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- 12.10.2005
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Solange sie Zigaretten in der Hölle haben
Markus Dreiser saß mit geschlossenen Augen in seinem Wagen und wartete, dass es sieben Uhr morgens werden würde. Das Auto vibrierte, wenn ein Wagen an ihm vorbei die Straße herunterfuhr. Sein Fuß war auf das Gaspedal gestellt, obwohl er nicht vorhatte, in der nächsten Zeit los zu fahren. Die morgendliche Sonne brach an manchen Stellen durch die dichten Wolken und spiegelte sich in der Karosserie und den Scheiben.
Es zog wieder so kribbelnd in jedem einzelnen seiner zehn Finger. All die kleinen, feinen Falten glühten wie Feuer, in seiner Erinnerung rauchten sie wie Aschedampf. Unter seinen Fingernägeln erkannte er gelbgrünen Schleim, der sich da bewegte und versuchte, herauszutropfen.
Plötzlich setzte wieder ein Zittern in seinen Fingern ein. Er wusste, dass wenn jemand, besonders Marek, von seinem Zittern Wind bekommen würde, er nicht mehr lange leben würde. Wie ein lahmes Pferd würde er keinen Wert mehr haben, aber für ihn würde es keinen Gnadenhof geben.
Er kramte kurz in seiner Jacke, die er auf den Beifahrersitz geschmissen hatte, nach seinen Zigaretten. Marek mochte keinen Qualm im Auto und so versuchte Dreiser, sich möglichst weit aus dem Fenster zu lehnen und den Rauch in den kühlen Morgenwind herauszupusten. Sofort hörte dieses entsetzliche Zittern in seinen Händen auf.
Mit vierzehn hatte er erst das Medikament gegen das Zittern in seinen Fingern gefunden. Die Zigaretten hatten Dreiser das Leben nicht gerettet, sie hatten es ihm erst ermöglicht. Er zog tief ein und atmete geruhsam wieder aus.
Nach ein paar Minuten kam Marek wieder zurück. Er sah erschöpft aus, seine Halbglatze glänzte vor Schweiß. In seinen Augen lag ein verwirrter Ausdruck.
„Und, hat sich was getan?“
Seine Worte kamen schnell, wie in einem Atemzug. Zwischen seinen Zähnen sah er sein Frühstück. Sein Atem stank nach dem Kaffee, den sie vor einer Stunde in einer kleinen Bäckerei getrunken hatten.
„Nein, eben hab ich eines der Kinder am Fenster gesehen. Es müssten jetzt alle wach sein. Ich denke, wir können in zehn Minuten planmäßig zuschlagen!“
Marek ging er um das Auto herum und stieg wieder ein. Er merkte nicht, wie Dreiser ihm auf die Fingernägel starrte und grob schätzte, wie lang sie wohl waren.
„Ist was?“ fragte er stattdessen.
„Es scheint schon die Sonne. Irgendwie seltsam, ich bin es nicht gewohnt, so früh wach zu sein. Verstehst du? Das die Sonne schon so früh am morgen scheint... wie viel ich immer vom Tag verpasse und eher in der Nacht lebe... das gibt mir irgendwie zu denken.“
Marek blickte gar nicht mehr zu ihm rüber und sah stattdessen auf das Haus der Schneiders. Es war ein großes, weißes Vorortshaus mit einem Ahornbaum, der strategisch vor dem großen Wohnzimmerfenster eingepflanzt war und den Blick hinein unmöglich machte. In der Auffahrt stand ein Mercedes und der VW-Kombi der Frau. Gestern hatten sie bei der letzten Auskundschaftung die beiden Kinder im Garten spielen sehen. Er hatte lächeln müssen, so kindlich war ihr Schaukeln gewesen.
Am Küchenfenster tauchte kurz Frau Schneider mit ein paar Tellern auf, mit denen sie den Tisch deckte.
„Sie sieht gut aus“, befand Marek. „Zu schade, wir werden sie nicht vögeln können.“
Dreiser hörte nicht richtig hin.
