Siehst du mich?
Es war einmal ein junges Mädchen.
Wie jedes junge Mädchen interessierte sie sich für Kleidung, Frisuren, Make Up und natürlich Jungs. Spätestens als das junge Mädchen sich für das andere Geschlecht interessierte, fing sie auch an sich für ihr Aussehen zu interessieren.
Sie stellte sich vor den Spiegel und wollte sich einmal betrachten.
Was sie sah gefiel ihr eigentlich nicht schlecht.
Sie hatte wohlgeformte und funktionsfähige Füße, recht lange und halbwegs gerade Beine. Die Hüften waren etwas runder als erwünscht, aber auch damit war das Mädchen zufrieden. Der Bauch war an manchen Tagen zwar etwas stark gewölbt, doch auch den mochte das Mädchen gut leiden.
Nun wanderte der Blick zu den Brüsten und diese fand das Mädchen, ausgesprochen gut gelungen.
Was jetzt kam, irritierte das Mädchen jedoch:
Brust, Bauch, Beine und sogar der Po, waren Körperteile die sich ohne weiteres kategorisieren lassen:
straffe, volle Brust – gut
hängende Brust – nicht gut,
lange, schlanke Beine – gut
kurze Stampfer – nicht gut, etc
ganz einfach, das wusste und empfindet ja jeder so, dachte sich das Mädchen.
Aber wie ist es mit dem Gesicht?
Kann man die Nase unabhängig vom Mund betrachten, oder geben sie nur in einem „harmonischen Zusammenspiel“ ein gutes Bild ab?
Und wie kann ich sagen, dass meine Augen „in Ordnung“ sind, wenn ich nicht weiss wie Augen aussehen sollten. Was ist schön? Sind es Kulleraugen, mandelförmige Augen, oder doch die Augenform, welche immerzu einen „Schlafzimmerblick“ vortäuscht?
Aber vielleicht ist es ja auch wie bei einem 1000 – teiligem Puzzle, am Ende sieht man nicht mehr die einzelnen Teile, sondern nur noch das Gesamtwerk!
Schön - Auge, Nase und Mund müssen einfach miteinander harmonieren, wie die Bewohner eines Hochhauses.
Nur stellt sich jetzt wiederum die Frage, „wie?“
Gibt es da eine geheime Formel für ein symmetrisches und absolut perfektes Antlitz?
Ja, bis heute fragt sich das Mädchen, ob sie ein „gutes“ oder eben „nicht gutes“ Gesicht hat.
Eigentlich weiss, sie jetzt auch schon gar nicht mehr, ob sie überhaupt gut ist.
Natürlich hat das Mädchen schon Komplimente zu hören gekriegt, aber die waren nun einmal nicht immer ganz aufschlussreich:
Mit 14 Jahren sagte ihr eine Freundin, dass sie schöne Augenbrauen habe.
Jahre später sagte ihr ein „netter“ Bekannter, dass ihre Hände recht hübsch seien. Ja, und ein recht alkohollastiger Abend brachte ihr sogar einmal die Worte ein, dass ihr Gesicht doch recht anschaulich sei.
Natürlich bedankte sich das Mädchen immer ganz artig (denn Komplimente sind wie Geschenke, sie abzulehnen ist unhöflich) und freute sich.
Doch jetzt fragte sich das Mädchen, wie kommt es daß dem einen meine Augenbrauen gefallen und dem anderen nur der kleine Finger der rechten Hand zu gefallen scheint.
Was ist mit dem Rest?
Sind meine Augenbrauen so auffällig schön dass sie alles andere überschatten, fragte sie sich (und kam nicht drum herum sich diesen recht interessanten Anblick vorzustellen) oder, dachte sie sich, dass ich einfach nicht mehr zu bieten habe, als eine schöne Hand und recht gelungene Gesichtsbehaarung.
Das Mädchen, sah noch einmal in den Spiegel und diesmal sah sie nicht ihre Augenbrauen, ihre Hand, ihre gelungen Brüste und ihre wohlgeformten Füße.
Jetzt sah sie ihre Ohren, den Mund, die Nase, ihre Arme und all das, was wohl auch sonst niemand sonst sah und vielleicht auch nicht sehen wollte.