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Silvester 2004
Rick sucht in meinem CD Regal nach etwas, das wenigstens ein bisschen seinem Musikgeschmack entspricht. „Man, hast du denn nur so nen Technoscheiß?“
„Vorsicht“, warne ich ihn. „Sag ja nichts gegen meine Mucke.“
Er fischt eine CD hervor und hält sie mir vor die Nase. „Groove Coverage? Hallo? Das klingt doch eh immer gleich.“
Ich schnappe ihm die CD weg und schiebe sie ordentlich an ihren Platz zurück. „Na und? Mir gefällt’s. Was dagegen?“, und verschwinde in die Küche, um das Büffet durchzuchecken, während Rick den Sekt aus dem Keller holt.
„Mama würde die Krise kriegen“, rufe ich ihm zu.
„Sie weiß es ja nicht“, schmunzelt er.
Heute ist Silvester 2004 und wir haben etwa unseren gesamten Freundeskreis eingeladen, bei uns zu feiern, wobei wir nur die engsten Freunde ausgewählt haben, welche aber auch Partner oder andere beste Freunde mitbringen dürfen, weswegen es dann doch ein paar mehr Leute geworden sind. Einen wirklichen Überblick haben wir wohl beide nicht mehr. Die ersten wollten so gegen sieben hier auftauchen, jetzt ist es viertel nach sechs. Unsere Eltern sind im Urlaub in Florida, aber wir wollten nicht mit, weil wir schon seit Jahren vorhatten, mal eine Silvesterparty zu schmeißen, wenn unsere Parents nicht da sind.
„Ich gehe mal ordentliche Musik aus dem Auto holen“, meint Rick und schon ist er verschwunden, damit ich ja nicht protestieren kann. Was er unter ordentlicher Musik versteht würde nicht ganz meine Definition treffen, aber wahrscheinlich die der meisten Gäste, also lasse ich ihn gewähren. „Habe extra noch was zusammen gemixt.“
Ich tue so, als fände ich das gut, obwohl mir bei dem Gedanken, den ganzen Abend lang HipHop zu hören jetzt schon ganz komisch wird. Es gibt Dinge, die müssen einfach nicht sein. Als es schließlich um zwanzig vor sieben klingelt, sind wir beide ein wenig überrascht, da wir so früh noch niemanden erwartet hatten und außerdem auch genug mit dem Essen beschäftigt waren. Es sind Thomas und seine Freundin und sie haben Gott sei Dank daran gedacht, Salat mit zu bringen. Die nächsten, die kommen, sind Doro und Adrienne, zwei aus meiner Stufe, die mit zu meinen besten Freunden gehören. Dann kommen so viele auf einmal, dass ich nicht mehr weiß, wer. Um acht ist das Haus von oben bis unten voll und Rick eröffnet das Büffet und geht in den Keller, um noch mehr Sekt zu holen und kaltzustellen. Ich unterhalte mich mit ein paar seiner Freunde aus dem Fußballverein, vor allem Hans ist mir sympathisch, auch wenn ich den Namen einfach schrecklich finde (nichts für ungut). Rick ist übrigens mein Zwillingsbruder und wir haben uns vor kurzem einen Spaß daraus gemacht, uns die gleiche Kurzhaarfrisur schneiden zu lassen, außerdem haben wir heute Abend den gleichen Pullover an. Ja, ja, ich und mein Bruder. Nachdem ich etwa eine Stunde lang über Fußball gequatscht habe (ich spiele selbst auch) geselle ich mich in ein anderes Zimmer, nämlich das Büro meines Vaters, wo ein Großteil der Leute aus meiner Stufe versammelt ist. Zwar sind Rick und ich im gleichen Jahrgang, aber nicht auf derselben Schule, das wollten unsere Eltern nicht. So ist er auf dem städtischen Gymnasium und ich auf einem privaten gelandet. Wieso es nicht anders herum ist, weiß ich nicht. Mit einem Glas Bier in der Hand unterhalte ich mich mit Doro, welche mir etwas davon vorjammert, dass ihr Freund heute Abend nicht konnte, aber ich höre ihr nicht so genau zu und wimmele sie irgendwann ab, weil ich mich auch noch um ein paar andere kümmern muss, bei meinen Fußballleuten war ich noch gar nicht und ich will mich zu ihnen durcharbeiten, als ich auf einmal mit dem Rücken gegen jemanden gegen stoße. Schnell drehe ich mich um. „Entschuldigung, das wollte ich nicht.“ Die Person, die ich erwischt habe ist weiblich und in meinem Alter, wahrscheinlich aus Ricks Stufe.
