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Sie
Das Mädchen stand am Fenster und starrte hinaus. Das Licht des Vollmondes erhellte das Zimmer und ließ die Möbel Schatten an die Wand werfen. Sie fror in ihrem dünnen Nachthemd, doch sie wollte sich nicht ins Bett legen. Nie wieder. Es war wie jeden Abend. Ihre Mutter saß vor dem Fernseher, der Vater war auf seiner allabendlichen Tour durch die Kneipen der kleinen Stadt. Und ihr Bruder lag längst schlafend in seinem Kinderbett. Später würde dann der Vater sicher noch einmal leise die Tür zu ihrem Zimmer öffnen und ein paar betrunkene Worte lallen, von denen sie glaubte, dass sie in etwa „Gute Nacht“ bedeuten sollten.
In der Schule war sie mal wieder gehänselt worden. Wie an jedem Schultag der vergangenen Jahre seitdem sie zum ersten Mal diese Hölle, die sich Schule nennt, betreten hatte. Niemals war sie von jemandem bei ihrem richtigen Namen genannt worden, abgesehen von den Lehrern. Sie hatte viele Namen gehabt: Fettsau, Pickelgesicht, Schleimerin, Streberin, Asoziale und viele mehr. Dabei war sie weder dick, noch hatte sie besonders viele Pickel. Sie hatte sich nie bei den Lehren eingeschleimt und für ihre Noten tat sie kaum etwas. Das Lernen viel ihr leicht. Aber als Asoziale fühlte sie sich. So oft war ihr eingetrichtert worden, dass sie eine solche sei. Solange, bis sie selbst daran glaubte.
Ihr Leben war nie schön gewesen. Wenn sie versuchte sich an etwas Schönes zu erinnern, dann fiel ihr nichts ein. Sie hatte nie wahre Freunde gehabt, sie war von allen nur belogen und betrogen worden. Ihren Eltern war sie immer ziemlich egal gewesen. Sie schienen zu glauben, Kindern müsse man zu essen geben, aber sie nicht unbedingt lieben.
Sie glaubte genau zu wissen, dass niemand auf dieser Erde sie vermissen würde. Darum öffnete sie nun das Fenster, kletterte auf die Fensterbank und blickte nach unten. Noch einmal wandte sie den Kopf und schaute sich in ihrem Zimmer um. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht. Nun ließ sie diese hinter sich.
Sie sprang.
Fünfzehn Meter tief.
Am nächsten Morgen stolperte der Zeitungsmann auf dem Weg zum Briefkasten über ihre Leiche.