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Sie
Was erwartet man eigentlich vom Leben? Diese Frage stellte er sich schon seit zwei Stunden. Und immer wieder fand er keine Antwort darauf. Warum leben wir eigentlich, wenn das Leben so und so grausam ist? In seine Gedanken drang ein Bild. Das Bild derer, die er so sehr geliebt hatte, und sie. Ja, sie hatte ihn auch geliebt. Damals lernten sie sich kennen, am Teich im Park. Es war gerade Abend geworden und die ersten Sterne waren am Himmel erschienen. Er war auf der Bank gesessen und hatte einen Schwan beobachtet, der schon zwei Stunden lang, ohne sich zu bewegen, vor ihm auf dem Wasser schwebte. Und je länger er diesen Schwan ansah, merkte er selber wie trostlos sein Leben war. Jetzt hier auf dieser Bank, ganz allein im Park, wurde ihm plötzlich bewusst, was er alles verloren hatte. Er senkte den Kopf wieder, streifte den Schwan und sah dann wieder auf den Boden. Doch es hatte sich etwas verändert. Der Schwan. Er hatte seinen Kopf ihm zugewandt. Die Augen des Schwans glitzerten. Er lächelte nur matt und senkte den Blick wieder. Er wandte sich wieder seinem Leben zu. Was kümmerte ihn ein Schwan? Doch dann hörte er zum ersten Mal ihre wunderbare Stimme. „Was ist denn mit dir…warum bist du des Lebens so überdrüssig?“. Er schreckte hoch. Und da stand sie. Direkt vor ihm wie ein Gespenst, aber dennoch so wunderschön wie ein Engel. Er erhob sich langsam, seine Gedanken waren wie leergefegt und er spürte auch die Nässe und Kälte nicht mehr. „Was?“ murmelte er. Die Frau lächelte ihn an. „Warum sitzt du so alleine hier?“. Er schluckte kurz und zuckte dann mit den Schultern. „Wohin sollte ich sonst gehen?“. Sie lächelte wieder nur. Dieses Lächeln schien die Nacht zu erhellen. „Nachhause!“, sagte sie mit so viel Selbstverständlichkeit, dass man es ihr hätte glauben können. Er war zuerst etwas verwirrt, setzte sich dann wieder und sah auf das Wasser des Teiches. Der Schwan war anscheinend davon geflogen, als sie gekommen war. „Ich habe so etwas nicht mehr!“. Er spürte wie sie neben ihm Platz nahm. „Aber wieso denn nicht?“. Etwas in seinen Gedanken hinderte ihn daran ihr davon zu erzählen, doch dann kamen die Worte einfach so aus seinem Mund, ob er es gewollt hätte oder nicht.
Und so begann er zu erzählen. Alles was ihm widerfahren war in den letzten beiden Wochen. Und sie? Sie saß da und hörte ihm zu, unterbrach ihn kein einziges Mal. Und dann, als er geendet hatte sagte sie mit einem leichten Lächeln. „Dann werden wir zu mir gehen, es ist kalt und du hast keinen Platz, wo du schlafen könntest!“. Mit diesen Worten erhob sie sich und ging und er folgte ihr langsam.
Er betrat das warme Zimmer der fremden Frau, die ihm noch immer keinen Namen genannt hatte. Sie schloss die Tür und sah ihn an. Er nickte nur kurz und sah sich um. Die Wohnung war mit dunkelbraunen Möbeln eingerichtet. Am Anrufbeantworter blinkte das rote Licht. Er nickte wieder nur und setzte sich auf einen Couchsessel. Sie betrat das Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Es war nicht extrem hell, aber es erhellte den Raum doch etwas. Sie setzte sich ihm gegenüber auf die Bank und sah ihn an. Er schluckte kurz und spürte die Wärme in diesem Raum. „Es ist eine sehr schöne Wohnung!“. Sie nickte, aber schwieg weiter. Ein unbehagliches Gefühl kroch in ihm hoch. Warum sagte sie nichts und sah ihn einfach nur an. Er senkte den Blick. Sein ungutes Gefühl stieg immer mehr. Doch dann endlich sprach sie wieder mit ihm. „Warum versuchst du nicht die positiven Dinge aus der Sache zu sehen!“. Er sah sie fragend an. „Dann bist du auch deines Lebens nicht mehr überdrüssig!“. Er sah sie weiterhin nur schweigend an. „Wie lange ist es her, dass du wieder mal richtig ausgegangen bist?“. Sein Gehirn arbeitete. Schließlich zuckte er mit den Schultern. Sie erhob sich und ging zu ihm. „Dann gehen wir aus und lassen es uns gut gehen!“.
Und das taten sie dann auch. Sie traten hinaus in die Nacht und besuchten all die tollen Clubs und Pups in denen er so oft gewesen war. Und da traf er auch wieder seine Freunde und schien fast die Frau an seiner Seite zu vergessen, doch man konnte sie nicht vergessen, niemand der sie gesehen hatte, konnte sie vergessen.
Wie lange sie unterwegs waren, wusste er nicht. Doch als sie in das Appartement von ihr zurückkamen, lachten sie schallend und sangen noch die Lieder, die sie gehört hatten. So fielen dann beide todmüde ins Bett. Heute war der absolut schönste Tag in seinem Leben gewesen und heute würde er seine Chancen nutzen. Er hob langsam den Blick und sah sie an. Sie lag bereits auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen.Er atmete noch einmal tief durch, packte sie und küsste sie.
Er seufzte. Was war das für eine schöne Zeit gewesen. Sie hatten sich jede Nacht geliebt und viel zusammen unternommen und dann war der Tag gekommen.
Er hatte seinen ersten Arbeitstag in der neuen Firma gehabt und war zurück in ihr Appartement gekommen und das Einzige, was er gefunden hatte, war ein Zettel. Sie musste gehen, hatte ihre Zeit überschritten. Sie hatte die Zeit mit ihm sehr genossen, doch nun, da er wieder im Leben stand war ihre Arbeit getan. Er würde sie nie wieder sehen, war ihr letzter Satz gewesen. Der Satz, mit dem sie für immer aus seinem Leben verschwinden würde.
Und nun saß er hier, hier auf der Bank, auf der sie sich kennen gelernt hatten und dachte nach über alles, was geschehen war. Sie war gegangen und sein Leben war trostlos geworden. Er hörte ein Plätschern am Wasser. Ein Schwan war gerade gelandet und putze sich sein Gefieder. Er legte den Kopf schräg. Aber war es denn wirklich trostlos geworden nur weil sie gegangen war. Er hatte eine Arbeit, hatte Freunde, mit denen er morgen campen fahren würde und er hatte jemanden gehabt, der ihn aus seinem Loch herausgeholt hatte. Der Schwan drehte den Kopf zu ihm und sah ihn an. Schließlich begann er zu lächeln und stand auf. Diesmal würde er auf niemanden warten, der ihn abholte, diesmal ging er selbst in sein Appartement zurück und der Schwan blieb einsam und allein zurück.