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Sofie
Er war gerade in der Bahnhofshalle angekommen, stand inmitten der Menge. Es war nachmittags, er war viel zu früh und es war heiß, stickig und wie immer überfüllt.
„Der Zug RE 27 hat aufgrund eines Wagenschadens eine Verspätung von einer Stunde. Ich wiederhole: Der RE 27 trifft mit einer Verspätung von einer Stunde ein“ tönte es durch den Lautsprecher in die Halle. Ungläubig, schier erschrocken blickte er auf die Anzeigetafel. Dort stand es, sein Zug hatte Verspätung! Eine Stunde! Wie sollte er den Termin schaffen? Die Firma hatte die Zeit so knapp bemessen, dass kaum Raum blieb. Und das auf seiner ersten Dienstreise. Er arbeitete im Büro, und das nun schon seit Jahren in der selben Firma. Ein sehr, sehr kleiner Buchverlag. Mittlerweile war er zum Abteilungsleiter aufgestiegen, doch was hieß das schon in einem solch winzigen Unternehmen. Gern hätte er in einer Verwaltung eines großen Konzern gearbeitet wie sein Nachbar. Sein Nachbar. Prüfend schaute er sich um, als ob eben dieser gerade aus der Menge auftauchen würde. Aber er hatte ja einen Firmenwagen, der liebe Herr Nachbar. Er war neidisch - ja. Er wollte gerade damit anfangen über diesen Herren innerlich zu philosophieren, als jemand an seinem Ärmel zupfte. Er schaute nach unten, und dort stand ein kleines, dunkelblond gelocktes Mädchen mit großen, tränengefüllten Augen neben ihm. Sie hielt ihm eine schon sehr abgegriffene alte Stofftierschildkröte entgegen. „Sofie!“, schluchzte sie nur mühsam verständlich, und er sah, dass eine Träne ihre Wange herunterkullerte. Er blickte auf die Abfahrtsanzeigetafel. Noch immer stand sein Zug mit sechzig Minuten Verspätung angeschlagen. Er seufzte. Den Termin würde er nie pünktlich schaffen, und das die Autorin, die er dort treffen sollte nach dem Termin direkt per Flugzeug wieder in der Weltgeschichte verschwand, machte es auch nicht gerade leichter. Sie würde im Sturm den Markt erobern, so hatte es der Chef ausgedrückt. Und er hatte ihn zu den wichtigen Vertragsverhandlungen geschickt. Er habe genug Erfahrung, er kenne die Verträge wie seine Westentasche, da er sie aufsetzte. Alle. Ein erneutes, diesmal ganz weinerliches „Sofie!“ holte ihn von seinen Gedankengängen zurück. Er blickte die Kleine an. „Bist du Sofie?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und hielt ihm die Schildkröte ein wenig bestimmter entgegen. „Sofie!“ „Deine Schildkröte heißt Sofie?“ Sie nickte. Noch immer standen Tränen in ihren Augen. „Suchst du deine Mami?“ Er versuchte auf das Kind einzugehen, doch da er Kinder nur als notwendiges Übel betrachtete um Kindergeschichten und – bücher zu verkaufen, gelang es ihm nicht so recht. Das Mädchen reagierte nicht, sondern antwortete nur mit einem tränenerstickten „Sofie!“ und deutete nun auf die Stoffschicht, die den Panzer bildete. Er sah einen langen Riss im Stoff, als hätte jemand mit dem Messer das Stofftier bearbeitet. Wahrscheinlich ist sie mit dem Vieh irgendwo hängen geblieben. Er schaute wieder auf die Kleine hinab. Bittend schauten ihn die Kinderaugen an, flehend etwas gegen das Leid ihrer Schildkröte zu tun. Er schaute sich um, ein prüfender Blick auf die Anzeigetafel- noch immer eine Stunde Verspätung angeschlagen, dann wanderte sein Blick durch die Vorhalle. Suchte den niemand ein kleines, weinendes Mädchen mit einer Stofftierschildkröte? Doch keine verzweifelt suchend aussehende Person kam in sein Blickfeld. „Sofie!“ Die Kleine weinte nun herzzerreißend. „Nun kümmern sie sich endlich mal um ihr Kind“, zischte ihm eine ältere, etwas beleibtere Dame böse zu. Unschlüssig nahm er die Kleine an die Hand und ging ziellos durch die Halle. Er steuerte auf eine der Sitzgelegenheiten in Bahnhöfen zu, diese Drahtkorbsessel, vornehmlich blau gestrichen. Dort saß eine alte Frau, gebrechlich wirkend und stickte. Sie machte den Eindruck, als ob sie Wörter wie Eile, Hast oder Ungeduld gar nicht kennen würde. Hastig ging er nun mit dem kleinen Mädchen und der kaputten Stofftierschildkröte auf sie zu. Sie schaute lächelnd zu ihnen. Die Kleine hielt auch ihr das Stofftier schluchzend entgegen. „Sofie!“
„Deine Sofie ist kaputt, nicht? Tut ihr bestimmt weh!“ stellte die alte Frau freundlich fest und nahm dem Mädchen das Stofftier aus der Hand. Behutsam strich sie mit der faltigen Hand über den Riss am Rücken des Stofftiers, dann kramte sie in ihrer großen, mit Blumen bestickten Tasche und holte grünes Garn heraus. Sie nähte die Wunde der Schildkröte flink und schnell. Die Augen des kleine Mädchens leuchteten immer strahlender, als sie ihre Sofie wiederbekam. „Bitte schön, da ist deine Sofie wieder heil.“ Das Mädchen lächelte über ihr ganzes Gesicht und zupfte ihm wieder am Ärmel. „Sofie!“ Wieder hielt sie ihm die Schildkröte entgegen, diesmal lächelnd. Er lächelte zurück. Plötzlich tauchte eine junge Frau, er schätzte sie auf etwa dreißig, aus der Menge auf und fiel der Kleinen um den Hals. „Hier bist du ja!“ Das Gesicht der Frau, rotgeweint, blickte ihrer Tochter erleichtert ins Gesicht. Die Kleine schaute sie an. „Sofie!“ Beherzt hielt sie ihr Sofie entgegen. Die Mutter zog sie, nach einem leise gemurmelten Danke zu der alten Dame und ihm weg, nach wenigen Augenblicken waren sie in der Menge verschwunden. Er nickte der alten Dame unsicher zu, sie erwiderte den stummen Abschiedsgruß mit einem Lächeln. Er machte sich auf den Weg zu Gleis zwölf. Bald würde sein Zug kommen, und wenn er Glück hatte würde er die Autorin noch treffen und die Verträge im Sinne seines Chefs abschließen. Er schmunzelte. Sofie, dachte er, Sofie.