„Macht nichts“, wehrt sie ab, lächelt mich kurz an und wendet sich wieder ihrem Gesprächspartner zu. ‚Na dann’, denke ich mir und steure auf Jule und die anderen zu, welche heftig über das letzte Spiel diskutieren, das schon einige Zeit zurückliegt. Jule und Kathi streiten sich wie immer und ich schicke die beiden an die frische Luft, wo sie sich erst mal ein wenig abkühlen sollen. Laura grinst mich an, dass die beiden sich wohl nie ganz grün sein werden. Da hat sie wohl Recht. Ich bemerke, dass einige schon einen sitzen haben und wie es kommen musste hat irgendjemand die bescheuerte Idee, wir könnten doch mit dreißig Leuten Flaschendrehen spielen, was in etwa die Anzahl der Personen ist, die sich momentan auf dieser Etage befinden.
„Das meint ihr doch jetzt nicht ernst?“, frage ich entsetzt, als Laura mich in die Richtung des Kreises schiebt, den die ersten schon bilden, um die Flasche kreiseln zu lassen. „Das kann man in der sechsten Klasse machen, aber doch jetzt nicht.“
„Bei dem Pegel, den die schon intus haben, kannst du sie auf sechste Klasse zurückstufen.“
Das finde ich jetzt nicht lustig, aber ich komme nicht drum rum, mich dazu zu gesellen, wobei ich mir sage, dass die Chance, dass die Flasche auf mich zeigen könnte, eh so gering ist, dass es nichts macht, einfach dabei zu stehen und zuzugucken, wie die anderen sich blamieren. Die erste Aufgabe besteht darin, ein Bier zu exen, was Paul ohne Probleme meistert, um nun seinerseits die nächste Aufgabe zu bestimmen. „Der oder die nächste muss den oder die nächste küssen.“ Wobei jetzt zu vermuten ist, dass er zweimal drehen wird. Ich bin recht gelangweilt und schaue in der Gegend herum und erst als Laura mich anstößt realisiere ich, dass die Flasche genau auf mich zeigt. Das kann nicht wahr sein!!
„Nee, nee, lasst mal stecken“, wehre ich schnell ab, was Protest von dreißig Mann hervorruft und ich mich in mein Schicksal ergebe und mir ausrechne, was wohl das kleinste Übel wäre. Paul holt sich die Flasche zurück und dreht. So ziemlich jedes männliche Wesen im Zimmer starrt wie hypnotisiert darauf und ich bin froh, dass es nur einen treffen kann. Als die Flasche stehen bleibt starren alle nur noch mehr darauf, wahrscheinlich, weil sie recht enttäuscht sind. Ich bin entsetzt. Ich meine, es ist schon schlimm, dass es mich getroffen hat und es wäre schlimm gewesen, einen von Ricks besoffenen Kumpels küssen zu müssen, aber das Schicksal meint es noch schlimmer mit mir, denn die Flasche zeigt auf keinen Kerl, sondern auf die junge Frau, gegen die ich vorhin gegen gerannt bin. Die steht grinsend auf und kommt auf mich zu.
„Nein, vergiss es“ Ich halte sie mit meinem Arm auf Abstand.
Sie zuckt locker die Schultern. „So sind die Regeln.“
„Cass, sei kein Spielverderber, sei doch froh, dass du nicht mich küssen musst“, feixt Arnold und ich kann ein ganz wenig Bedauern aus seiner Stimme heraus hören.
„Ich habe überhaupt niemals vorgehabt, mitzuspielen“, kontere ich, woraufhin wieder einmal der Protest auf mich herabhagelt.
