- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 28
Sie spricht zu mir
Zu dieser Geschichte existiert eine erweiterte Überarbeitung: Sie spricht zu mir (extended remix)
Grau, grau, grau.
Schwarze Linien.
Eine riesige Fläche von Cyan, RAL 9000, man konnte die Struktur des Sichtbetons hindurchsehen.
Schwarze Linien.
Rot: Blutrot.
Keller sah die Wand nochmals von oben nach unten an, kaum konnte man erkennen, wo das Graffiti aufhörte und die Blutlache begann. Wenn da nicht der Körper des Jungen gewesen wäre, der zusammengesunken an der Betonwand lehnte. Der blutrote Fleck in dem riesigen azurblauen Quick stammte von ihm.
Leute wimmelten um die Leiche herum wie Insekten um einen frischen Kadaver. Keller kam fast der Kaffee hoch bei diesem Gedanken.
Nein, das Bild passt nicht, dachte er. Niemand würde diesen Anblick mit Nahrung verbinden.
Ein grauhaariger Mann mit einem Nasenpiercing trat auf ihn zu. Goldmann von der Spurensicherung.
"Inspektor Keller", sagte er, "meine Leute würden dann gerne den Tatort abgrasen."
Abgrasen, dachte Keller. Schon wieder Nahrung. Laut sagte er: "Kein Problem, wir sind hier fertig."
Während Goldmann und seine Kollegen ihre Apparate aufbauten und eine Art transparentes Plastikzelt um den ganzen Tatort schlossen, ging Keller zu Fenske. Sie nahm die Personalien von den Zeugen auf, viele waren es nicht: Der Servicetechniker der U-Bahn, der die Polizei gerufen hatte und ein Sprayer, ein Junge in einem engen, dunkelbraunen Anzug. Der Techniker war hinter dem Jungen her gewesen, als die beiden buchstäblich über den Toten im Tunnel gestolpert waren.
Fenske wandte sich um. Sie steckte ihr Pad in eine Innentasche ihres silbergrau schimmernden Trainingsanzuges, Retro der Nullerjahre. "Bin hier soweit fertig. Können wir dann?"
Keller schluckte seine Übelkeit herunter und nickte.
Sie folgten dem mit grünen Leuchtschildern markierten Weg entlang der Gleise und erreichten die U-Bahn-Station. Ein Beauftragter der Verkehrsbetriebe erwartete sie schon.
"Wann können wir den Betrieb endlich wieder aufnehmen? Die U-Bahn ist die Lebensader dieser Stadt!"
Arme Stadt, wenn sie auf diese verstopfte Aterie angewiesen ist, dachte Keller. "Die Spurensicherung wird nicht lange dauern, Herr ..."
Der Typ ignorierte seine Andeutung und fuhr fort: "Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn das bald sein könnte."
Keller nickte Fenske zu. "Personalien." Wenn er seinen Namen schon nicht sagen konnte, vielleicht konnte er ihn buchstabieren. Ohne auf Fenske zu warten fuhr er an die Oberfläche und wartete im Wagen auf sie.
Dunkel. Dann ein rotes Blinken der verstaubten Signalanlage. Dunkel. Grünes Blinken. Das Quieken der Ratten synchronisierte sich langsam mit den Lichtern. Knacken in den Gasleitungen, das entfernte Rattern von Relais.
"Lass mich in Ruhe!", stöhnte der alte Mann. Er lag auf dem Bauch im Tunnel. "Ich will nicht mehr!"
Weiteres Rattern, Quieken, Blinken.
"Ja, ja!", mit gepresster Stimme. "Ich weiß!"
Blinken.
"Ich werde es ja tun. Ich werde ihn suchen, ja." Mühsam drückte sich der Alte nach oben, klopfte Schmutz von seinem Mantel. Tappend entfernten sich seine Schritte im Tunnel.
Leises Rattern.
"Ich liebe dich auch."
"Okay, was haben wir?" Fenske stand vor dem Whiteboard, über eine Rückprojektion waren darauf fünf Fotos zu sehen.
Muster: Ein großflächiges Piece in plakativen Farben, am unteren Rand ein roter Fleck. Im Zentrum jedes Mal eine menschliche Leiche.
