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Simon
„Wer war kein Sohn Noahs?“ fragte der Moderator und gab vier Möglichkeiten zur Antwort: Sem, Kenan, Ham, oder Jafet?
Der Kandidat seufzte tief und nahm dabei die Hand vor das Gesicht. Er überlegte kurz, bevor er sagte: „Ich habe keine Ahnung!“
Sie füllte gerade ihr Rotweinglas und sagte leise „Kenan“. In der Bibel kannte sie sich aus und die Antwort kam automatisch. Sie konzentrierte sich nicht auf das Fernsehen. Sie sah einfach nur fern, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie saß im Fernsehsessel ihres Wohnzimmers und hatte gerade die zweite Weinflasche angebrochen. Sie versank langsam in ihren Gedanken. Ihren Mann hatte sie zuletzt heute morgen gesehen. Verabschiedet hatte er sich nicht und nach der Arbeit war er auch nicht nach Hause gekommen. Wahrscheinlich war er mit seinen Kollegen mal wieder in einer Kneipe versackt, wie so oft.
Sie saß alleine in ihrem Wohnzimmer, trank Wein, hörte die Stimmen aus dem Fernseher und dachte an früher. Sie lächelte bei dem Gedanken an die Anfänge ihrer Ehe.
Alles war gut gewesen. Helmut und sie hatten früher jeden Abend zusammen verbracht. Sie waren essen oder in die Sauna gegangen, hatten Freunde getroffen, Squash gespielt oder sich einfach nur einen schönen Abend zu zweit gemacht. Er hatte sie auf Händen getragen und sie konnte ihr Glück von damals kaum mehr fassen. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht als ihre Gedanken in der Gegenwart ankamen. Ihr Mann hatte sich von ihr entfernt. Er war immer weniger zu Hause und wenn er nach Hause kam, stank er nach Alkohohl und Zigaretten. Das alles begann mit der Geburt von Simon, ihrem Sohn. Ihr Glück sollte vervollkommnet werden mit einem Kind, und dann das.
Bis zur Geburt war alles normal verlaufen. Sie hatte kaum Beschwerden und alle sehnten den Tag der Geburt herbei. Während der Geburt kam es dann zu Komplikationen. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals gewickelt, und Simon wurde durch einen Kaiserschnitt geboren. Sie hatten sich Sorgen gemacht, weil er einige Zeit keine Luft bekommen hatte, was der Arzt aber zunächst herunterspielte.
„Ihr Sohn wird sich ganz normal entwickeln“, hatte er mit ruhiger Stimme zu ihnen gesagt.
Dass er damit unrecht hatte, zeigte sich schon nach wenigen Wochen. Simon war immer so verkrampft und seine Bewegungen wirkten zähflüssig und mühsam. Sie gingen zum Arzt und der sagte ihnen, dass Simon Spastiker war. Eine Welt brach für die noch jungen Eltern zusammen.
Helmut konnte und wollte sich damit nicht abfinden und machte ihr immer wieder Vorwürfe. Warum hast du diesen Wäschekorb getragen, warum jenen Schluck Sekt getrunken? Warum bist du so lange noch deinem Job nachgegangen, warum hast du noch so viel mit Freunden unternommen? Nachdem sie seine Vorwürfe immer wieder hörte, machte sie sich langsam selbst Vorwürfe. Ihr Mann füllte seinen Part auf der Arbeit gut aus und sie hatte zu der Familie nur ein defektes Kind beigetragen. Auch die Therapie half nicht viel. Nach anfänglichen Erfolgen merkte sie, dass die Therapie ihre Familie, Bekannten und sie nicht zufrieden stellte, worauf sie anfing zu trinken. Warum gerade sie? Warum nicht jemand anders? Was hatte sie gemacht, dass sie so bestraft wurde?
Ihr Mann begann, sich immer weniger zu Hause blicken zu lassen und sie vereinsamte. Sie litt unter Simon mehr, als dass sie sich mit ihm freute. Es war nicht nur die zerstörte Ehe, sondern auch die mitleidigen Blicke und schockierenden Kommentare auf der Strasse, die ihr zusetzten. In der Nachbarschaft wurde über ihre Trinkerei gesprochen und als Grund für die Behinderung ausgemacht. Dabei hatte sie während der Schwangerschaft kaum getrunken. An ihrem Geburtstag hatte sie einen kleinen Schluck Sekt genommen und einen weiteren Schluck hatte sie genommen, um ins neue Jahr zu feiern. Das konnte doch nicht der Grund für Simons Behinderung sein. Nein, sie war einfach nur für irgendetwas bestraft worden. Davon war sie überzeugt, genau so überzeugt, wie ihre gesamte Familie.
Ihr Gedankenfluss wurde von Schreien unterbrochen. Simon machte auf sich aufmerksam. Was hatte er denn jetzt schon wieder? Sie hatte ihm doch eben erst etwas zu trinken gegeben. Sie ging in sein Zimmer und machte das Licht an. Sie sah das schön eingerichtete Kinderzimmer. Sie hatten so viel Zeit und Liebe darauf verwendet, die richtige Einrichtung zu finden, waren immer und immer wieder die Kataloge durchgegangen, in Möbelgeschäfte gegangen und hatten sich Rat von Freunden, Bekannten und Verwandten geholt, bis das Zimmer perfekt war. Doch in das perfekte Zimmer ist das Unglück ihres Lebens eingezogen. Simon hatte alles kaputt gemacht, wovon sie immer geträumt hatte. Und dieses Unglück schrie jetzt und wollte wieder irgendetwas von ihr.