„Stell dich doch nicht so an“, murrt Laura neben mir. Die Fremde legt den Kopf schief, sie hat grüne Augen und leicht struwwelige, rötliche Haare. Sie tippt ungeduldig mit den Fingerspritzen gegeneinander. „Willst du noch bis morgen warten?“
Ich bedauere, dass ich nicht schon betrunken bin. „Okay, okay, gut, ich mach’s.“ Daraufhin ernte ich donnernden Applaus und Gejohle von allen Seiten. Die Rothaarige verzieht leicht spöttisch den Mund, fackelt nicht lange, zieht mich an der Taille kurz an sich ran und dann spüre ich ihre leicht nach Alk schmeckenden Lippen auf den meinen und die Jungs johlen noch ein wenig lauter. Dann ist der Moment schon wieder vorbei, sie grinst mich noch einmal an und kehrt ganz leicht schwankend zu ihrem Platz zurück. Ich atme erleichtert aus und lehne mich wieder an meine Wand in der Hoffnung, dass ich nicht noch einmal dran kommen. Irgendwann ertappe ich mich dabei, dass ich mit der Zunge über meine Lippen fahre. Um viertel nach elf wird es auch den anderen zu doof, außerdem haben sie keine Ideen mehr und so lösen wir die Runde auf. Rick spielt mit seiner Mannschaft gegen mich und meine Mannschaft Tabu und wir gewinnen mit zwei Feldern Vorsprung. Hehe. Kurz vor Mitternacht holen wir alle nach draußen auf den Hof und Rick holt die Feuerwerkskörper aus der Garage und den Sekt aus der Küche. Er überträgt die Verantwortung für die Raketen etc. an Thomas, der so ziemlich der einzige ist, der noch völlig nüchtern ist (wenn man mal von mir absieht, ich habe nur zwei Bier getrunken) und ich beschließe, ihm ein wenig zu helfen, vor allem damit, die anderen nicht ans Feuer zu lassen. Es ist ziemlich kalt draußen, es liegt leider kein Schnee, aber keiner bemerkt die Kälte so richtig, die Stimmung ist viel zu ausgelassen, um zu frieren. Außerdem haben die meisten zu viel Alkohol im Blut, um noch so etwas wie Kälte wahrnehmen zu können. Das Anstoßen wird ein ziemliches Durcheinander und das ein oder andere Glas wird verschüttet, zwei davon auf mich. Ist wohl nicht mein Abend heute, vor allem, weil das zweite Glas von der mit den grünen Augen stammt. Sie entschuldigt sich hastig und sucht in ihrem Mantel nach einem Taschentuch, aber ich wehre ab, meine Jacke würde es schon überleben. Sie scheint auch noch einigermaßen nüchtern zu sein, auch wenn sie vorhin ein wenig geschwankt hat. Als ob sie meinem Gedankenverlauf hätte folgen können erklärt sie: „Meine Beine merken es schnell, aber hier“, sie deutet auf ihren Kopf „merk ich es erst, wenn ein Großteil der hier anwesenden schon am Kotzen wäre.“ Sie grinst.
„Hm“, mache ich und da kommt Doro schon an, schmeißt sich mir um den Hals und wünscht mir ein „Frohes Neues!!!“, wobei mir bewusst wird, dass ich das der Rothaarigen gar nicht gewünscht habe, aber sie ist auch schon wieder weg und so ist es nicht weiter tragisch. Um drei verschwinden die meisten, etwa ein Dutzend bleiben noch, um aufräumen zu helfen und als sie schließlich gehen ist es sechs Uhr morgens. Eigentlich bin ich nicht wirklich müde, aber es wäre besser, mich jetzt ein wenig hinzulegen, weil ich heute Abend auch wieder ziemlich lange aufbleiben muss, weil ich mit Rick und ein paar Kumpels ins Kino will. Als ich im Bett liege kommt es mir so vor, als könnte ich noch immer die Wärme der Lippen des Mädchens spüren und ich wälze mich lange verwirrt hin und her, bis ich einschlafen kann.
„Hey, Cass, wach auf, es ist schon drei und wir müssen noch die Küche saubermachen.“
Ich gähne laut und richte mich mühevoll auf. Stimmt, die Küche hatten wir gestern nicht mehr geschafft. Außerdem müssen die ganzen leeren Alkflaschen entsorgt werden, bevor meine Eltern morgen wiederkommen. Sie sind direkt am ersten Weihnachtsfeiertag geflogen, worüber sich meine Großeltern unwahrscheinlich aufgeregt haben. Das hat meine Eltern aber nicht davon abgehalten, zu fliegen. Einmal im Jahr müsse man sich mal was gönnen, meinte mein Vater nur dazu. Beim Wischen frage ich irgendwann, wer denn mitkommt heute Abend.
„Hans, Paul, Jochen, Roxi, Karla und Sven.“
„Wer ist Roxi?“, frage ich nach, denn ich kann mich nicht erinnern, dass er jemanden namens Roxi schon mal erwähnt hätte.
„Roxana. Sie war gestern auch hier, Pauls Schwester. Du müsstest sie eigentlich bemerkt haben, du hast sie geküsst.“
Mir wird schlagartig heiß und ich bücke mich über mein Wischwasser und wringe den Lappen aus, damit er nicht sieht, wie ich rot anlaufe. Hallo, was ist jetzt los?
