Mitglied
- Beitritt
- 15.03.2009
- Beiträge
- 190
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
So sollte sie sein
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er verließ sein spärliches Atelier, musste raus um bei sich zu sein. Bestimmten Schrittes folgte er der Hintergasse bis zum Forstweg. Hinaus aus dem Dorf, weg von den Menschen und all dem, was ihn an sie erinnerte. Die Kälte des Herbstes biss in sein Gesicht. Kaum einer war an solch einem Tag unterwegs, und er war froh. Begegnungen strengten ihn an. Sie lenkten ihn ab von seinem Wesen. Der Himmel war grau. Bald würde Regen kommen. Er wanderte hinein in den Wald, verließ den Pfad und stieg empor zwischen Fichten und Steinen. Einsamkeit hüllte ihn ein. Kein Vogel sang, kein Eichhörnchen lief ihm über den Weg. Die Bäume waren die besten Gesellen. Menschen fand er ermüdend. Die Erde war weich, und es roch nach Moos. Er überquerte den Bach und stieg den Hang hinauf. Links hinter der schrägen Tanne setzte er sich auf einer Wurzel nieder und ruhte sich aus. Seine Schuhe gruben sich in den weichen Boden. Das Moos löste sich, und darunter kam schlammige Erde hervor. Er reichte hinunter und fühlte den Lehm, eine anschmiegsame, formbare Masse.
Der Künstler ließ sich auf die Knie fallen und wühlte mit den Händen im nassen Gras. Er spürte die Kraft der Erde darunter. Er legte sich ins Moos und küsste den fruchtbaren Boden. Die Arbeit konnte beginnen. Erneut auf den Knien begann er, das Moos zu entfernen. Stück für Stück riss er es aus und warf es beiseite, eine entblößte Wunde im Waldboden. Seine Finger zerdrückten die nasse Erde, sie glitten durch den Lehm, schafften Wurzeln und Würmer beiseite. Er zermürbte die Klumpen in seinen Händen bis eine gleichförmige, geschmeidige Masse entstand. Andächtig ließ er sie durch die Finger gleiten. Sein Gesicht spürte die Feuchtigkeit auf der Haut. Der Regen war nah, doch das bekräftigte ihn nur in seinem Vorhaben. Die Essenz seines Werkes bestand in dessen Vergänglichkeit.
Seine geübten Hände kneteten die Masse, formten und schufen. Gezielt setzten sie Häufchen an Häufchen, stapelten sie übereinander, glitten über die Oberfläche und verabreichten der Gestalt ihren Feinschliff, den Zügen ihre Perfektion. Schlanke Beine, selbstsicher übereinander geschlagen, die Kurven nicht zu aufdringlich, ein sanft gewölbter Bauch, Brüste wie Äpfel, nicht zu groß und nicht zu klein. Ihre hohen Wangenknochen und ihr sinnlicher Mund standen für Weisheit und Güte. Reinheit, Großmut, Besinnlichkeit sollte sie ausstrahlen. Das makellose Wesen hockte entspannt inmitten des Waldes, in seiner Welt, nackt und pur, so wie er es erschaffen hatte. Die Kälte konnte ihr nichts anhaben. Geduldig, zuvorkommend, war sie nur für ihn und seine Bedürfnisse da. Sie hörte ihm zu, verstand ihn, leistete ihm Gesellschaft. Er betrachtete seine Schöpfung und freute sich an ihrem Dasein. Er bewunderte sie in der Stille, sprach mit ihr, schwieg mit ihr. Tausend Mal erschaffen, tausend Mal vergangen, jedes Mal verfeinert, ein langes Streben nach Perfektion. So sollte sie sein.
Ein Rauschen huschte durch den Wald. Es begann zu tröpfeln, zuerst sanft und beruhigend. Die Äste wiegten sich. Die blasse Haut seiner stillen Begleiterin verdunkelte sich durch das Wasser. Die Umrisse verwandelten sich, fast unbemerkbar änderten sich ihre Züge. Die Regentropfen wurden größer, die spitze Nase flacher. Eine Brustwarze rollte über ihren Bauch. Die Finger der ausgestreckten Hand verschmolzen. Der Künstler betrachtete das Schauspiel mit Ehrfurcht. Der Wind pfiff durch die Tannen. Er spürte das Wasser in seinem Nacken. Vor ihm verschwamm sein Werk, seine Muse, von ihm für ihn geschaffen. Schmale Rinnsale bildeten sich an ihrem Nacken, auf dem Unterleib, zwischen den Schenkeln. Die Augen nur noch zwei nasse Höhlen. Der Mund öffnete sich in einer verzerrten Fratze. Das Kinn brach ab. Die Beine wurden eins, ein Haufen, eine Masse, flüssiger Schlamm. Sie schwamm dahin.
Er saß in einer Pfütze, die Knie angezogen, und umarmte seine Beine, wiegte sich sachte vor und zurück.