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Soirée dans Grenade

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22.02.2005
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Soirée dans Grenade

"Wenn man sich Reisen nicht leisten kann, muss man sie durch Fantasie ersetzen." C.Debussy​

Das rhythmische Klatschen, begleitet von Flamencogitarren und dem heftigen Aufstampfen der Tänzerinnen, verliert sich hinter mir. Ich habe es nicht mehr ertragen, diese Enge, diese erstickende Luft, das wilde Wirbeln der bunten Röcke, ein Flimmern auf der Netzhaut, das stinkfreundliche Lächeln des Kellners, die schwitzenden fetten Touristen, der überklimatisierte Bus, der uns hier auf den Sacromonte gebracht hat – nein, so hatte ich mir Granada nicht vorgestellt.
Das ist meine Schuld. Wenn ich nicht so hoffnungslos romantisch und verträumt wäre. Fotobände gaukeln verlockende Illusionen vor. Ich will auch mit den Augen eines Fotografen sehen können, aber jedes Mal, wenn ich in fremde Länder reise, werde ich enttäuscht, weil nichts so märchenhaft ist, wie ich es mir ausgemalt habe.

Ich bin hierher gekommen, um mich zu erholen, ein bisschen von der südlichen Lebensenergie mitzunehmen, aber im Augenblick ist mir alles zu viel, die Hitze, der Alkohol, die Menschen. Die letzte Tournee hat uns ziemlich ausgelaugt, da wir alle nebenbei noch einen Job haben. Von der Musik allein leben nur die wenigsten.

Die Nachtluft ist frisch, nicht so stickig wie eben noch vorhin. Die weißen Mauern der Häuser leuchten blau im späten Licht des Abends. Unter meinen Sandalen fühle ich die runden, faustgroßen Pflastersteine, ein angenehmes Gefühl, beruhigend. Hier auf dem Albaicín werden die Gassen enger und verwinkelter, als stauchten sich die Häuser zusammen. Hinter der nächsten Ecke taucht ein kleiner, verlassener Platz auf, der von Bäumen umsäumt wird, die tagsüber ein wenig Schatten spenden. Dort setze ich mich auf eine Bank und kann durch das dürre Geäst Sterne erkennen, als ich hinaufschaue. Ich schließe die Augen und achte auf Geräusche. Das mache ich gerne, Geräusche bestimmten Dingen zuordnen. Irgendwo plätschert ein Brunnen. Ein Motor wird gestartet. Das ferne Rauschen des Verkehrs. Kaum wahrnehmbar brummt ein Flugzeug über mir. Und dann, ich merke es beinahe nicht, verebben die Geräusche, driften fort.
Ich kann die Stille fast greifen.

Langsam stehe ich auf und schaue mich um. Woher bin ich gekommen? Die Gassen sehen alle gleich aus. Etwas unentschlossen gehe ich ein paar Schritte, bleibe nochmals stehen. Und da höre ich sie, die leise Melodie. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was für ein Instrument es ist. Eine Flöte, eine Violine? Oder ist es eine reine Melodie, wenn es so etwas geben sollte? Musik in ihrer urtümlichsten Form, an diesem Gedanken haftet etwas Faszinierendes.
Ich laufe los, ich muss dieser Melodie folgen. Ein feines Trommeln setzt ein, ein sich ständig wiederholender Rhythmus, wie bei Ravels Bolero, denke ich. Die Gasse neigt sich. Vor mir spannt sich über ein kleines Stück Himmel ein maurischer Torbogen, den ich durchschreite. Zu beiden Seiten nur noch leere Wände, hohe Gartenmauern, was dahinter liegt, kann ich nicht sehen. Große, verwunschene Gärten? Verlassene Höfe? Die Gasse ist bald zu Ende und mündet in einen weiteren Platz. Wieder stehen da Bäume, doch diesmal ist eine Seite des Platzes offen, sodass man bis zur Alhambra hinüber sehen kann. Die Zinnen der Roten Burg sind in helles Mondlicht getaucht. Eine Gestalt mit einem breitkrempigen Hut steht an der Brüstung. Ich horche, aber die Musik ist wieder verschwunden.