„Gleich sieben. Ich denke, es wird alles klar gehen und sie werden das Haus pünktlich verlassen. Ansonsten...“
Etwas hielt Dreisers Blick auf Mareks Finger. Sie waren sehr schlecht geschnitten, manche extrem kurz, andere viel zu lang. Und sie waren dreckig. Er wollte gar nicht wissen, wo Marek alles herumkratzte. Es waren Fingernägel eines armen Bauern, der sich keine Schere leisten konnte.
„Noch eine Minute“, meinte er schließlich und seine Hand glitt zu seiner Hosentasche. Auch wenn Marek schießen würde, hatte er eine Pistole immer dabei. Und sein altes, rostiges Messer, mit dem er schon als Kind Blut vergossen hatte.
„Da kommen sie“, schnaufte Marek.
Frau Schneider mit den beiden Kindern. Um punkt sieben brachte sie ihre Kinder immer zur Schule, die etwa eine halbe Stunde entfernt lag. Eine von diesen teuren, katholischen Privatschulen mit Nonnen, die manche der Unterrichtsstunden übernahmen. Sie würde danach höchst wahrscheinlich sofort wieder zurück kommen, obwohl Herr Schneider das Haus viertel vor acht verlassen würde. Alles in allem blieben ihnen etwa vierzig Minuten Zeit, um ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen und wieder zu verschwinden.
Dann fuhr das Auto die Einfahrt herunter und verschwand nach kurzem in einer Seitenstraße.
Marek dachte noch kurz an sie und daran, wie er früher mit seinen Leuten um die Häuser gezogen war und damals dieses Mädchen in der Seitenstraße gefunden hatten. Es hatte viel Spaß gemacht, sie herumzuschubsen, auszuziehen und ihren Atem an seinem Hals zu spüren. Und diese Schreie, diese herrliche Angst, die in jedem ihrer Atemzüge seine Haut streichelte.
„Gehen wir?“
Dreiser nickte als Antwort, mit der rechten Hand strich er sich die Haare aus den Augen. Er war ein großer Mann und wirkte neben Marek noch größer und schlanker. Langsam, möglichst unauffällig gingen beide über die Straße. Er warf noch einen kurzen Blick auf das Auto. Das Zittern in seinen Händen war die letzten Sekunden wieder stärker geworden, irgendwie schien es unnachgiebig. Die Spucke in seinem Mund fühlte sich zäh und fest an. Wieder schloss er kurz seine Augen und spürte die Dunkelheit um ihn herum ... Schmerz ... Ruhe ... alles um ihn herum schleichend wie eine Katze auf Jagd.
„Ist was?“, sagte Marek. Sein russischer Akzent war in den vielen Jahren, die er schon in Deutschland lebte, aus seiner Stimme verschwunden, schimmerte aber in diesem kurzen Moment durch.
Dreiser blickte ihn wirr an. Ein Blatt segelte langsam vor ihm auf den Bürgersteig.
Es war Marek, der die Klingel betätigte. Sie beide hörten, wie eine kleine und angenehme Melodie im Haus erklang. Wieder musste Dreiser seine Augen schließen, um seine Konzentration wiederzufinden. Es schien ihm alles so unwirklich in diesem Moment. Selbst Marek kam ihm so falsch vor. Der Boden unter seinen Füßen wirkte viel zu weich und löchrig. Eine Schlange zischte irgendwo, während kleine, weiße Mäuse durch seine Beine huschten. Ein Stechen in den Armen, das sich durch seine Venen kämpfte, Kurz blinzelte er und blickte nach oben. Der Himmel, er war rot, die Wolken gelb und über allem schimmerte es schwarz.
„Was soll das?“, zischte Marek.
„Ich muss... eine rauchen“, antwortete Dreiser und suchte in seiner Jackentasche nach den Zigaretten. Seine Finger zitterten so stark, dass er es erst nicht schaffte, hineinzulangen. Doch dann schaffte er es. Aber sie waren nicht mehr da.