Buntes Licht der Rückprojektion beleuchtete die Gesichter der anderen Versammelten: Keller, Matthiesen und Riegel, der Experte von der Soko Graffiti.
"Was haben diese Toten gemeinsam?", fuhr Fenske fort.
Matthiesen fuhr mit der Hand durch seine halblangen Haare. "Oberflächlich Nichts. Der erste Tote war ein Techniker der Bahn. Fünfzig, Familienvater. Nummer zwei und drei junge Frauen, die auf dem Rückweg aus der Disco verschwunden sind. Nummer vier ein Reanimierter, Veteran aus dem Drei-Städte-Konflikt. Und jetzt", Matthiesen wies auf das neueste Foto, "ein Oozer, ziemlich jung. Ich sehe da keine Verbindung."
"Die Pieces haben auch kaum Gemeinsamkeiten", schaltete sich Riegel ein.
Keller drehte den Kopf, um den jungen Polizisten besser sehen zu können. NRK-9 war Riegels Name in aktiven Tagen gewesen, erinnerte sich Keller, dann hatte er die Seiten gewechselt.
"Wir haben zwei Werke von Tigel2010, eines von Al-Habit und zwei von irgendwelchen Anfängern."
"Kann es sein, dass jemand alle gemalt hat und nur die Unterschriften gefälscht hat?"
Riegel schüttelte den Kopf. "Wir haben nicht nur die Tags untersucht, wir haben alle sichtbaren Teile durch die Software laufen lassen. Die stilistische Übereinstimmung ist bei fast 100%, eine so akkurate Fälschung ist für einen Menschen unmöglich."
"Also eine Maschine?", fragte Keller.
Riegel zuckte mit den Schultern. "Möglich. Aber warum sollte man den Aufwand betreiben? Um die Szene zu diskreditieren? Das erscheint mir abwegig."
"Gut", sagte Keller, "also fünf Tote, vor unterschiedlichen Graffities, sie haben nichts gemeinsam außer ihrer Platzierung, die ein Zufall sein kann. Wir stehen mit leeren Händen da."
"Nicht ganz."
Sie drehten sich zu Matthiesen um.
"Die Opfer wurden doch recht brutal umgebracht, und die Spurensicherung ist sich sicher, dass sie angehoben und gegen die Wand geschleudert wurden." Er blätterte in einem Bericht. "Aus einer Distanz von etwa zwei Metern, wie aus den Frakturen berechnet werden konnte. Der Mörder muss sehr stark sein, oder eine Art von Verstärkung benutzen."
"Ein Pilot? Noch ein Veteran?", fragte Keller.
"Möglich. Wir sollten aber auch eine technische Vorrichtung nicht ausschließen, etwa einen Gabelstapler oder so etwas."
Keller nickte zustimmend. "Riegel, ich möchte trotzdem, dass Sie an der Graffiti-Sache dranbleiben. Lassen sie den Stil auf gemeinsame Elemente analysieren und versuchen sie, mit den - ähm - Künstlern in Kontakt zu kommen. Und sie Matthiesen steigen der Spurensicherung auf die Füße: Ich will alles wissen, was auf das Militär hinweisen könnte. Fenske?"
"Ja?" Ein erwartungsvoller Blick grauer Augen.
"Sie kommen mit mir."
"Wohin?"
Keller lächelte. "Kaffeetrinken. Wir müssen die Akten nochmal durchgehen."
Schreie und zu viel Licht. Vorsichtig schaute der alte Mann um die Ecke. Licht war nicht gut. Zwei Gestalten standen dort: Eine lange, dünne und eine gedrungene. Die gedrungene Gestalt zog die lange am Arm hinter sich her, auf das Zeichen zu. Es war eines von den großen, rund, in einem tiefen Blau.
Der alte Mann zitterte am ganzen Körper, das kam nicht von der Kälte im Tunnel, die war er längst gewöhnt. Er strich sich mit den Händen durchs Gesicht, den verfilzten Bart entlang. Erneut drückte er sich um die Ecke.
Die gedrungene Gestalt hatte die lange Gestalt hochgehoben und schleuderte sie gegen das Zeichen. Es gab ein krachendes Geräusch, wie von sprödem Plastik. Rot breitete sich vor dem Blau aus.
Entferntes Rattern.
"Ich weiß", flüsterte der alte Mann. Tränen liefen über sein Gesicht.