Der Mann dreht sich zu mir um und lächelt. Ein kurzer, dunkler Bart umrundet sein Kinn.
„Buenas Noches!“, grüßt er mich. Sein Spanisch hat einen französischen Akzent.
„Bonne Soirée?“
Wieder lächelt er. „Oui, Sie haben mich entlarvt. Mon Dieu, ich muss noch mehr üben. Verzeihen Sie mein schlechtes Spanisch. Darf ich mich vorstellen? Claude.“
„Angenehm. Carmen.“
Ich betrachte ihn genauer. Er trägt einen altmodischen Anzug, eine weiße Weste und elegante, schwarze Schuhe. Ein Mann der alten Schule, ein französischer Gentilhomme.
„Was treibt Sie denn so spät noch hierher?“, frage ich.
„Das gleiche wie Sie, nehme ich an.“
„Wie? Ich verstehe nicht.“
„Die Musik. Die Melodie.“
Ich entsinne mich. „Ja, woher wissen Sie? ... Haben Sie es auch gehört?“
Er nickt. „Die Musik ist immer hier. Sie ist überall, aber hier ist sie besonders gut zu ... spüren. Mein Freund Manuel hat es mir erzählt, zuerst wollte ich ihm nicht glauben, aber nun habe ich mich selbst davon überzeugt. Es ist wunderbar, das kann ich Ihnen sagen.“
Ich strenge mich an und schließe nochmals die Augen. Ja, da ist es wieder. Das Trommeln. Und die Melodie setzt wieder ein, schwingt sich über den Rhythmus.
„Sehen Sie die Alhambra?“
Ich nicke.
„Ein wahres Wunderwerk nicht? Das ist die Poesie der Architektur, eine Melodie für die Augen.“
Die nüchterne Schönheit der Mauern fesselt mich. Das Innere des Palastes soll aber gänzlich ein Gegensatz dazu sein, eine Perle, eine Orgie an filigranen Ornamenten, eine Oase inmitten einer Oase.
„Kommen Sie mit!“, fordert Claude mich auf.

Einige Zypressen lehnen sich über den staubigen Weg, der sich den steilen Hang hinauf windet, Steine knirschen unter unseren Füßen. Wir schweigen, als wollten wir die Musik nicht unterbrechen, nur unser Atem ist zu hören. Oben angelangt, überdeckt schwermütiges Geäst den ganzen Weg. Zum Schatten der Bäume gesellt sich derjenige der Burgmauer. Wir laufen in diesem Dunkel weiter bis sich die Bäume vor uns wieder öffnen. Die Melodie ist stärker geworden, beflügelter und härter, ohne ihre Grazilität zu verlieren. Immer noch wortlos betritt Claude die alten Gemäuer, die teilweise von Efeuranken und exotischen Schlingpflanzen überwuchert sind. Die Steine scheinen von vergessenen Geschehnissen, Erinnerungen und verlorenen Träumen zu murmeln, betten die Melodie ein.

„Schauen Sie, die Puerta del Vino“, flüstert Claude. Er bleibt vor dem weinroten Tor stehen. „Trotz der Schlichtheit ein Meisterwerk. Früher wurde der Wein hier verzollt, deshalb der Name. Ich kann sie beinahe sehen. Wagen voller Fässer, wie sie von den geschäftigen Menschen verladen werden. Öffnen Sie die Tore der Vergangenheit und Imagination.“
Die Musik entführt mich tatsächliche in fremde Welten, aber ich nehme die Dinge nicht visuell wahr, sondern fühle sie auf eine ganz eigene, greifbare Art. Ich nicke.
„Aber das Schönste haben Sie noch gar nicht gesehen.“

Das Spiegelbild des mächtigen Comares verdunkelt das Wasser im länglichen Becken. Es riecht angenehm. Wir stehen unter den Arkaden und betrachten den Myrtenhof.
„Spüren Sie, wie sie zurückkehrt?“
Verwirrt löse ich meinen Blick von der Wasseroberfläche. „Wie meinen Sie das?“
„Sie suchten doch die Musik? Nun, sie ist hier, in jedem Stein, in jeder Ritze, zwischen den Säulen, im Wasser. Man muss nur genau hinhören. Nehmen Sie sich etwas davon mit – nur zu.“
Er hat Recht, die Luft ist erfüllt von Melodiefetzen, Rhythmen, Motiven, Figuren. Die Melodie von vorhin ist verschwunden, untergetaucht in diesem leisen Wirrwarr aus Klängen.
„Sind Sie auch der Musik wegen hierher gekommen?“, frage ich.
„Ich erzählte Ihnen bereits, was mein Freund Manuel mir schrieb. Glauben Sie auch, dass alle Musik schon existiert? Dass wir sie nur aufspüren müssen? Überall kann man sie finden, aber an manchen Stellen ist es stärker. Wie hier, an diesem alten Ort, wo schon viele Menschen vor uns aus diesem Ozean der Inspiration geschöpft haben. An solchen Orten findet man nicht nur Musik. Hören Sie die Worte, die Klagen, die Jubelrufe? Sehen Sie die Bilder und das Fest der Farben?“
Er seufzt. Verträumt? Schwelgend?
„Dies ist ein Geschenk, das Sie nicht ablehnen oder verschwenden sollten“, flüstert Claude und geht.
Ich folge ihm nicht, bleibe stehen und lausche. Zuerst wage ich es nicht, danach zu fassen. Dann, behutsam, atme ich tief ein und strecke die Hand aus. Es durchströmt mich. Meine Fingerspitzen berühren das Wasser. Mit meinem ganzen Körper tauche ich ins Becken. Ich treibe, während es immer stärker durch mich fließt. Die Musik kehrt zurück, gewaltig und sinfonisch. Meine Seele jubelt.

