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Socken für die Seele - eine wahre Begebenheit
Dieses Geschrei macht mich wahnsinnig. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und seufze erleichtert. Ich darf mich aus dem Bett quälen, und dieses Zimmer verlassen. Den langen Weg auf dem grünen Plastikboden schlurfen, durch die beiden Glastüren, zur Schiebetür. Geräuschlos schieben sich die Flügel auseinander, öffnen eine Welt der regelmässigen Piepstönen, des tappens von flinken Füssen, des leisen Gemurmels. Zielstrebig tragen mich meine Füsse nach hinten zum Fenster. Ich lächle nach links, nach rechts, dann bin ich da. Ich berühre das Glas vom Brutkasten, staune einen Moment über das Wunder das da drin liegt. Vor zwei Tagen kam dieses kleine Wesen zur Welt. Notfallmässig, äusserst knapp, dem Tod von der Schippe gesprungen. Aber wir leben! Ich geniesse die Ruhe hier auf der Neonantologie, widme mich meinem Kind, und packe an, soweit es geht.
Irgendwann gehe ich den Weg zurück, zurück in das Geschrei von den beiden Babys, die in meinem Zimmer schlafen sollten. Die Mütter wackeln den ganzen Tag durch das Zimmer. Fenster – Tür – Fenster. Hilflos lächeln sie sich unterwegs an. Die eine geht, als hätte sie einen Besen verschluckt. Die nervt mich sowieso. Wie kann man sich zwei Tage nach der Geburt Sorgen um die Figur machen?
Müde öffne ich die Tür und bleibe einen Moment erstaunt in der Tür stehen. Wir haben eine Neue im Zimmer, na ja, jetzt ist wenigstens jedes Bett belegt. Suchend lasse ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Wo ist das Baby? Meine Augen bleiben an einem Rücken in Rosa kleben. Da liegt eine Frau im Bett, mit dem Rücken gegen das Zimmer. Die Nervtötende Mutter zuckt mit der Schulter, als ich sie fragend anschaue. Das gibt es, denke ich und schlurfe langsam zu meinem Bett.
Die Frau liegt weitere drei Tage genau so im Bett. Sie sagt nichts, sie tut gar nichts. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich auf ihre Schultern starre, um zu sehen, ob sie noch lebt. Die Krankenschwestern und Ärzte kommen und gehen. Nichts ändert sich. Sie liegt da, und die Kleinen schreien, und ich mache mich alle vier Stunden auf den Weg auf die Neonantologie.
Es geschieht am fünften Tag, an meinem fünften Tag. Wir haben endlich Ruhe im Zimmer, die Frauen sind mit ihren Babys nach Hause gegangen. Fräulein Rosa und ich sind alleine. Ich habe mich gerade auf dem Bett eingerichtet, schlage ein Buch und will anfangen zu lesen. Ich höre ein Geräusch, erst kann ich nicht definieren, was ich höre, aber es ist schauerlich. Automatisch schaue ich zum Bett am Fenster, und sehe – die Schultern bewegen sich. Sie weint. So schnell ich kann, klettere ich aus meinem Bett und gehe zu ihr über. Sie liegt da, und weint bitterlich. Ich setze mich auf das Bett und streiche ihr über die Haare. Ich streiche hunderte Male über ihren Kopf, ich bleibe sitzen. Plötzlich sagt sie mit rauher Stimme: „Musst du nicht in die Neo?“ Ich erschrecke. „Doch!“ sage ich, „kann ich denn?“ – „Ja, ich bin in Ordnung. Geh zu deinem Kleinen.“ Ich freue mich darüber, dass sie eine Regung zeigt, es erschreckt mich aber auch. Zurück im Zimmer sehe ich, sie war aufgestanden. Neben mir geht die Badzimmer-Tür auf, mit zwei Schritten ist sei bei mir. „Geht es dir gut?“ – „Ja. Können wir reden?“ Meine Augenlider sind schwer, eigentlich will ich schlafen. „ja“, sage ich. Wir setzen uns an den Tisch. Und sie beginnt zu erzählen.
24 Jahre jung war sie. Sie war verheiratet, liebte ihren Mann sehr. Sie wollten unbedingt Kinder haben. Dieser Wunsch schien in Erfüllung zu gehen, schneller als gewollt, trug sie ein Kind unter ihrem Herzen. Die Freude war gross, in der ganzen Familie. Es wurde geplant, renoviert, eingekauft. Alles war bereit, obwohl noch Wochen vergehen sollten.