Als der Gedrungene den Tatort verließ, folgte er ihm langsam.
"Ein sechstes Opfer?" Keller war bestürzt. So schnell hatte er keinen weiteren Mord erwartet. "Und was ist die gute Nachricht?"
Riegel zögerte kurz. "Ich hoffe zumindest, dass es eine gute Nachricht ist, eigentlich sogar drei: Zunächst konnte ich keinen Kontakt zu den Sprayern herstellen. Daher habe ich mich an einen Dozenten an der Kunsthochschule erinnert, einen Professor Stebbe. Er ist ein Spezialist unter den Spezialisten, es gibt nichts, was er nicht über das Malen weiß. Außerdem ist er Mathematiker und hat einen Doktor in Bioinformatik."
"Aha." Kellers Miene blieb unbewegt. "Und was sagt dieser Wunderknabe?"
"Offenbar ist er im Ruhestand und dort nicht zu erreichen. Allerdings habe ich seinem Nachfolger Ihre Nummer hinterlassen, falls er sich meldet. Die zweite Sache betrifft den ermordeten Veteranen. Er hat laut Auskunft der Militärheinis Trope, ich meine Nanotropan, an seine ehemaligen Kameraden vertickt. Möglich, dass das etwas mit dem Mord zu tun hat."
"Wie haben Sie das erfahren?", fragte Keller.
Riegel grinste. "Amtshilfe von den Streitkräften. Was aber noch besser ist: Ich bin an der Analyse drangeblieben, wie Sie gesagt hatten. Die Mustersoftware konnte eine Art Prototypen aus den Pieces synthetisieren, wenn man will eine Art gemeinsamen Nenner. Damit bin ich zu den Streitkräften gegangen."
Keller spielte nervös mit einem Speicherstick. "Hmm?", machte er.
"Das Amtshilfeprogramm, Sie wissen schon. Auf jeden Fall kannten sie das Ding!"
"Raus mit der Sprache!"
Riegel beugte sich vor und stützte die Arme auf Kellers Schreibtisch.
"Chef, wissen Sie, was ein Trigger ist?"
"Sie werden's mir gleich erklären."
Riegel nickte. "Gemeint ist damit ein psychischer Auslöser, eine Sinneswahrnehmung, die einen spontanen Reflex oder eine komplexere Handlung auslöst. Die Militärs meinten, das Zeichen sei ein Trigger."
Keller strich über sein Kinn. "So etwas wie Hypnose? Sie meinen, man hat jemanden programmiert, zu töten, wenn er das Ding sieht?"
"Das wohl nicht", sagte Riegel. "Es ist wohl ursprünglich eine Art Zielmarke für die Piloten. Aber die Psychologen sagten, dass sich der Trigger durch eine Kreuzreaktion mit dem Trope - dem Nanotropan bilden kann. Wenn die Piloten durch die Droge aufgetunt sind, kann es sich sozusagen einbrennen."
Keller keuchte ungläubig. "Und diese Typen lassen sie hier frei herumlaufen?"
Riegel zuckte mit den Schultern. "Es kann sich wohl noch nach Jahren ausprägen, als eine Art neurales Echo."
Keller drückte eine Knopf an seinem Pad. "Matthiesen, können Sie mir eine Liste aller Veteranen und Piloten auf Landgang besorgen? - Ich warte."
Er starrte auf den kleinen Schirm.
"Verdammt!", grunzte er.
"Was ist?" Riegel beugte sich neugierig vor.
Auf dem Bildschirm rollte eine Liste durch. Ganz unten eine Zahl: 526.
Mitten in der Nacht fuhr Keller aus unruhigem Schlaf auf. Sein Herz raste, wie immer, wenn er unsanft geweckt wurde. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Signalton des Pads erkannte.
Wer zur Hölle hatte seine Privatnummer? Außer seiner Mutter und dem Telefonprovider konnte die niemand wissen.
Er stupste das läutende Pad an. Sofort baute sich auf der gegenüberliegenden Wand ein Bild auf. Keller sah eine dunkle Silhouette, die von einem arhythmischen roten Licht gegen völlige Schwärze gezeichnet wurde.
"Inspektor Keller?", fragte der Schemen.
"Am Apparat", sagte Keller.
