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11.05.2005
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Es hatte geregnet. An jenem Tag. An jenem Tag, als ich sie zwischen den tristen Mauern des Fabrikgeländes fand. Sie zitterte. Dabei waren die Tropfen des Sommerregens, der sie nicht berührten, warm und angenehm wie die Luft um sie herum. Manchmal zitterte sie auch, wenn die Sonne ihre Strahlen zur Erde schickte. Soweit ich mich erinnern kann, hatte sie fast immer gezittert. Sie. Das Mädchen mit den blauen Augen und dem silbernen Haar.
Ich setzte mich neben sie. Sie schwieg. Sah nicht einmal auf. Wie eine Puppe aus Porzellan saß sie dort. Auf der Treppe. Ihre Haut war weiß. Weiß wie Schnee. Ich hätte sie gerne berührt. Doch ich glaubte, sie würde verschwinden, wenn ich es tun würde. Und so saßen wir schweigend nebeneinander und starrten in den Regen.
Magst du den Regen?
Ja, antwortete ich.
Man sagt, dass Engel weinen, wenn es regnet, sagte sie und hob den Kopf, der auf ihren Armen gelegen hatte.
Ich hab davon gehört. Ob etwas Wahres dran ist?
Sie schwieg. Der Regen trommelte ununterbrochen auf das Blechdach über uns. Ich sah zu ihr. Sie hatte den Kopf wieder gesenkt. Dann seufzte sie.
Dein Name?
Tiara.
Ein hübscher Name.
Ich hasse ihn, murmelte sie tonlos.
Woher kommst du?
Sie sagte nichts. Saß nur wieder da wie eine Puppe aus Porzellan. Fein und gebrechlich. Sie bewegte sich nicht. Es sah aus, als wäre sie wirklich nur eine Figur. Doch das sanfte und gleichmäßige Heben ihres Oberkörpers verriet, dass sie lebte. Vielleicht in einer anderen Welt. In einer Welt, die wir Menschen nicht kannten.
Ich habe sie nie als einen Menschen gesehen. Dafür war sie zu fern. Oft habe ich mich gefragt, wo sie jetzt wohl gerade war. Sie hatte geredet und dann plötzlich geschwiegen. Sie hatte eine Mauer um sich gebaut, deren Tore sich manchmal öffneten. Aber auch unerwartet schlossen.
Für viele wäre sie seltsam gewesen. Doch niemand hatte sie je bemerkt. Niemand kam in dieses verlasse Gelände der Fabrik. Sie war immer allein. Auch, wenn ich sie besuchte. Ich fand sie immer an derselben Stelle. Auf der Treppe unter dem Blechdach.
Von dort, antwortete sie und sah sehnsüchtig in den Himmel. Von dort.
Ich folgte ihrem Blick. Träge zogen die dunklen Wolken vorbei. Leise plätscherte der Regen über uns auf dem Dach aus Blech.
Ist es schön dort oben, fragte ich und lächelte.
Nein.
Warum?
Sie sind grausam, sagte sie.
Wer sind sie?
Sie antwortete nicht darauf. Ich suchte ihre blauen Augen. Sie weinte nicht. Doch in ihrem Innern schenkte sie ihren Tränen die Freiheit. Stumm und doch laut. Ich konnte den Schmerz und die Qual spüren, die sie eroberten. Ihre Augen sprachen davon. Leer waren sie. Ohne Glanz. Wie sie.
Was tun sie, dass sie so grausam sind, fragte ich sie leise.
Sie hassen mich.
Warum tun sie das?
Weil ich anders bin als sie, flüsterte sie.
Dann schwieg sie für eine lange Zeit. Ich saß neben ihr. Sie saß neben mir. Wir saßen stumm. Unsere Blicke unentwegt in den Regen gerichtet. Wir sahen uns nicht an. Wir haben uns nie auch nur einen Blick geschenkt. Vielleicht, weil wir für den anderen nicht wirklich da waren. Nur eine Vorstellung von jemand, den wir gerne gehabt hätten. Den es jedoch nicht gab.
Ist es schlimm anders zu sein?
Nein, antwortete ich.
Warum hassen sie mich dann?
Das weiß ich nicht.
Ich weiß, sagte sie. Vergiss die Frage.
Was hast du an dir, dass sie dich hassen, fragte ich.
Ich bin anders als sie. Darum hassen sie mich.
Wie kann man jemanden hassen, der anders ist?
Ich passe nicht in ihr System. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wangen.
Darum hassen sie dich?
Ja.
Es hatte aufgehört zu regnen. Feucht glitzerte der Asphalt in der Sonne, die den Himmel wieder für sich nahm. Ein kleiner Vogel begann sein Lied zu singen. Sie zitterte. Doch ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ein trauriges Lächeln.
Sie hassen alles, das anders ist, meinte sie traurig.
Warum tun sie das?
Weil es ihre Welt stört. Alles, das anders ist, stört.
Warum?
Sie sagen, es sind Fehler, antwortete sie.
Sie wendete ihr Gesicht zu mir. Obwohl ihre Augen in mir suchten, wusste ich, dass sie mich nicht ansah. Sie konnte mich nicht sehen. Genauso wie ich sie nicht sehen konnte. Deswegen war ich mir nie sicher, ob sie wirklich da gewesen war. Berührt hatte ich sie nie. Auch, wenn es mir Gewissheit gegeben hätte.
Ich will nicht wieder zurück, wisperte sie.
Aber du musst, sagte ich. Ich sagte es mit einer solchen Sicherheit, dass es mich selbst wunderte. Dabei wusste ich nicht einmal, ob sie zurück musste. Dorthin.
Ich weiß.
Du willst nicht nach ihren Regeln leben. Hab ich Recht?
Ja. Das will ich nicht.
Aber sie werden dich deswegen hassen.
Warum kann ich nicht so leben, wie ich es will, fragte sie.
Ich schwieg. Ich konnte ihr nicht antworten. Kannte die Worte dafür nicht. Sie sah mich an. Wartete. Hoffte. Dann senkte sie den Kopf. Sie wusste, dass ich nichts sagen würde. Sie hatte es immer gewusst. Bei jeder Frage, die ich nicht beantworten konnte, weil ich die Worte dazu nicht sah. Doch sie hatte mich diese Fragen immer wieder gefragt. Die Fragen, die keine Antwort hatten. Bis zu dem Tag, als sie verschwand. Als sie nicht mehr auf der Treppe unter dem Blechdach saß.