Wie viel Zeit ist vergangen? Ich betrete den Patio de Leones, den Löwenhof. Ein Hain aus marmornen Säulen umgibt mich. Mit den Händen fahre ich über die geschnitzten Rankenwerke. Ich trinke einen letzten Schluck aus dem Brunnen mit den steinernen, starren Löwenfiguren, während sich in der Ferne bereits ein heller Schleier in den Nachthimmel schiebt. Ich muss mich beeilen. Zauber vergehen immer bei Tagesanbruch.

Die ersten Menschen treiben sich schon auf den Strassen herum, emsige Zeitungslieferanten, Straßenfeger, Bäcker, Busfahrer. Im diesem magenta-bläulichen Licht der Dämmerstunde, in der keine Schatten zu sehen sind, laufe ich die Treppen einer Nebengasse hinunter. Vogelgezwitscher hat die Melodie abgelöst. Aber ich muss die Musik nicht hören, sie ist in mir.

 
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Hallo cana lupa magna mala!

Oh, die Wölfin ist heute zahm. :) Danke fürs Lesen und das Lob, ich fühle mich geschmeichelt.

Zitat:
Die Nachtluft ist frisch, nicht so stickig wie eben noch vorhin.
"eben" oder "vorhin"? Das klingt irgendwie seltsam und doppelt gemoppelt.
Hm, so hätte ich es auf Schweizerdeutsch gesagt ... stimmt aber, es klingt ein bisschen überflüssig.

Der Torbogen spannt sich "über" den Himmel?
Ich habe mir das so vorgestellt, dass nur noch ein kleines Stück Himmel zwischen Torbogen und Mauer zu sehen ist. Vielleicht ein bisschen unglücklich formuliert ...

Da die Geschichte sich um Musik dreht, wäre es schön, zu erfahren, welches Instrument die Protagonistin spielt.
Gute Idee. Sie ist Sängerin und Gitarristin (aber der Leser weiss es wohl nicht ... :hmm: )

Heisst das, ich kriege dieses Mal keine Stockschläge? :D

Liebe Grüsse
sirwen

Edit:
@Golio: Ups, sorry, habe deinen Kommentar total übersehen! Jedenfalls danke fürs Lesen!

Du hast es tatsächlich geschafft, die Dinge um mich herum vergessen zu machen.
Schön, dass du das so erlebt hast! :)

 

Hallo Sirwen,
deine Geschichte ist die erste, die ich auf meinem neuen Notebook lese ; dafür sollte dir eigentlich ein Preis überreicht werden. So etwas wie bei einem tausendsten Besucher...lach...;)
Aber das Unwesentliche bei Seite. Mir hat deine kurze Geschichte gut gefallen, auch wenn sie vielleicht nicht wirklich eine story beinhaltet. Was mir gefallen hat, ist der Stil, mit dem du deine Gedanken zu Papier gebracht hast. Die gesamte Situation ist wunderbar rund geschrieben. Man spürt trotz weniger Worte das Gefühl, das du vermitteln wolltest. Schön, locker, flüssig, harmonisch...das sind die ersten Attribute, die mir in diesem Zusammenhang einfallen. Wenn es dir dann noch gelingen würde die kg mit einer wirklichen Handlung zu durchsetzen, wäre sie fast perfekt (denn „Perfekt“ gibt es nicht ;) ). Aber eigentlich brauchst du das gar nicht. Sie funktioniert auch in dieser Version.
Gern gelesen!

Einen lieben Gruß
morti

 

Hallo morti,

Danke für deinen Kommentar und für die Ehre, dass dies die erste Geschichte ist, die du auf deinem neuen Notebook liest! :)
Diese Geschichte wird keine zusätzliche Handlung mehr kriegen, aber ich bemühe mich, die nächste Geschichte etwas interessanter zu gestalten.

Liebe Grüsse
sirwen

 

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