Rick sortiert grade die Sektgläser zurück in den Schrank ein. „Du wirst ja ganz rot“, grinst er. „Küsst sie so gut?“
„Quatsch. War ja außerdem viel zu kurz, um so was zu bemerken.“
„Dann solltest du sie noch mal länger küssen.“
Ich schmeiße ihm den Lappen ins Gesicht und er lacht bloß, dass man mich echt gut ärgern könne. „Das finde ich gar nicht lustig“, fauche ich ihn an. „Ich bin schließlich nicht lesbisch.“
Er lacht weiter und räumt die Gläser ein. Wütend verschwinde ich aus der Küche und putze lieber im Büro noch ein wenig, obwohl es da eigentlich nichts zu putzen gibt, also wende ich mich lieber den Badezimmern zu, welche wohl einiges an wieder ausgekotztem Alkohol abbekommen haben. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man so viel saufen kann, dass es oben wieder rauskommt. Die Arbeit ist ziemlich ekelig und ich in froh, als ich fertig bin und gehe erst einmal duschen. Wir räumen noch ein wenig im Garten auf und dann ist es auch schon sechs Uhr und wir müssen gehen, wenn wir noch pünktlich kommen wollen. Heute Abend läuft eine Sonderaktion, alle drei Teile von „Herr der Ringe“ hintereinander und das wollten wir schon immer mal machen. Der erste Januar 2005, juchhu, ein neues Jahr hat begonnen, das macht mich immer optimistisch, dass irgendetwas Positives passieren könnte, ein Jahr ist immerhin eine lange Zeit und so habe ich 365 Chancen. Die anderen sind natürlich schon da, ich begrüße die Jungs mit Handschlag, Karla umarme ich, bei Roxi weiß ich nicht ganz, was ich machen soll und sie grinst mich an, reicht mir förmlich die Hand und zwinkert mir zu. Ihre Gegenwart macht mich merkwürdigerweise ein wenig nervös. Ich weiß auch nicht. Na ja, passiert ja auch nicht alle Tage, dass man beim Flaschendrehen dazu gezwungen wird, eine Frau zu küssen, es dürfte also recht normal sein, dass es mich verwirrt.
Wir sind bei weitem nicht die einzigen, die sich überlegt haben ihre Nacht im Kino zu verbringen, aber da wir schon sehr früh vorreserviert hatten, sitzen wir in der letzten Reihe und haben so den besten Blick. Ich sitze zwischen Hans und Sven und ich glaube, Paul war recht beleidigt, dass er nicht neben mir sitzen darf. Während einer kurzen Pause, die wir Mädels auf dem Klo verbringen raunt Roxi mir zu: „Die Jungs haben sich fast darum geschlagen, wer neben dir sitzen darf.“
Ich muss lachen. „Und, hast du dich auch mit Karla darum geschlagen, welche von euch neben Rick sitzen darf?“ Neben Rick ist garantiert immer nur ein Platz frei, weil es ihn zum Nervenzusammenbruch treibt, neben zwei Mädchen zu sitzen. Er meint, Frauen reden zu viel beim Fernsehen und zwei auf einmal seien deshalb einfach nicht zu ertragen.
„Nein, den Platz habe ich ihr gerne überlassen“ Roxi verzieht das Gesicht, eine Kabine wird frei und sie verschwindet darin. Warum beruhigt es mich, dass sie kein Interesse daran hat, neben Rick zu sitzen? Wieder zurück im Saal platziere ich Paul auf meinem Platz, so dass ich nun zwischen ihm und Roxi sitze, was Paul ganz toll und Sven recht ... bescheiden findet. Die Pause war mitten im zweiten Teil, keine Ahnung, warum die das mitten drin machen.
„Findest du es nicht auch völlig unrealistisch, dass sie nicht platt gemacht werden?“, flüstert Roxi mir zu, als die Szene kommt, wo die fünfzig Millionen Orks versuchen, die Festung zu stürmen. Mein Atem geht ein wenig schneller, was ich geflissentlich ignoriere, ich stimme ihr einfach nur zu. Ich weiß instinktiv, dass sie wieder grinst und ich würde mich gerne etwas umdrehen, um es sehen zu können, aber ich denke bei mir, dass das doch etwas zu bescheuert ist, ich meine: hä?? und ich bleibe einfach sitzen und starre krampfhaft auf die Leinwand. Was zum Henker ist bloß mit mir los? Paul scheint meine Nervosität auch bemerkt zu haben, denn er sieht aus, als hätte man ihm grade einen Ferrari geschenkt. Na toll. Am Allerwenigsten kann ich jetzt einen Kerl gebrauchen, der mich will: ich habe genug damit zu tun, zu verarbeiten, was ich haben will, das gefällt mir nämlich ganz und gar nicht. Aus einem mir nicht ganz deutlich werdenden Grund interessiert sie mich mehr, als der Film. Vielleicht hätte ich mich doch nicht neben sie setzen sollen...
