten mich seine Hände. Sanft strichen sie über meinen Rücken, über die Schultern, über meine Arme. Ich rührte mich nicht, wollte nicht, dass er aufhörte, krallte meine Finger ins Laken. Genoss die Kreise, die er nun um meine Brust, auf meinem Bauch, auf meinen Oberschenkeln zog. Als er meinen Slip zur Seite schob, drehte ich mich um, schaute ihn an. Das Lächeln war fort. Wieder dieser Moment. Und diesmal hielten wir ihn fest, gaben nach und versanken ineinander.
Zwei Jahre war ich damit beschäftigt, Sebastian glücklich zu machen, nahm jede erdenkliche Rolle ein; Prinzessin, Krankenschwester, Geliebte, Verwalterin, Zuhörerin, Punchingball. Gingen wir ins Kino, überließ ich ihm die Wahl des Filmes. Ich hörte seine Musik, ging mit seinen Freunden aus, freute mich über die Urlaubsorte, zu denen er mich brachte, schaute Boxen. Ich wurde Sebastian.
Hinter der Scheibe am Flughafen stand Sebastian und formte aus Daumen und Zeigefinger Herzen, umarmte mich symbolisch, schlug mit der flachen Hand den Puls auf seiner Brust nach, während ich auf mein Gepäck wartete. Zwei Wochen war ich mit meiner Seminargruppe in der Ukraine, sammelte Gesteinsproben für die nun folgende Analyse. Ich streckte die Arme nach ihm aus, gestikulierte wild, bis sich das Band endlich in Bewegung setzte. Koffer und Taschen wurden hinuntergestemmt und fortgeschleppt. Irgendwann erblickte ich meinen Rucksack, den Schlafsack daran festgezurrt. Ich sah die Bilder, die auf meiner Kamera gespeichert waren. Unsere Gruppe, wie wir Hirsebrei kochten, das Gebirge, die improvisierten Wäscheleinen nach dem Gewitter, die Marktfrauen mit ihrem Gemüse, Vieh und kratzenden Schafswollsocken, die Wodkaflaschen und das Feuer in den eisigen Nächten. Ich griff nicht zu, ließ den Rucksack auf dem Band, schaute ihm nach, wie er in der Luke verschwand, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Runde um Runde brachte ich es nicht fertig, seine Reise zu beenden.
„Komm endlich!“, rief Vera, mit der ich das Zelt geteilt hatte, dann verschwand sie in der Menge, die sich durch den schmalen Ausgang drückte.
Ich drehte mich um, sah Sebastian, der mich fragend anschaute, zuckte mit den Schultern, hob mein Gepäck vom Band, drängte hinaus, in Sebastians Arme und suchte über seine Schultern nach meinen Reisegefährten, die sich in der Halle verloren.
Als ich am Vormittag erwachte, schlief Sebastian. Das Verlangen, mit ihm zu frühstücken, den Tag mit ihm zu verbringen und abends seine kalten Füße an meinen Waden zu spüren, zog mich in einen Strudel, wirbelte mich umher und spuckte mich in die Monate zurück, in denen ich versucht hatte, Sebastian und mich glücklich zu machen.
Ich saß auf dem Boden im Flur. Abzählreime vor mich hinmurmelnd: Geh ich oder bleib ich.
„Nun zieh sie schon an“, flüsterte Sebastian mir ins Ohr.
„Und du? Was machst du?“
„Ich schau bei Martin vorbei.“
„Und wenn ich lieber mit dir zu Martin kommen will?“
„Du hast eine Stunde für die Theaterkarten angestanden. Und jetzt willst du mit mir und Martin Krieg spielen?“ Er lächelte, wuschelte mir durchs Haar und wandte sich ab.
Ich blieb mit meinen Schuhen im Flur sitzen, starrte sie eine Weile an und warf sie schließlich gegen die Wand.
Wir quälten uns über ein paar Monate; erst kämpfend, später ermüdet und schließlich resignierend. Irgendwann dazwischen hörten wir auf, miteinander zu schlafen - zu lachen - zu streiten - den anderen zu fragen, wie der Tag war.
Sebastian fuhr nicht mit zum Geburtstag meines Großvaters. „Ich muss lernen. Und du bist da nicht allein. Du kennst doch alle.“ Mit diesen Worten schob er mich samt Blumenstrauß aus der Wohnung.
Alle waren sie da. Die Familie, die Nachbarn, sogar der Bürgermeister erschien zum Gratulieren. Die Männer in Sakkos, die Frauen in Röcken oder Kleidern, Tellergeklapper, Stimmengewirr, stickige Luft. Auf das leere Gedeck neben mir legte ich ein Stück Apfelkuchen, goss Kaffee ein und verrührte ein Stück Zucker. 'Für Sebastian', dachte ich und kam mir im selben Moment albern vor. Als die Kellnerin später fragte, ob sie nun abräumen dürfe, nickte ich, zog mich an und ging nach draußen, hinunter zum Strand, wo Kinder auf dem Eis schlitterten. Ich schaute ihnen vom Ufer aus zu, bis fortgingen. Erst als ich auch ihre Stimmen nicht mehr hören konnte, nahm ich Anlauf, rutschte, stolperte und fiel. Durchgefroren und mit schmerzenden Steißbein humpelte ich zurück, bestellte mir an der Bar einen Grog und erzählte jedem, der danach fragte, dass Sebastian mitten in den Prüfungen steckte.
Zum Abendessen nahm ich nicht meinen Platz an der Tafel ein, sondern blieb an der Theke stehen. Als meine schwangere Cousine ihre aufgeblähten Brüste an mir vorbeitrug, wünschte ich, sie würden platzen und sah sie in Fetzen über dem Spanferkel landen.
Ich weiß nicht, wie oft meine Mutter mich fragte, ob mit mir bestimmt auch alles in Ordnung sei, ich wirke so angespannt. Ob ich nicht mit ihr tanzen wolle, jetzt, wie die anderen es taten, so wie wir es früher taten. Ich verwies auf mein schmerzendes Hinterteil, ging auf die Toilette und kehrte nicht in den Festsaal zurück. Auf der Autobahn zählte ich die LKW, die ich überholte, hielt zwei Mal für einen Becher Kaffee an, drehte die Musik laut und entschuldigte mich in Gedanken bei meiner Familie.
Sebastian war nicht zu Hause. Seine Bücher lagen offen auf dem Esstisch, ein angebissenes Stück Pizza dazwischen. Eine volle Kaffeetasse. Auf dem Badezimmerboden sein Handtuch und das Shirt, das er heute Vormittag getragen hatte.
Im Bett lauerte ich auf das Geräusch seiner Schlüssel und als er unter die Decke kroch, stellte ich mich schlafend. Kein Wort, keine Hand die mich zu erreichen versuchte. Es interessierte ihn nicht, dass ich hier war. Warum ich hier war. Er zuckte im Schlaf, als ich packte, was in Rucksack und Tasche passte. Mein Handy warf ich in den Müll, nahm die Autoschlüssel und zählte die LKW auf der Autobahn.
Ich flüchtete aus dem Bett, suchte hastig meine Sachen zusammen; bemüht leise und darauf konzentriert, ihn nicht anzuschauen, nicht seinen Atem zu hören, nicht nach dem T-Shirt auf dem Boden zu greifen.