„Scheiße, er kommt nicht... er muss uns gesehen haben und hat sicher die Polizei verständigt.“
Doch plötzlich hörten sie Schritte im Flur. Schritte, die näher kamen.
„Er kommt“, sagte Marek.
„Scheiße, tun meine Finger weh“, flüsterte Dreiser, doch nicht leise genug, als dass es sein Kollege nicht gehört hätte. “Wo sind meine Kippen, he Marek, du kannst mir nicht einfach meine Zigaretten wegnehmen?”
„Was?“
Die Tür wurde geöffnet. Schneider sah sie beide verdutzt an. In seinem Gesicht tropfte Rasierschaum das Kinn herunter. Der Mann hatte noch seinen Bademantel an, der nur sporadisch mit einem Stoffgürtel zugemacht war. In der rechten Hand hielt er den Rasierer, mit der linken versuchte er sofort, die Tür zu schließen.
Marek hatte sich vorher kurz zu Dreiser umgedreht. Doch sofort registrierte er den verwirrten Gesichtsausdruck von Schneider und handelte.
Er warf sich gegen die fast geschlossene Tür und stieß Schneider um. Obwohl Marek sich krampfhaft versuchte an der Tür festzuhalten, landeten beide wie Sandsäcke auf dem Teppichboden.
Schneider schrie, mit der Klinge des Rasierers hatte er sich das Gesicht aufgerissen. Blut vermischte sich mit Schaum. Ihr Opfer schaltete schnell und bevor Marek etwas tun konnte, war er schon wieder auf den Beinen. Marek keuchte und schrie etwas, das Dreiser erst nicht verstand.
„Verdammt, hilf mir!“
Dreiser starrte auf seine zitternden Hände und versuchte sich zwanghaft zu konzentrieren. Das Zucken war auf seine Augenlider übergegangen. Er schaffte es nicht mehr, in die Dunkelheit zu fliehen. Mit beiden Zeigefingern rieb er sich an den Schläfen, immer im Kreis und möglichst langsam.
„Markus!“
Schneider war ein paar Meter weit gekommen, dann hatte Marek sich wieder auf ihn geworfen. Die Wucht war so groß, dass sie gegen einen kleinen Schrank stießen. Bücher polterten auf beide herunter. Sie schrieen vor Schmerz und Überraschung. Mareks Pistole glitt ihm aus der Hand und rollte über den Flur, bis sie unter einer Kommode verschwand.
Ganz ruhig ging Dreiser in das Haus und betrachtete die beiden Kämpfenden vor sich auf dem Fußboden. Er schloss hinter sich die Tür. Kein Geräusch würde da durchdringen. Dann nahm er seine Pistole aus der Hosentasche, schraubte den Schalldämpfer drauf und schoss nacheinander auf Marek und Schneider.
Erst setzte sich Dreiser in den Schaukelstuhl im Wohnzimmer und sah ein paar Minuten aus dem Fenster. Der Ahorn stand kurz davor, seine Blätter an den Herbst zu verlieren. Der Himmel war immer noch schwarz, die weißen Wolken wirkten wie draufgeklebt. Auf einem Tisch lag eine geöffnete Zigarettenpackung. Marlboro, normalerweise nicht seine Marke. Es langte hinein und zitternd zündete er sich eine an. Gierig bahnte sich der Rauch seinen heilenden Weg durch seinen Körper. Es tat so unendlich gut.
Die beiden Angeschossenen stöhnten im Flur. Er dachte nach, wie er das damals immer bei sich gemacht hatte, wenn das Zucken in seinen Fingern angefangen hatte. Es hatte seiner Mutter nie gefallen, diese Methoden, die ihm halfen, die Wut und das Elend zu überwinden. Man kann diesen Schmerz nur mit Schmerz überwinden, hatte er seiner Mutter so oft versucht zu erklären, aber sie hatte nichts getan, als ihm immer und immer wieder die Hände mit Tüchern zu umbinden, als wäre er ein Leprakranker.
Irgendwann stand er wieder auf und ging zurück in den Eingangsbereich des Hauses. Marek atmete laut ein und aus, sein Blick war starr auf Dreiser gerichtet, als dieser ihn mit der Pistole anvisierte.