Ich bin froh, als der dritte Teil anfängt, es ist jetzt knapp zwölf Uhr, und ich so tun kann, als wäre ich ein wenig müde, außerdem will ich die Spinne nicht sehen, die finde ich ekelig, aber natürlich stößt Paul mich grade da an und meint: „Hey, sieh dir die Spinne an“, woraufhin ich den Kopf nur nach rechts in Roxis Richtung drehe, mein Gesicht gegen ihre Schulter drücke und meine Augen nicht aufmache. Ich habe nichts gegen Spinnen, aber ich habe etwas gegen Spinnen, die größer sind als ich und das ist diese nun mal, das muss ich mir nicht ansehen. ‚Sie riecht gut’, schießt es mir durch den Kopf und wie von der Tarantel gestochen (passt gut in den Kontext) zucke ich zurück.
„Was ist?“, fragt sie mich leicht irritiert und sieht mich mit ihren schönen, grünen Augen an.
Ich schüttele bloß den Kopf und wende mich dem Geschehen auf der Leinwand zu, bis ich bemerke, dass die Spinne immer noch da ist und ich nicht weiß, wohin ich gucken soll, da hält Roxi mir auf einmal die Hand vor die Augen und ich muss grinsen, weil das bestimmt ziemlich dämlich aussieht, wenn eine 18jährige einer anderen 18jährigen im Kino die Augen zuhält, weil die sich fürchtet. Kurze Zeit später zieht sie ihre Hand weg. „Kannst wieder gucken, das Vieh ist weg.“
„Danke“, murmele ich verlegen und sie lächelt mich an und mein Herz schlägt schneller. Als auch der dritte Teil vorbei ist bemerken wir, dass Jochen eingeschlafen ist und er torkelt ziemlich verschlafen neben uns her, als wir das Gebäude verlassen. Karla hat sich bei Rick untergehakt und macht ihn ziemlich eindeutig an und mein Bruder lässt sich noch deutlicher bereitwillig anmachen. Wir schlendern die Straße entlang und kommen an einer Kneipe vorbei, die jetzt noch aufhat, wo wir spontan beschließen, noch ein wenig da zu bleiben, es ist ja erst zwei. Nach ein paar Drinks fangen Rick und Karla an, rumzuknutschen. Ein wenig genervt bestelle ich mir noch ein Bier, da zieht mich Roxi auf einmal von der Bar weg, bleibt vor den beiden Küssenden stehen und meint: „Was die können, können wir schon lange“ und dann liegen ihre Lippen wieder auf meinen. Ich bin viel zu überrascht, um etwas tun zu können, sie küsst mich ein wenig länger, als das letzte Mal, zwinkert mir danach zu und deutet mit einem kurzen Kopfnicken auf Paul, welcher uns mit offenem Mund angafft. Daraufhin muss ich grinsen. Rick grinst ebenfalls und ich würde ihm gerne wieder einen Putzlappen ins Gesicht schmeißen, aber erstens habe ich keinen und zweitens würde das nicht so gut aussehen und ich beschränke mich darauf, ihm einen kurzen, wütenden Blick zuzuwerfen und insgeheim zu denken, dass sie mich hoffentlich noch einmal küsst. Diese Nacht (wir sind um vier zu hause) werde ich den Gedanken an sie nicht so schnell los, ich versuche, mich abzulenken und sage mir immer wieder, dass das doch völlig bescheuert ist, weil ich doch nicht auf Frauen stehe, das wüsste ich, und es also gar keinen Sinn macht, noch an ihren Kuss zu denken. Immerhin, es kann nicht sein, dass man eines Morgens aufwacht und feststellt, dass man für das gleiche Geschlecht mehr empfindet, als fürs andere. Also ist es völlig absurd zu denken, dass das bei mir der Fall sein könnte. Wobei ich jetzt einfach mal darüber hinwegsehe, dass mein Blick doch ab und zu auf das Dekollete von Ricks letzter Freundin gewandert ist. Das ist aber auch völlig normal, jede Frau vergleicht sich mit anderen, jede Frau bemerkt, wie gut andere Frauen aussehen oder gekleidet sind und es ist völlig normal, sie immer eher zu registrieren als die diversen männlichen Wesen im Raum. Jedenfalls habe ich das irgendwo mal gehört. Dieser Kuss – es war nur ein Spiel. Und der von vorhin genauso. Sie hat mich geküsst, weil sie von Rick und Karla genervt war, aus keinem anderen Grund. Ich versuche krampfhaft mich an den letzten Kerl zu erinnern, mit dem ich gerne zusammen gekommen wäre. Als ich bei der siebten Klasse angekommen bin sage ich mir, dass ich es auch einfach vergessen kann. Doch sich nicht zu verlieben ist noch lange kein Zeichen, denn in eine Frau habe ich mich schließlich auch nicht verliebt und – wie komme ich überhaupt darauf, dass ich es könnte? Ist doch alles Stuss. Ich stehe auf und nehme mir ein Buch, um ein wenig zu lesen und irgendwann muss ich wohl eingenickt sein.
