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Skiferien
Der Schnee kam spät in diesem Winter, und früh im Jahr.
Jackie hatte gerade erst das erste Kalenderblatt umgedreht, eine schwarz-weiß getigerte Katze im Korb löste den Papageien auf der Stange ab. Der Kalender war ein Werbegeschenk aus der Apotheke und auf jedem Foto stand rechts unten in Großbuchstaben: „Danke für Ihren Einkauf!“ Dabei hatte sie dort gar nichts gekauft und nur Sinah begleitet, die nach der Schule Hustensaft besorgen sollte. Ihr kleiner Bruder war schon wieder erkältet und weil er Fieber hatte, wollte Sinahs Mutter ihn nicht alleine lassen. Petra kaufte nie Hustensaft, nicht mal den bei Penny. Sie hielt es für Geldverschwendung. „Und wirken tut sowieso keiner, weder der teure, noch der günstige“ behauptete sie, „Ist ja eh in allem dasselbe drin, ein paar Kräuter und jede Menge Zucker. Da kannste dir genauso gut ’ne Tasse Pfefferminztee machen und zwei Löffel Honig reingeben.“
Jackie mochte keinen Pfefferminztee, eigentlich mochte sie überhaupt keinen Tee. Bei Sinah wurde abends roter Früchtetee getrunken, der stand in einer Glaskanne auf dem Tisch und unten drunter brannte ein Teelicht. Gegen das Licht konnte man winzige, dunkle Gegenstände darin herum schwimmen sehen, das sah ziemlich eklig aus. Sinahs Mutter sagte, das sei, weil es „echter Tee“ war, keine abgepackten Papiertütchen, die man einfach ins Wasser warf. Er schmeckte ihr trotzdem nicht, außerdem durfte man ihn nicht einmal süßen. Zuviel Zucker ist ungesund, erklärte Sinahs Vater, denn abends saßen dort immer alle gemeinsam am Tisch, sogar Markus, das war Sinahs Bruder und schon beinahe 16 Jahre alt. Man musste sitzen bleiben, bis der letzte sein Besteck zur Seite legte, dann trug jeder sein Geschirr in die Küche.
Jackie wusste nie genau, wie sie die Abendessen bei Familie Tegert finden sollte. Auf der einen Seite war es schön, so zusammen um den Tisch zu sitzen, jeder erzählte ein bisschen von seinem Tag und die anderen gaben sich Mühe, zuzuhören oder nachzufragen. Im Hintergrund lief nie der Fernseher, stattdessen legten sie vor dem Essen eine Cd mit Musik auf, bei der nie jemand sang, das hieß Klassik.
Andererseits fühlte sie sich immer ein wenig unbehaglich, so als könnte sie jeden Augenblick etwas falsch machenr. Sie traute sich zum Beispiel nicht, noch ein drittes Brötchen aus dem Korb zu nehmen, weil sie nicht wollte, dass man sie für verfressen hielt. Wenn Sinahs Mutter ihr dann das übriggebliebene Brötchen hinterher in eine Tüte einpackte und in den Ranzen steckte, fühlte sie sich ganz klein und widerlich, obwohl Sinahs Mutter nie etwas dazu sagte. Einmal hatte sie den Beutel auch hinterher einfach irgendwo ins Gebüsch geworfen, als könne sie sich daran verbrennen. Und zuhause hatte sie sich dann doch geärgert, weil der Brotkasten leer war und Justi und Lalle vor Hunger quengelten. Seither warf sie kein Essen mehr weg.
Stattdessen hatte sie zu sammeln begonnen. Dosen und Flaschen, auf denen Pfand war und die sie zu Netto oder Penny bringen konnte. Am häufigsten fand sie Bierflaschen, auf dem Spielplatz im Park, beim Raucherpavillon der Schule und in den Mülleimern am Ententeich. Die Flaschen waren aus Glas und wogen schwer in der Plastiktüte, die sie dabei hatte, und dann brachten sie auch nur 8 Ct pro Stück. Am besten waren Dosen oder Flaschen mit dem Pfandsymbol, das gab jedes Mal 25 ct. Das war ein Viertel von einem ganzen Euro.
Bruchrechnen hatten sie letztes Jahr in der Schule gehabt. Jacki mochte Mathe. Mathe war besser als Deutsch. In Deutsch mussten sie schreiben und nie war jemand zufrieden mit ihren Wörtern und Sätzen. Was aber konnte an denen so falsch sein, wenn sie sie doch so aufschrieb, wie sie in ihrem Kopf drin waren? So, wie sie sie sonst auch aussprach?
„Man geht nicht einfach „irgendwo““, behauptete die Lehrerin, „Man geht immer irgendwo hin oder zu etwas.“ Jacki verstand sie nicht. Ob sie jetzt Stadtpark ging oder in den Stadtpark machte in ihren Ohren keinen Unterschied. Wenn sie ihr Diktat- oder Aufsatzheft zurück bekam, verschwanden ihre Texte unter einem kleinen roten See.