„Bist du übergeschnappt?“
Marek redete leise vor sich hin. Mit der Hand drückte er auf seine Wunde. Er war im Knie getroffen worden. Blut sickerte durch seine Hände. Schneider hatte erheblich mehr abbekommen. Wie ein alter Landstreicher krümmte er sich in eine Ecke des Flures, als hätte er Angst vor kühlem Wind, dem seine Kleidung nicht standhalten könnte.
„Ich denke schon, mein lieber Marek“, sagte Dreiser und grinste. Er holte sein Taschenmesser heraus und betrachtete es im Glanz des Morgenlichtes.
Unruhig sah Marek abwechselnd Schneider, den das alles nicht recht zu interessieren schien und Dreiser an, der ins Leere blickte.
„Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es mich verfolgt, Marek. Schon solange ich denken kann, jagt es mich immer wieder. Alles dreht sich so um mich. Und das unglaublichste ... Ich kann mein Messer wieder in der Hand halten, ohne dass ich zittern muss.“
„Du wirst nicht lange leben, wenn sie herausbekommen, was hier abgelaufen ist“, sagte Marek. Er suchte mit hetzenden Blicken nach seiner Pistole, konnte sie aber nicht finden. Der ganze Flur war mit seinem Blut beschmiert.
Dreiser lächelte. Sein Haar hing ihm in Strähnen im Gesicht, seine Augen waren fast vollkommen verborgen. Dann strich er sie sich heraus und sah Marek lange und intensiv an.
„Weißt du, was ich an dir hasse? Es sind deine widerlichen Fingernägel! Sie sind einfach grässlich anzusehen. Kein Wunder, dass du bis jetzt kein Mädchen gefickt hast, dass dich auch nur hätte ansehen wollen... Nicht nur deine Fingernägel sind erbärmlich, du bist es und deswegen, find ich irgendwie, tue ich dir hiermit auch einen Gefallen.“
Marek wollte erst etwas erwidern, bekam den Mund aber nicht auf. Er könnte laut wie ein kleines Mädchen, das von ihrem großen Bruder erschreckt wird, schreien, dachte er einen kurzen Moment lang. Aber er ließ es, denn noch bestand die Möglichkeit, dass er aus diesem ganzen Mist lebend herauskam und fliehen konnte.
„Deine Pistole musst du nicht suchen, ich hab sie ordentlich auf den Wohnzimmertisch gelegt. Vielleicht wird die Polizei sie in einer Stunde finden, wahrscheinlich sogar... Alles, Marek, alles ist...“
Er stockte im Satz und fummelte in seinem Jackett herum und fand seine Zigaretten. Schnell zündete er sich eine an und holte tief Atem.
„Solange sie Zigaretten in der Hölle haben, ist mir einfach alles scheißegal!“
Dann rauchte er Marek lange und genüsslich ins Gesicht. Dieser musste husten und versuchte aus dem Zigarettenqualm rauszukriechen. Es gelang ihm nicht, sein Fuß durchlitt gerade Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt hatte.
„Weißt du Marek. Meine Mutter fand an mir eine Sache gar nicht gut, während meiner Kindheit. Du hast doch sicher den Struwwelpeter gelesen. Von Heinrich Hoffmann? Ich muss sagen, dass ich Märchen sehr liebe und du hättest mich damals, als Junge sehen sollen. Ich hatte sehr lange Fingernägel, manchmal waren sie länger als zehn Zentimeter. Meine Mutter sagte mir immer, ich solle sie mir abschneiden, sonst würde es der Doktor mit einem Messer machen. Aber das konnte ich einfach nicht, weil sie so unfassbar zitterten. Es hörte nicht auf, dieses Zucken. Es verfolgte mich, in den Schlaf, überall hin. Unter dem Nagel schien sich alles zu bewegen. Es war, als würden kleine Wesen darunter hausen und mich quälen.“
Dreiser zog wieder lange an seiner Zigarette und betrachtete seine Fingernägel. Sie waren fein und ordentlich geschnitten, er ging regelmäßig zur Maniküre. Aber das war nicht immer so gewesen.