 

Hallo verlorener.traum,

Anführungszeichen zur wörtlichen Rede würde das Lesen schon mal erheblich erleichtern. ;)
Stilistisch finde ich deine Geschichte sehr stimmig erzählt. Man kann auch viel in die Andersartigkeit hineinlesen. Trotzdem wirkte es auf mich manchmal so, als hättest du dich einer eigenen Auseinandersetzung des "wie möchte ich gerne leben" nicht gestellt. Die Botschaft, dass Andersartigkeit Hass erzeugen kann wurde mir dazu leider schon zu oft erzählt. So verlierst du dich in stimmiger Atmosphäre zu vagen Aussagen, einem stockenden Dialog (der auch nicht flüssiger sein dürfte) leider etwas in Allgemeinplätzchen. Das finde ich persönlich etwas schade.

Zwei Details noch:

Dabei waren die Tropfen des Sommerregens, der sie nicht berührten, warm und angenehm wie die Luft um sie herum
Wenn der Sommerregen sie nicht berührt ist es doch völlig egal wie warm oder kalt die Tropfen waren.
Nur eine Vorstellung von jemand, den wir gerne gehabt hätten.
von jemandem
Wie kann man jemanden hassen, der anders ist?
Diese Frage macht deinen Prot natürlich ziemlich naiv. Als ob er noch nie etwas über Ausländer-, Schwulen-, oder Judenfeindlichkeit etc. gehört hätte.

Lieben Gruß, sim

 

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