Es war nach ihrem Geburtstagsfest, als die Blutungen begannen. Sie blutete und blutete. Sie ging zum Arzt, der ihr später erklärte, sie habe ihr Baby verloren. Viele Tränen hätten sie geweint, erzählte sie. Aber eins verlieren, heisst noch lange nicht, keins zu haben. Nach ein paar Wochen musste sie zum Untersuch. Es war der 11. September 2001. Dunkel sei es in dem Büro gewesen. Ungewöhnlich dunkel. Er habe da gesessen, der Mann mit dem vollen grauen Haar und der Nickelbrille. Habe sie angeschaut, seine Hände gehoben, und dann habe er zu weinen begonnen. Schnell hätte sie begriffen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie kannte den Mann seit frühesten Kindertagen. Sie hatte ihn noch nie so gesehen. Plötzlich wurde ihr schwindelig, sie fühlte sich kraftlos, leblos. Was war los?
Der Arzt hätte den Kopf geschüttelt, und gesagt: „Ich kann nichts dagegen tun. Wir müssen… wir müssen…. Damit… da sind Knoten… die ganze Gebärmutter…. Muss raus!“ – die Welt habe sich plötzlich sehr schnell gedreht, und im Büro sei es noch dunkler geworden. Sie wisse nicht mehr wie, aber irgendwie sei sie nach Hause gegangen. Sie hätte gesehen, wie die Flugzeuge in die Türme flogen. Irgendwann hätte man sie ins Spital gebracht, und die Operation gemacht. Ihre Träume seien am 11. September gestorben. Ein ganzes Stück Seele hätte sie verloren, sagt sie.
Der Tag bricht an, als sie alles erzählt hat. Es lohnt sich nicht mehr, ins Bett zu liegen und zu schlafen. Ich muss sowieso wieder zu meinem Kind, und die Krankenschwestern und Ärzte würden auch bald um uns schwirren.
Erst kurz vor Mittag kehrt ein bisschen Ruhe ein in unserem Zimmer. Jede zieht sich in ihr Bett zurück. Ich hänge meinen Gedanken nach, und höre zu wie ihre Füllfeder über das Papier kratzt. Schaue zu, wie der Staub im Sonnenlicht tanzt, und freue mich über die Ruhe. Nein, das ist Stille. Angenehme Stille. Bis die Tür aufgeht. Herein kommt eine ältere Frau. Am rechten Arm trägt sie einen riesigen Korb. Freundlich grüsst sie und tritt an mein Bett. Sie muss eine Schönheit gewesen sein. Sie ist immer noch schön. Sie steht da und lächelt mich an. Ich lächele ein bisschen dümmlich zurück. Wer ist diese Frau? Mit leiser, weicher Stimme gratuliert sie mir zur Geburt meines Sohnes. Sie erzählt etwas von Gott und den Engeln, davon wie viel Glück ein Kind bedeutet, und überreicht mir ein Paar Wollsöckchen in Himmelblau mit dunkelblauen Maschen. Ich bedanke mich erstaunt, und bekomme noch eine Broschüre in die Hand gedrückt. Ich schiele neugierig auf das glänzende Papier und bedanke mich noch mal. Sie nimmt meine Hand und wünscht mir alles Gute, verabschiedet sich und wendet sich gegen das Fenster. Kritisch drehe und beäuge ich die Geschenke. Plötzlich wird mir bewusst, die Geschenke-Frau geht zum Fräulein Rosa. Bis ich das kapiere, spricht die Sockenfrau schon. Rosa schaut sie schief an, streckt die Hand aus und nimmt die Wollsöckchen entgegen. Ihre Augen geweitet, ihr Mund halb offen. Erstaunen schreit aus ihrem Gesicht. Nochmals streckt sie ihre Hand aus und nimmt die Broschüre entgegen. „Danke“ sagt sie. Wir beide schwirren gefühlsmässig irgendwo im nirgendwo, unfähig, irgendetwas an dieser Situation zu ändern.
Die Türe fliegt auf, eine junge Krankenschwester kommt schwer atmend ins Zimmer „Frau Zoller, das ist das fal….“ Ihre Stimme erstirbt und sie starrt schockiert auf Rosas Hände, die rosa Babysocken umklammert halten….