„Also, um es kurz zu machen. Ich habe sie nie geschnitten, weil es einfach nicht ging. Wenn sie lange gewachsen waren und das Zittern so stark war, dann hab ich sie mir einfach herausgerissen. Alle meine Kraft nahm ich zusammen und riss. Sie brachen dann nicht etwa ab, musst du wissen. Sie rissen auch Fleisch vom Finger mit ab. Es war schrecklich. Seitlich sind die Fingernägel mit ein wenig Haut bewachsen, um ihnen eben Halt zu geben. Diese Schmerzen, dieses Blut und das lebende Fleisch und den Fingernägeln zu sehen... es war, wie sagt man nicht... prägend. An den Rändern hing noch vereinzelt etwas von dem Nagel, was ich meistens noch mit dem Messer, das ich hier in den Händen halte, herauspulte. Danach waren meine Finger für ein paar Wochen fast vollkommen nagelfrei. Und weißt du was, Marek? Es hat sich echt darunter bewegt und das blutige Fleisch starrte mich auch an, als würden meine Finger leben und zucken! Es war faszinierend anzusehen, wenn der Nagel wieder über das schimmernde, oft vereiterte Fleisch wuchs.“
Marek war weiß geworden im Gesicht. Er sah kurz zu Schneider herüber, der aber nicht mehr den Eindruck machte, als würde er noch viel mitbekommen. Er rutschte immer weiter an der Wand herunter und röchelte die Wand an. Marek wünschte sich, Schneider hätte noch die Kraft laut zu schreien und diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
„Was hast du jetzt vor, Markus?“
„Ich werde dir eine Maniküre machen, mein lieber Marek... Und zwar eine ganz spezielle, mit diesem Messer hier. Und weißt du was, es ist nur zu deinem besten. Das habe ich meiner Mutter auch damals versucht klar zu machen. Aber sie hat mir nie geglaubt. Ihre Schläge waren immer befreiend.“
Marek versuchte wieder aufzustehen. Sein Blick fiel plötzlich auf Dreisers Hosentasche.
„Markus, bleib jetzt mal ganz ruhig?“
„Hast du mich je anders erlebt“, antwortete Dreiser und kam auf Marek zu. „Ich werde dir jetzt auch noch ins andere Bein schießen, kannst dich ja schon einmal darauf einstellen.“
Schnell zog Dreiser seine Pistole und ohne langes Zögern schoss auf seinem Kollegen. Die Patrone streifte dessen Bein nur, Marek schrie dennoch laut auf.
Dann kam Dreiser mit einem Stuhl aus dem Wohnzimmer näher und sah auf Marek herunter. Er begutachtete seine Fingernägel, die fast ausnahmslos mir Blut bespritzt waren.
„Es ist so ekelhaft, Marek. Ich werde eben etwas Wasser und Seife holen müssen.“
Dreiser schüttelte den Kopf und verschwand für ein paar Sekunden. Die Wanduhr zeigte an, dass es schon fast halb Acht war. Schneiders Frau würde in einer viertel Stunde wiederkommen, Marek war sich aber nicht im Klaren, ob das für ihn positiv sein würde oder negativ. Dreiser war total wahnsinnig, er würde nicht lange fackeln und auch sie niederschießen.
„So, da bin ich wieder, mein Freund“, sagte Dreiser. In seiner Hand hielt er ein Stück Seife und einen nassen Lappen, aus dem das Wasser auf den Boden tropfte. Er ließ eine kleine Tropfspur hinter sich auf dem roten Teppich.
Marek war zu schwach, um sich zu wehren. Mit einem einzigen Griff schnappte er sich Mareks rechte Hand und schmetterte sie auf den Stuhl, den er neben ihm aufgestellt hatte. Seine Hand wurde gegen das feste Polster gepresst. Es war ein guter Holzstuhl, für den die Schneiders sicher viel Geld bezahlt hatten, schoss es Marek durch den Kopf. Kurz konnte er in die tiefblauen Augen von Dreiser sehen. Als würde er in einen Schacht sehen, dachte er, der aber niemals aufhört.