"Ich bin Stebbe. Sie erwarten meinen Anruf." Eine Stimme wie alte Bitumenpappe.
"Kann schon sein. Woher haben sie diese Nummer?" Keller war jetzt hellwach.
"Das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass wir uns treffen, so schnell wie möglich, bevor noch mehr Menschen sterben müssen."
Keller hatte das unheimliche Gefühl, dass jemand Stebbe diese Worte vorsagte, obwohl außer einem leisen Rattern nichts weiter zu hören war.
"Ich würde das lieber am Pad ..."
"Sie müssen kommen!" Stebbes Stimme war nun eindringlicher. "Sie müssen es sehen! Und kommen sie allein!"
Keller überlegte kurz. Er würde sich bewaffnen, klar, und er würde Matthiesen in der Nähe postieren. "Wo treffen wir uns?"
Stebbe entspannte sich. Keller konnte nun auch sein Gesicht sehen, es wurde aus einer anderen Lichtquelle grün beleuchtet.
Meine Güte, der Kerl sieht aus wie ein Penner, dachte er.
"Tunnel 12, das ist die Linie 6. Zwischen Torplatz und Schweigerstraße ist ein unbenutzter Bedarfsbahnhof. Dort treffen wir uns, in einer Stunde."
In dem flackernden roten Licht sahen die Kondenswolken aus, als würde Stebbe Blut ausatmen. Keller fröstelte, es war kalt hier unten auf dem verlassenen Bahnsteig. Blaue Notbeleuchtung tauchte den Tunnel in künstliches Mondlicht. In einer Ecke konnte Keller einen Schlafsack, ein Pad und einen Stapel undefinierbarer Kartons erkennen.
Stebbe schwafelte. "Und dann fiel mir auf, dass die Strukturen des Graffiti sich über die Jahre veränderten. Eine Änderung der mittleren Krümmung hier, etwas andere Farbspektren da, nichts Großes, aber ein Trend. Ich kam auf die Idee, verschiedene Informationsmaße an den Fotos auszuprobieren."
"Sie wollten mir etwas über die Morde sagen." Keller bekam langsam Bedenken. Was, wenn der Professor völlig verrückt war? Sicher, er war bewaffnet, aber zumindest Opfer Nummer 4, der Veteran, war auch nicht völlig hilflos gewesen.
"Mach ich doch. Ich verwendete Algorithmen, die zur Analyse von Gen-Sequenzen entwickelt worden waren. Musterschleifen. Die Software zur Analyse von Styles, die die Polizei verwendet, ist ein Abfallprodukt dieser Arbeit. Das Ergebnis riss mich vom Hocker: Das Graffiti war strukturiert wie eine Pflanze, etwa wie ein Moos. Es wuchs, mutierte und tauschte Gene aus."
Was tat er hier überhaupt? Der Typ war doch offensichtlich durchgeknallt. Keller dachte, dass er ihn einfach festnehmen und auf der Wache verhören sollte. Wieder begann eine Signalanlage unruhig zu blinken, wie Morsezeichen. Seltsamer Defekt.
"... wie Organellen. Sie schlossen sich zusammen, und das war erst der Anfang! Telefon- und Datenleitungen, Algenkolonien, Weichenstellwerke der U-Bahn, Rattenpopulationen, Signalanlagen: Überall ähnliche Muster. Es dachte und es wuchs immer noch. Und dann sprach sie zu mir."
Keller stutzte. "Sie sprach?"
Stebbe kicherte. "In meinem eigenen Gehirn formten sich Gedanken, die nicht meine waren. Induziert, wenn ich ein Signal betrachtet, oder dem Schaben der Ratten zuhörte. Deshalb ging ich hier herunter. Ich lebe schon seit Monaten hier."
Wieder blinkte das rote und jetzt auch das grüne Licht. Ein fernes Rattern mischte sich dazu. Fast klang es wie ein Flüstern, doch wie in einem Traum konnte Keller die Worte nicht ganz verstehen.
Stebbe rückte näher, und Keller konnte riechen, dass es hier unten keine Dusche gab. "Sie verstehen sie fast, nicht wahr?"
Keller wollte den Kopf schütteln. Seine Beine fühlten sich an, als sollte er fliehen. Rattern, Blinken. Er nickte.
Stebbes Stimme war ein stinkendes Raunen. "Letzte Woche sagte sie es mir."
