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Silvesterproklamation an einem verschneiten Morgen
Das sich vor Schmerz in unendliche Farbspektra teilende Weiß der Sonne trifft auf die gelben Blätter meines ach so jungen Ahorns. Kalter Novemberwind lässt seinen jungen Stamm vibrieren, ihn frösteln. Angst – nein, nicht Angst - Panik steht in dem Schauspiel der Natur, nichts Ungewöhnliches, da das Orchester des Todes bereits für ihn spielt.
Todesklänge schwarz und golden zerfurchen die blassgraue Rinde, Saft strömt aus, die Wunde zu heilen. Hat er wirklich die Muße sich in seinem eigenen Tod noch Zeit zu nehmen, sich dem Unausweichlichen nicht beugen zu wollen, der Zeit ins Gesicht zu spucken?
Zeit? Zeit ist die Hebamme allen Übels, die Diebin des Ehrlichen, Verehrerin des Dunkels und die Lüge der Lebenden. Gleich dem Mensch hat die Zeit weder Berechtigung, noch Befugnis, noch Freude an der Existenz. Die Zeit ist Unheil, die Zeit ist die Hebamme allen Übels. Die Zeit ist tot.
Denn wenn die Zeit vorschreibt, dass alles vergänglich ist, so ist auch sie, durch ihr bloßes Vorhandensein, bereits zu ewiger Vergänglichkeit verdammt.
Dennoch lassen wir sie unser Leben bestimmen. Wie ein Volk seinem Diktator, sind auch die Menschen der Zeit schutzlos ausgeliefert. Wir haben sie erfunden und nun erfindet sie unsere Zukunft. Wir lassen es geschehen, lassen uns wie Schafe von einem Schäferhund zusammentreiben und nehmen unser Schicksal mit einem resignierenden Schulterzucken bereitwillig an. In unseren Augen steht ein feuchter, fragender Schimmer.
„Wann fängt das Leben endlich an?“
„Nie, wenn du weiterhin den Tag verschläfst, MTV guckst, dich stundenlang im Spiegel bewunderst, dir mehr Gedanken über Schönheit als über soziale Aspekte des Lebens machst, wenn du von Brad Pitt träumst, nie gelernt hast eine Konserve zu öffnen, ein Hörbuch griechischer Heldensagen zu Weihnachten geschenkt bekommst, wenn du rufst „fuck the system!“, aber nicht weißt, was das System ist. Nie, wenn du Angst vor Spinnen hast, wenn du Alpträume fürchtest. Nie, wenn du dich nicht änderst. Nie, wenn du nicht gewillt bist, die Realität zu spüren. Nie, wenn du glaubst. Nie, wenn du weinst. Nie, wenn du nicht weinst. Nie, wenn du über Krüppel lachst. Nie, wenn du Gewalt liebst. Nie, wenn nicht die Friedenstraube endlich Eintracht zwischen Mensch und Zeit, Moral und Erfolg stiftet. Nie, wenn du nicht in Liebe geboren wirst und auf einem Regenbogen des Glücks frühstücken darfst. Nie, wenn du Gehörtes zu Gesagtem machst. Nie, wenn dir trockenes Brot nicht genügt. Nie, wenn du dich mit dem Minimalen anfreundest. Nie, wenn du deine Kontoauszüge chronologisch in Wellpappeordnern sammelst."
Nie, wenn du dir trotz allem noch weismachen willst, du hättest keine Zeit für wichtige Dinge!
Zeit? Zeit ist dein Augapfel. Zeit ist dein Frostschutzmittel. Zeit ist dein Pausenbrot. Zeit ist dein Berg. Zeitnot ist deine Schuld.