Dann wusch ihm Dreiser die einzelnen Finger. Er nahm sich für jeden ein paar Sekunden Zeit und tat fast so, als würde er die einzelnen fünf Nägel polieren. Er spürte keine Kraft in der Hand. Marek war noch viel erbärmlicher, als er immer gedacht hatte. Schon immer war ihm klar gewesen, dass dieser Mann ein Nichts war. Schon als er den Russen das erste mal gesehen hatte, damals, als sie noch Geld eingetrieben hatten, sprühte tanzender Hass in ihm auf. Diese Wampe, diese Halbglatze. Marek hatte ihm stolz erzählt, dass er noch nie eine Freundin gehabt hätte. „Er könne nicht mit Frauen“, hatte er gesagt und lachend hinzugefügt: „Außer sie zu ficken!“
Seine Geschichten, wie er schon mit jungen Jahren deutsche Frauen und Mädchen vergewaltigt hatte, hatten Dreisers Hass in die Höhe geschoben.
„So, die Finger sind jetzt sauber. Alles war ja noch okay, bevor du mir nicht meine Zigaretten gestohlen hast. Es war wirklich nicht schlimm, das ich im Auto nie rauchen durfte. Ich habe es akzeptiert, mitfühlend wie ich bin... aber das ging mir dann doch zu weit. Ich denke, du wirst es nachvollziehen können“, flüsterte Dreiser. Er kaute auf seiner Zigarette ein wenig herum, als würde sie aus Gummi bestehen.
Marek sah gar nicht hin, als Dreiser sein Messer aus der Hosentasche zog. Die rechte Hand war fast taub. Er hatte das Tuch, mit dem sie gesäubert worden war, gar nicht spüren können. Doch die linke Hand schien durchaus intakt.
„Ich schätze, das es weh tun wird, Marek. Aber es wird auch befreiend sein, glaub mir!“
Dreiser zog noch einmal an der Zigarette und spuckte den kümmerlichen Stängel in eine Ecke. Er presste den Zeigefinger feste gegen das Polster und drückte ihn so weit hoch wie es ging. Das spürte Marek und er winselte ein wenig. Doch der darauf folgenden Schmerz übertrumpfte alles, was er in seinem Leben glaubte, gefühlt zu haben.
Dreiser schob das Messer langsam in den Fingernagel hinein und ganz plötzlich stach er zu und als würde er versuchen, eine Dose aufzubrechen, drückte er die Klinge nach unten. Der Nagel brach in alle Seiten hin auf. Er war mit dem Messer fast fünf Zentimeter weit hineingedrungen.
Marek schrie, so laut, wie er das noch nie getan hatte. Doch es hörte ihn niemand, den das interessiert hätte.
„Ich weiß, es tut weh. Aber Schmerzen können herrlich sein, besonders, wenn sie plötzlich vergehen“
Mit der letzten Kraft, die Marek glaubte, in seiner rechten Hand zu haben, zog er, aber es half nichts. Dreiser hatte sich schon am nächsten, den Mittelfinger zu schaffen gemacht. Wie eben stach er über der Fingerkuppel in den Nagel hinein und bohrte so lange, bis er sehen konnte, wie das Messer im Fleisch herumsuhlte und den Nagel blutig von innen verfärbte.
Wieder drückte er das Messer nach oben und wieder explodierte der Nagel in Blut und Haut.
Marek sah nur noch eine Chance.
„Markus, ich bring dich um“, schrie er wild und warf sich plötzlich mit seinem noch gesunden Bein auf Dreiser. Dieser war vollkommen überrascht und versuchte sich an der Stuhllehne festzuhalten.