Sie nahm ihn auf den Arm und wiegte das Kind mechanisch hin und her. Die Windel war gewechselt worden, er hatte genug zu essen bekommen und bis vor fünf Minuten nichts von sich hören lassen. Was konnte er nur haben.
´Sei still!`
Er hörte nicht auf zu schreien. Sie legte ihn wieder ins Bettchen und deckte ihn zu. Sie nahm das Kissen
´Hör sofort auf`
und klopfte es aus. Sie wollte es wieder unter Simons Kopf legen, aber sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden.
„Scheiße“, schrie sie, stand wütend auf und hörte, wie Simon anfing, noch lauter zu schreien.
´Sei still!´
Wut mischte sich zu der Enttäuschung ihres Lebens. Simon erbrach sich in sein Bettchen
`Nein, du kleiner Bastard. Dafür wirst du büßen`
und die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht.
´Wärst du doch nie geboren worden.`
Ihre Halsschlagader trat blau hervor,
´du bist das Werk des Teufels`
die Finger krallten sich in das Kissen und Simon schrie immer noch.
´Hör endlich auf´.
Sie merkte, wie das Kissen dem Ziehen
´du hast mir mein Leben versaut`
ihrer Hände nicht mehr standhielt und riss.
´Hör auf!´
Die ersten Federn quollen aus dem Kissenbezug und sie beobachtete den schreienden Simon mit einem starren Blick, der ihr Gesicht zu einer furchterregenden Fratze umformte. Sie hörte nur noch die Schreie,
´Halt dein Maul!´
sah die verkrampften, abgehackten Bewegungen, die Simon dabei machte und dachte an die Demütigungen, die ihr auf der Strasse von Bekannten und Fremden entgegen gebracht worden waren,
`Du bist Schuld`
die sie vorher noch freundlich gegrüßt hatten.
´DU BIST SCHULD`
Sie hasste ihn. Ihr eignes Fleisch und Blut hatte ihr Leben versaut. Sie wollte das Leben, das sie vor der Geburt von Simon hatte, zurück.
´SEI RUHIG!´
„Hör sofort auf!“, schrie sie in das Bettchen hinein, aber Simon weinte nur noch lauter.
Sie konnte das Geschrei nicht mehr aushalten. Er sollte einfach nur still sein und sie in Ruhe lassen. Er sollte aus ihrem Leben verschwinden. Sie hielt das Kissen vor ihrer Brust, senkte es langsam, während in ihrem Kopf immer wieder das Wort ´Ruhe` erklang, und legte es auf Simons Gesicht. Die Schreie wurden jetzt leiser, waren aber immer noch zu hören. Sie drückte fester zu.
´Ruhe`
Simon strampelte mit den Beinen und die Hände streiften über das Kissen,
´Ruhe`
aber er war zu schwach, um das Kissen von seinem Gesicht zu lösen.
´Ruhe`
Sie stand mit verkrampftem Gesicht vor dem Bettchen und drückte das Kissen
´Ruhe`
nun so fest sie konnte auf das strampelnde Etwas.
´Ruhe`
Simons verkrampfte Bewegungen wurden immer kraftloser
´Ruhe`
und ihre Muskeln entspannten sich langsam.
´Still`
Sie schloss die Augen und genoss die Stille.
„Was machst du da?, hörte sie noch, bevor sie in Ohnmacht fiel.
Sie lag in ihrer Zelle und schaute an die Decke, als sie merkte, dass jemand in der Tür stand. Hinter diesem jemand waren noch vier weitere. Kerstin kam auf sie zu und sagte:
„Hallo Kindermörderin! Ich glaube, deine Wunden sind schon wieder verheilt“
Sie blieb stumm und blickte wieder an die Decke. Kerstin, die ein Auge bei einer Messerstecherei verloren hatte, schlug sich mit der linken zur Faust geballten Hand in die Rechte. Aber es machte ihr keine Angst mehr. Sie war die Gewalt gewöhnt und wusste, dass sie den Knast nicht überleben würde, was ihr aber auch egal war. Seit zehn Monaten und fünfzehn Tagen war sie nun hier und hatte noch neun Jahre, einen Monat und fünfzehn Tage vor sich. Sie war schon so oft verprügelt worden, dass sie es nur noch stumpf über sich ergehen ließ.
Heute war wieder Montag und wie an jedem Montag war Kerstin mit ihrer Gang in ihre Zelle gekommen. Sie blieb ganz ruhig liegen und machte nicht eine Bewegung, bis sie der erste Schlag ins Gesicht traf. Ihr Kopf dröhnte, aber sie lag immer noch mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf ihrem Bett. Der zweite Schlag ging in die Magengrube und ihr wurde schlecht. Nach 5 Minuten war sie schlimm genug zugerichtet und die Gang verließ die Zelle. Sie drehte sich um und versuchte zu schlafen, aber die Schmerzen vertrieben den Schlaf und sie lag, wie so oft, wach in auf ihrem Bett, wartete bis zum Morgengrauen und dachte an Simon. Eine Träne lief ihr über das Gesicht und ihr leises Schluchzen war das einzige, was man hören konnte.