Am nächsten Vormittag platzt Rick mal wieder bei mir herein und fragt, ob ich nicht mit zum Platz kommen wolle. Mama und Papa waren grade nach Hause gekommen und wollen ihre Ruhe haben, also halte ich es für keine schlechte Idee, das Haus zu verlassen. Ich hatte ihnen vorhin schon kurz hallo gesagt, aber sie waren zu müde, um sich länger mit mir zu unterhalten.
„Klar, solange ihr mich nicht wieder in die Abwehr stellt.“
„Du spielst doch bei euch auch Abwehr.“
„Eben.“
Rick ist so nett mich ins Tor zu stellen (na klasse – was soll ich da?), aber er meint auf meinen Protest nur, sie hätten grade keinen Torwart im Team, weil ja nur ein ganz paar aus dem Team da sind und die anderen nur zum Hobby spielen und so sei ich noch die beste Notlösung. Danke, ich wollte schon immer mal Notlösung sein. Zwar ist es schneidend kalt draußen, aber es ist weder glatt, noch liegt Schnee. Als wir schon 2:0 führen taucht auf einmal eine Person im weißen Mantel am anderen Ende des Spielfeldes auf, die meinen Blick für einen kurzen Augenblick so fesselt, dass Paul ein Tor bei mir reinknallt. Verdattert starre ich auf den Ball.
„Mensch Cass, pass doch auf“, schnauzt Rick. Ich fange mich wieder und versuche, mich aufs Spiel zu konzentrieren, aber immer, wenn der Ball weit genug auf der anderen Platzhälfte ist, dass für mich keine Gefahr besteht, wandert mein Blick zu ihr rüber. Nach Ende der ersten 45 Minuten machen wir eine kurze Pause und Jochen meint, dass er sich lieber auswechseln lassen würde, Roxi könne doch für ihn spielen.
„Nee, ich hab nicht die Sachen dafür an“, wehrt sie ab. Allerdings nicht, sie trägt Jeans.
„Kannst meine Sachen haben“, meint Paul. „Ich ziehe Jochens an, der kann sich ja umziehen, wenn er jetzt eh nicht mehr spielt.“
„Also, eigentlich wollte ich nur...“, setzt sie noch einmal an.
„Roxi!!!“
Stöhnend gibt sie nach und die drei verschwinden nacheinander hinter dem Vereinshaus, in das man so nicht rein kann, und ziehen sich um. Da Roxi Jochens Platz einnimmt, spielt sie logischerweise in meiner Gegnermannschaft und es fällt mir immer schwerer, mich noch aufs Spiel zu konzentrieren. Desto näher sie mir kommt, desto unaufmerksamer werde ich, was dazu führt, dass sie nach relativ kurzer Zeit ein Tor schießt. Sie streckt mir neckend die Zunge raus und das spornt mich an, ab jetzt wieder besser aufzupassen. Schließlich gewinnen wir das Spiel 3:2.
„Was war mit dir los?“, fragt Rick, als wir auf dem Heimweg sind. „Du warst auf einmal völlig abwesend.“
Ich zucke nur die Schultern. „Was weiß ich.“
„Roxi“, sagt er, aber ich schweige.