Als Keller am nächsten Morgen zum Dienst kam, veranlasste er zuerst die Einschaltung eines Sondereinsatzkommandos. Mit zehn Mann trafen sie vor dem Stahlschott einer Wohnung in den Außenbezirken ein, im sogenannten Schwedenviertel. Mit einem Override-Pad öffneten die SEK-Leute das Schott und stürmten wie ein Schwarm humanoider Käfer in die Wohneinheit.
Der Veteran der Luftwaffe saß im Unterhemd in der Küche. In einem Moment saß er dort, ein normaler Mann mittleren Alters, etwas faltig, wenn auch gut in Form. Im nächsten Moment füllten die Hartschaumwerfer das Zimmer mit schnell aushärtendem Kunststoff, doch das Ziel war schon nicht mehr dort. Der ehemalige Pilot schien zu fliegen, schaltete die schwer gepanzerten SEK-Leute schneller aus, als diese ihre Werfer heben konnten.
Einzig die schmale Küchentür rettete sie. Anstatt sich im Raum zu verschanzen, versuchte der Veteran herauszukommen. Im Flur warteten Keller und ein weiterer SEK-Mann. Ein gezielter Schuss mit einem Gel-Taser ließ den Piloten zuckend zu Boden fallen, in dem Durchgang hatte er keine Chance den zwei Gelfäden und den 20000 Volt auszuweichen.
Kaffeedämpfe ließen Fenskes Hornbrille beschlagen. Nicht, dass sie eine Brille brauchte, die Dinger waren einfach in. Sie nahm einen Schluck, lehnte sich dann auf dem Plastikstuhl zurück und blickte sich in der Cafeteria um.
"Er hat gestanden", sagte sie zu Keller. "Die Psychologen meinen, er wollte Drogen von dem Dealer kaufen, ist dann aber ausgetickt, als er den Trigger sah."
Keller runzelte die Stirn. "Das ist unlogisch. Der Veteranendealer war das vierte Opfer."
"Soweit ich das verstanden habe, gibt es bei den Veteranen etwas, das man Antichronologisches Syndrom nennt. Es hat wohl hier bewirkt, dass der Typ bei einem früheren Deal auf Mord programmiert wurde, und ab da in der festen Überzeugung lebte, die Leute bereits getötet zu haben. Die Umsetzung war dann nur noch eine nachträgliche Erfüllung für ihn."
"Was soll das für ein Schwachsinn sein?"
Fenske verzog das Gesicht. "Es ist anscheinend eine weitere Nebenwirkung des Nanotropans. Eigentlich soll es die Hemmschwelle senken, und das kommt wohl manchmal dabei heraus. Jetzt habe ich aber eine Frage: Woher wussten Sie, dass ausgerechnet er es war? Wir hatten doch eine Liste mit über 500 Kandidaten."
Keller erzählte von seinem Treffen mit Stebbe.
"Das verstehe ich nicht", sagte Fenske. "Sie hat ihm gesagt, wer die Morde verübt? Warum?"
"Nun, er meint, die Graffities seien eine Art Gedächtnis von ihr, und die Morde störten ihre Struktur. Eine andere Theorie von ihm ist, dass sie das Töten einfach nicht tolerieren wollte."
"Ja, okay, aber sie ... wer ist sie?", Fenske schüttelte sich etwas, trotz der Wärme in der Cafeteria.
"Die Stadt. Es ist die ganze verdammte Stadt. Ein menschliches Gehirn hat hundert Milliarden Gehirnzellen, meint er. Eine Stadt mit über fünf Millionen menschlichen Einwohnern hat wesentlich mehr funktionale Einheiten: Ungeziefer, technische Einrichtungen, Infrastruktur. Die Möglichkeiten zur Verknüpfung dieser Dinge übersteigen die Verknüpfungen im Gehirn bei weitem." Keller trank einen Schluck Kaffee. Er starrte auf die kunststoffbeschichtete Tischplatte. "Stebbe meint, jede große Stadt hätte ein Bewusstsein, schon seit langem", fuhr er leise fort. "Bloß unsere sei die erste, die auch Augen und Hände habe."
Fenske starrte ihn an.
"Ich glaube, ich will umziehen", murmelte sie.
"Ich auch. Noch'n Kaffee?"