Der Stuhl kippte mit Dreiser um. Marek nutzte seine Chance und hechtete mit einem Sprung auf ihn zu. Dreiser war so überrumpelt, dass er nicht realisierte, wie ihm Marek die Pistole aus der Hosentasche fischte und in den Kopf schoss. Er war sofort tot und sackte wie ein Müllbeutel, den man nach draußen schmeißt, in sich zusammen. Marek warf noch einen kurzen Moment in sein Gesicht, die langen blutigen Haare verdeckten die blauen Augen.
Marek brauchte zwei Minuten, um wieder klar denken zu können. Er hörte sich laut atmen, konnte dieses Geräusch aber erst nicht zuordnen. In seinem Kopf schien eine kleine Maschine erst langsam wieder in Gang zu kommen. Dann warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. Gleich war es viertel vor Acht. Er wusste nicht, ob er es bis zum Auto schaffen würde, ohne zu stürzen.
Aber er wusste, dass er hier sofort weg müsste. Plötzlich hörte er leises Kichern hinter ihm. Er drehte sich um und sah die verstellte Fratze von Schneider. Sein ganzer Oberkörper war am bluten, er hatte sich den Morgenmantel ausgezogen und war bis auf die Unterhose nackt. Mit dem Arm wischte er sich über das Gesicht, als er anfing zu sprechen.
„Du hast ihn erwischt, du hast den Verrückten echt erwischt... Ich glaube, ich muss dir danken!“
Marek achtete nicht weiter auf ihn und versuchte viel mehr, sich aufs Aufstehen zu konzentrieren.
„Wie du den kalt gemacht hast... einfach... ich weiß auch nicht...“ Schneider gluckste beim Lachen, Spucke lief ihm aus dem Mund. Direkt unter seinem linken Ohr hing immer noch Rasierschaum.
Endlich schaffte er es aufzustehen und die Pistole von Dreiser an sich zu nehmen. Marek stützte sich an einer Kommode ab und humpelte zur Haustür. Sein Bein fühlte sich schrecklich an und das Blut floss immer noch warm an ihm herunter.
„Machs gut“, sagte Schneider von Boden aus.
„Machs besser“, antwortete Marek, zielte nicht lange und schoss ihm in die Schläfe. Die Kugel tauchte in den Kopf ein, wie ein einzelner Regentropfen in einen ruhigen See. Das Blut spritzte, wie zur Untermalung dieses Bildes in alle Richtungen.
Draußen empfing ihn kühler Morgenwind. Er sah auf den Boden und registrierte, wie seine vor Blut tropfenden Finger seinen Weg aufzeichneten. Er hielt seine Hand ganz weit vor sein Gesicht und begutachtete die tiefen Wunden. Es bewegte sich tatsächlich. Marek lachte und setzte sich auf die eine Stufen vor der Tür. Unter seinen Fingernägeln bewegte sich das Fleisch und es glotzte ihn an.
Immer noch den Wind im Gesicht spürend nahm er eine kleine viereckige Packung Zigaretten wahr, die keinen Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. Dreisers Zigaretten, dachte er. Sie waren ihm rausgefallen. Was für ein Arschloch. Grinsen. Ein Blatt vom nahen Ahorn flatterte an ihm vorbei, als er die Packung aufhob und sich zitternd eine der Zigaretten herausnahm. Ein Feuerzeug war auch in der Packung. Als Junge hatte er einmal geraucht und den Geschmack so widerwärtig empfunden, dass er sich nicht vorstellen hatte können, es noch einmal zu wiederholen. Aber der Anlass jetzt schien ihm einfach zu passend. Er zog lange am Filter und sah, wie seine blutigen Fingerspitzen das weiße Zigarettenpapier blutig färbten. Schmerzen können Menschen ein Leben lang verfolgen, sich in ihre Träume einnisten und da solange bleiben, bis sie durch neue Schmerzen überwunden worden sind.
“Es gibt jetzt eigentlich nur noch eines zu tun“, sagte er leise zu seinen horchenden Fingern, die ihn weiter anblickten. An der ganzen linken Hand waren noch die Nägel. Lachend ging er zurück in das Haus, setzte sich auf den Stuhl und hob gierig vor Schmerz Dreisers altes, rostiges Messer auf.
Kiel, 6.10.2005