„Du solltest mehr lesen, Jaqueline.“ schlug die Lehrerin vor. „Leih dir doch aus unserer Klassenbücherei ein Buch aus.“
Aber Jackie konnte Bücher nicht ausstehen. Zu viele Wörter, zu anstrengend für die Augen. Sie mochte es, wenn sich die Dinge bewegten, mochte es, wenn sie selber entscheiden konnte, was geschah. In den Büchern war ja alles schon vorherbestimmt, irgendein Mann oder eine Frau hatten sich eine Geschichte ausgedacht und festgeschrieben, niemand konnte da jetzt noch mitreden. Wenn sie aber GTA spielte, da kam es auf sie selber an, sie war mitten drin im Geschehen, niemand schrieb ihr vor, wohin sie fahren oder auf wen sie schießen sollte. Sie konnte sogar ihre eigene Musik dazu hören.
Wenn sie zwei Tüten voll Pfand gesammelt hatte, brachte sie sie zum Flaschenautomaten und ließ sich das Geld bar auszahlen. Vorher hatte sie sich zuhause genau aufgeschrieben, was sie am dringendsten brauchten. Manchmal waren es Nudeln, weil es sonst kein Mittagessen gab, manchmal war es Brot oder Milch.
Am besten war es aber am Monatsanfang, denn da hatte Petra noch Geld auf dem Konto. Das Amt zahle pünktlich, es vergaß nie einen Ersten, darum zählte Jackie oft die letzten Tage bis dorthin. Wenn Petra einkaufen gegangen war, gab es auch wieder Käse und Wurst und Jogurt mit Knusper, bloß nicht das aus der Werbung.
Dann hatte Jackie ihr Sammelgeld ganz für sich. Einmal hatte sie sich 5 Euro zusammen gespart, dann waren Sinah und sie ins Cineplexx am Bahnhof gegangen und hatten sich den neuen Harry Potterfilm angeguckt. Aber als sie das zweite Mal fünf Euro beisammen hatte, hatte sich die Sohle von Lalles Turnschuhen gelöst und Petra hatte sie anpumpen müssen. Jetzt gab sie ihr Geld lieber sofort aus.
„Weg ist weg!“ sagte sie zu Sinah und gab ihr eine handvoll saurer Pommes ab.
Wenn ihr beim Sammeln jemand aus ihrer Klasse begegnete, bückte sie sich schnell weg. Sie wollte nicht erkannt werden. Im Müll wühlten doch nur Penner! Manchmal erkannte man sie trotzdem.
„Ey Ghettokind,“ riefen Simon oder Basti oder Yakar dann laut. „Ghettokind, weißt du, was der Unterschied zwischen umsonst und vergeblich ist? - Wir gehen umsonst zur Schule, du vergeblich! Du kannst später doch höchstens zur Müllabfuhr, falls die da Asoziale überhaupt nehmen!“ Dann lachten sie und spuckten auf den Boden.
Jackie wusste, was sie meinten. Jeder wusste das. In dem Block in der Turmbergstraße, in dem 35 Parteien wohnten, in dem es im Treppenhaus nach Urin, nach Alkohol und gebratenen Zwiebeln roch, war die Zukunft schon ausgezogen. Fast jeder, der hier wohnte, bekam sein Geld vom Amt, fast keiner hatte eine Arbeit.
Der Block war ihr Zuhause solange sie denken konnte, hierher war Petra mit ihr im Bauch gezogen, hier waren erst Justin, dann Chantalle auf die Welt gekommen. Sie hasste das Gebäude. Hasste es vor allem deshalb, weil sie nichts anderes hatte.
Nicht wie Sinah, die in einem anderen Stadtteil in einer anderen Welt lebte. In einer Welt, in die sie ab und zu zu Besuch kommen durfte und in der man ihr Weißbrötchen auf den Heimweg mitgab.
Jackie klebte ihre Nase an die Fensterscheibe in der Küche. Dick und flauschig schwebten die Flocken herunter. Ganz so, als hätten sie es nicht eilig auf der Erde anzukommen. Sie öffnete das Fenster, stieß dabei eine Limoflasche um, die über den Tisch kullerte und kurz vor der Kante liegen blieb. Jackie streckte ihre Hand weit hinaus, begrüßte die kleinen, nasskalten Himmelsboten.
„Kennt ihr den Unterschied zwischen umsonst und vergeblich?“ murmelte sie.
„Umsonst ist, wenn man nichts dafür bezahlen muss. Wie für Schnee. Das Wetter ist umsonst. Oder die Zukunft, denn die kommt einfach.
Vergeblich, das ist, wenn was einfach nichts nützt. Diktate schreiben zum Beispiel. Oder sich auf etwas freuen, was man eh nicht haben kann. ’ne Klassenfahrt zum Beispiel.“ Sie warf einen Blick zum Kalender hinüber. Sie hatte an dem Datum kein Kreuz gemacht, weil das aufgefallen wäre. Den Zettel aus der Schule hatte sie zerhackschnipselt, damit Petra ihn gar nie zu Gesicht bekäme. Jackie mochte es nicht, wenn ihre Mutter diesen speziellen traurigen Gesichtsausdruck bekam, weil für etwas einfach kein Geld da war.
Hätte es ein Kreuz gegeben, hätte sie es auf den heutigen Tag malen müssen.
Langsam wurde ihre Hand draußen vor dem Fenster taub. Sie zog sie zurück und klemmte sie zum Auftauen unter die Achsel. Dann schloss sie das Fenster, hob die Limoflasche auf und trank direkt aus der Öffnung. Immerhin hatte sie gehört, dass es in Jugendherbergen viel Tee zu trinken gab.