„Wow“, meint er darauf nur und klopft mir auf die Schulter. „Viel Glück.“
„Was soll das?“, schüttele ich ihn ärgerlich ab. „Ich will nichts von ihr, wie kommst du darauf?“
„Dann gib’s halt nicht zu, ich weiß es auch so.“
„Mistkerl.“
Jetzt ist er beleidigt und redet nicht mehr mit mir. Okay, ich sollte meinen verwirrten Geisteszustand nicht an ihm auslassen. Entschuldige mich bei ihm. Ich stehe doch nicht auf sie. So ein Quatsch. Ich denke bloß an ihre grünen Augen und schon schlägt mein Herz etwas schneller. Kann das nicht mal endlich aufhören? Immerhin bin ich NICHT LESBISCH! Bin ich nicht. Nein, auf keinen Fall, bestimmt nicht. Ein Mädchen! Ach scheiße! Ich meine, ich habe früher immer schon überlegt, weswegen man sich wohl in Menschen verliebt, dafür muss es ja einen Grund geben. Aber jetzt, wo es anscheinend passiert, kann ich keinen Grund finden. Ich bin ein sehr rationaler Mensch, immer gewesen, haben mir alle gesagt. Das hier verstehe ich nicht, ich verstehe es nicht und es macht mich wahnsinnig, denn es muss doch einen Grund geben. Wenn schon nicht dafür, sich zu verlieben, dann doch wenigstens dafür, warum um alles in der Welt in ein Mädchen? Als meine Gedanken zu meinen Eltern kommen und mein Gehirn die Frage stellt, was sie wohl dazu sagen würden/werden hole ich mir eine Tafel Schokolade aus dem Schrank und schalte den Fernseher an.
Um zehn kommt Rick noch einmal kurz in mein Zimmer. „Ist alles okay?“, fragt er und setzt sich neben mich auf mein Bett, ich war am fernsehen.
„Natürlich“, antworte ich verwundert. „Was sollte nicht okay sein?“
„Ich dachte nur, wegen Roxi. Ich wollte dich damit nicht ärgern.“
Shit, hatte sie grade für kurze Zeit aus meinem Hirn verdrängt. Ich verziehe das Gesicht und zucke die Schultern. Rick streichelt mir sanft über den Rücken und ich lehne mich gegen ihn und schließe die Augen.
„Ich weiß nicht, was hier grade passiert“, gebe ich leise zu.
„Ich würde dir da gerne helfen, aber ich fürchte, das kann ich nicht.“
„Schon okay, ich weiß. Trotzdem danke.“
„Du solltest dir sicher sein, bevor du irgendetwas tust.“
„Warst du dir immer sicher?“, gebe ich genervt zurück, weil ich nicht weiß, was er überhaupt von mir will.
„So meinte ich das nicht. Ich meine ...“
„Du meinst ob ich mir sicher bin, dass ich wirklich etwas für sie empfinde, obwohl sie eine Frau ist.“
„Ich könnte mir jedenfalls nie im Leben vorstellen, einen Kerl zu küssen.“
‚Ich mir auch nicht’, denke ich und könnte mich schlagen dafür.
„Ich kann Paul ja sagen, dass sie das nächste Mal nicht...“
„Nein!“, unterbreche ich erschrocken. „Ich will sie sehen.“
Rick grinst schelmisch und ich schmeiße mein Kissen nach ihm, als er schnell das Zimmer verlässt, um nicht meinem Zorn ausgesetzt zu sein. Dass er sie erwähnt hat, hat mich jetzt wieder so aufgewühlt, dass ich vor Mitternacht nicht einschlafen kann.
Ich will sie sehen, ich muss sie sehen. Es ergibt sich eine ganze Woche lang keine Gelegenheit, weil Rick ständig etwas zu tun hat und ich kann mich schließlich nicht mit seinen Freunden verabreden. Die Woche danach muss ich arbeiten, bei meinem Onkel im Cafe, weil seine Kellnerin diese Woche Urlaub hat und er den Laden nicht alleine schmeißen kann. Ich finde es ganz interessant, weil man viele Leute trifft und einige sogar richtig nett sind, wogegen es auch andre gibt, die ein Cafe scheint’s mit einem Nachtklub verwechseln. Aber ich habe kein Problem damit, ihnen meine Meinung dazu zu geigen. Das einzig schlechte dabei ist, dass ich ständig am Denken bin, weil diese Arbeit nicht wirklich meine geistige Anwesenheit fordert. Einen Großteil tue ich wie automatisch, während meine Gedanken sich die meiste Zeit um Roxi drehen. Um ihr Lachen, ihre Augen, ihre Stimme und immer wieder sage ich mir, dass ich sie doch gar nicht kenne und ich sollte aufhören, an sie zu denken. Ich höre nicht auf.
Am Dienstagabend grinst Rick wieder so, ich frage, warum er grinse und er zuckt nur die Schultern. Oh man, Brüder. Wah. Manchmal zweifle ich daran, dass wir echt Zwillinge sind, weil er anscheinend einen wesentlich niedrigeren IQ hat als ich. Der Mittwoch im Cafe beginnt wie jeder andere Tag (wobei ich ja bis jetzt erst zwei hatte), doch das ändert sich schlagartig, als Roxi gegen Mittag hereinkommt, mir über den Kragen ihres weißen Mantels hinweg zulächelt und sich an einem der Tische niederlässt. Mir wird schlagartig etwas wärmer. Roxi wickelt sich aus ihrem Schal, wonach sie darauf wartet, dass ich zu ihr komme, um ihre Bestellung aufzunehmen. Ich atme einmal tief ein.
„Was darf’s sein?“, frage ich förmlich und sie lächelt mich wieder an. Meine Beine werden ein wenig wackelig. Ich will kurz meine rituellen Worte „Ich bin nicht lesbisch“ denken, aber dazu komme ich nicht, denn sie sagt: „Einen Cappuccino mit Sahne, bitte“, ich notiere mir einen Cappuccino mit Milch und bemerke meinen Fehler erst, als ich mit dem Getränk schon wieder auf dem Weg zu ihr bin.
„Tut mir leid, ich habe irgendwie...“
Doch sie sagt hastig: „Ist nicht schlimm!“ und berührt leicht meine Hand. Ich glaube zu ahnen, warum Rick gestern so gegrinst hat.
„Wann hast du Feierabend?“, fragt sie, bevor ich wieder weg bin.
„Um vier.“
„Ich komm dich abholen, okay?“ Ihr Blick ruht hoffnungsvoll auf mir. Ich schaffe es bloß, schwach zu nicken und widme mich dann schnell den anderen Gästen.
Sie steht tatsächlich um vier wieder vor dem Cafe, wieder in ihrem weißen Mantel und mit dem Schal um den Hals und ich komme mir in meiner dunkelblauen Jacke ein wenig schäbig vor. Ihr Lächeln lässt mich aber sofort alles andere vergessen.
„Rick meinte gestern, dass du hier arbeitest“, erklärt sie, als wir in Richtung Innenstadt schlendern.
„Aha.“
„Ich hatte mich gewundert, dass du nicht mit aufm Platz warst.“
„Aha.“
„Du bist ja nicht sonderlich gesprächig heute?“, grinst sie. Grinsen scheint eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein. Ich sage nichts, sondern greife nach ihrer Hand und sie zieht sie nicht weg, sondern verhakt ihre Finger mit meinen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich stolpere einmal über einen Pflasterstein und sie hält mich lachend fest und zieht mich wieder nach oben. Ich muss mitlachen, einfach weil sie lacht und mich das fröhlich macht. Wir reden sehr viel auf dem Weg zu mir nach Hause, doch dort angekommen wollen wir beide nicht rein gehen und so schlendern wir lieber weiter Richtung Wald. Sie hört die gleiche Musik wie ich und ist auf dem zweiten städtischen Gymnasium der Stadt eine Stufe über mir in der 13. Im Wald angekommen fängt es an, zu schneien. Aus einem mir nicht nachzuvollziehenden Grund beginnen wir auf einmal, fangen zu spielen, was damit endet, dass ich sie erwische und mit dem Rücken gegen einen Baum drücke. Einen kurzen Augenblick sehen wir uns in die Augen, dann küsse ich sie vorsichtig. Roxi legt die Arme um mich, zieht mich dichter an sich, erwidert meinen Kuss verlangend. Ein paar Schneeflocken fallen auf uns, doch wir bemerken es nicht. Ich bemerke überhaupt nichts mehr, außer ihr, nur ihr, überall sie. Unsicher lege auch ich meine Arme um sie und ich merke, dass sie wieder lächelt.
„Nervös?“, fragt sie leise.
Ich küsse sie zärtlich.
Wer weiß, wie lange wird dort standen, aber als wir gehen hat die Dämmerung schon eingesetzt und wir sind von oben bis unten eingeschneit. Vor meinem Haus bleiben wir stehen. Ich sehe ihr fragend in die Augen und sie lächelt bloß und streichelt meine Wange. „Wir sehen uns morgen, okay?“
Zur Antwort küsse ich sie flüchtig, es ist mir egal, ob meine Mutter jetzt vielleicht grade aus dem Fenster guckt. An der Straßenecke dreht sie sich noch einmal um und winkt. Diese Nacht kann ich überhaupt nicht schlafen.