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Solipsismus lebe
Ein nervtötender Glockenton zerstörte die Stille der Wohnung. Ich verfluchte die Welt und erhob mich. Vor der Türe stand ein Herr, der aussah, als sei er einer dieser Sektenmissionare. Mit seinem dunklen Anzug und grauem Bart, war er vielleicht auch ein Vertreter für irgendein Produkt, das so gut war, dass es im freien Handel nicht erhältlich sein konnte.
"Guten Tag. Ich kaufe nichts! Auch keine Wahrheit über Götter oder Heilige."
"Sind Sie Herr Robert Volkers?"
"Ja, aber ich ..."
Er stellte seinen Koffer ab und verbeugte sich, dann reichte er mir die Hand.
"Gestatten Sie, dass ich mich Vorstelle: Mein Name ist Dr. Georg Jungmann und ich will gewiss nichts verkaufen. Vielmehr möchte ich etwas erstehen, was Ihnen gehört."
Er zeigte mir einen beträchtlichen Stapel Geldscheine, welchen er aus der Brusttasche seines Jacketts gezogen hatte.
"Ich würde gerne einen Moment Ihrer Aufmerksamkeit kaufen. Wenn Sie mich anhören, gebe ich Ihnen das Geld."
Ich fühlte eine starke Abneigung gegen derartige Methoden, doch mit dem gezeigten Betrag wäre ich in der Lage, ...
Während sich Doktor Jungmann in einem Sessel niederließ und die Geldscheine auf den Tisch legte, setzte ich mich in das abgenutzte Sofa. Er begann seinen Vortrag:
"Sie müssen wissen, ich komme von der Gesellschaft der freien Solipsisten; Sagt Ihnen dieser Begriff etwas? Solipsismus?"
"Das habe ich schon einmal gehört, aber ..."
"Dann werde ich es für Sie erläutern. Als Solipsismus bezeichnet man eine Erkenntnistheoretische Haltung, die besagt, dass alles, was man wahrnimmt, dem eigenen Bewusstsein entstammt. Das heißt, es gibt keine reale Welt, keine anderen Menschen, all das ist nur ein Produkt der Vorstellung, Phantasie, oder wie man das auch nennen mag. Man kann sich das vorstellen wie einen Traum oder einen Film, welcher, vom Unterbewusstsein kreiert, in die Wahrnehmung hineingespiegelt wird.
Seit meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr bin ich davon überzeugt, dass der Solipsismus wahr ist. Ich habe damals sämtliche Schriften über diese philosophische Haltung regelrecht verschlungen. Dann begann ich, verschiedene Techniken der Meditation zu erlernen, um den Verlauf der Welt positiv beeinflussen zu können. Ich musste jedoch feststellen, dass eben dies nicht möglich war, was mich der Verzweiflung nahe brachte und fast dazu geführt hätte, dass ich den Solipsismus aufgab."
"Nein, wie tragisch!"
Er ignorierte meinen Kommentar völlig und sprach weiter:
"Wie eine Erleuchtung wirkte in der Folge meine Erkenntnis, dass ich selbst nichts weiter bin, als eine Figur aus dem Unterbewusstsein eines Anderen, des einzig wahren Menschen. Und ich hatte meine Aufgabe gefunden: Ich sollte diesem Menschen bewusst werden! Durch mein Wissen könnte er seine Macht nutzen, das Schicksal auf eine positive Weise zu beeinflussen. Ich gründete die Gesellschaft der freien Solipsisten, damit andere unterbewusste Figuren, welche meine Botschaft vernommen hatten, helfen können, den einzig wahren Menschen zu identifizieren. Und die schnell anwachsende Mitgliederzahl zeigte mir, dass ich auf dem richtigen Weg war."
"Eine kurze Zwischenfrage: Glauben Sie auch an Außerirdische?"
Er verzog das Gesicht.
"Ich meine ernst, was ich sage! Wir entdeckten eine verlorengegangene Schrift, die mit hoher Sicherheit von René Descartes verfasst worden war. Auf eine sehr komplexe Art und Weise verschlüsselt, wurde in diesem Text das Geheimnis gelüftet: Nach langer Arbeit erhielten wir einen Namen und eine Anschrift, die Daten des einzig wahren Menschen. Nun, ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen: Sie sind es!"
"Das ist ja ein Zufall! Bestimmt erzählen Sie das jedem, der Ihnen zuhört. – Wieso sollte ich auch nur ein Wort glauben, von dem, was Sie sagen?"
"Die Tatsache, dass ich hier bin und Ihnen eine Unsumme Geld reiche ... Finden Sie nicht, dass ich so etwas nur tun kann, weil ich – Recht habe?"
Gut, da lag echtes Geld auf dem Tisch.
"Ich versuche jetzt einmal, Sie ernst zu nehmen. Das ist doch ... Wie kann das sein? Die Welt ist doch immer da. Wenn ich schlafe - zum Beispiel - dann ist alles schwarz, oder was?"
"Nun ja, dann ruht Ihr Bewusstsein. Aber alles, was geschieht, kann ebenso von Ihrem Unterbewusstsein ausgehen. Zudem sind Sie der einzige Mensch, - Sie sind der Einzige, der etwas wahrnimmt - daher spielt es überhaupt keine Rolle, ob die Welt existiert, wenn Sie nicht hinschauen."
"Müsste ich denn nicht in der Lage sein, alles zu tun, was ich will? Warum kann ich nicht fliegen?"
"Sicherlich können Sie das. Sobald Sie daran glauben, dass Sie durch die Luft schweben, geschieht es auch. Versuchen Sie es doch einmal!"
"Ich, ... Ich kann doch sowas nicht. Das ist geht einfach nicht."
"Sie glauben, es nicht zu können. Davon müssten Sie sich lösen, dann wird es möglich."
Ich nahm das Geld vom Tisch und steckte es ein.
"Ich kann Religion nicht ausstehen. Warum gibt es überhaupt solche seltsamen Sekten in einer Welt, die ich mir nur einbilde? Hat mein Unterbewusstsein so einen schlechten Geschmack?"
"Wir versuchen doch nur zu helfen! Wir wollen, dass Ihnen viele Dinge bewusst werden. Dann können Sie die Welt verbessern, ohne die geringste Anstrengung."
"Im Moment genügt es mir völlig, wenn Sie hier etwas verbessern – nämlich meinen Kontostand. Wissen Sie, ich bin ein armer Angestellter: Da kann das Schicksal des Universums wohl einmal hinten anstehn."
"Ich bedaure zu hören, dass Sie mich nicht ernst nehmen. Überdenken Sie bitte, was ich Ihnen heute erzählt habe. Hier, das ist meine Karte. Falls Sie uns besuchen kommen, um vielleicht die Meditation zu erlernen, würden wir Sie auch dafür finanziell entlohnen. Geld spielt für uns keine Rolle, wie Sie sicherlich verstehen können."
Ich enthielt mich weiterer Äußerungen und brachte diesen Clown an die Tür.
Beim Weggehen ließ Doktor Sonstwie den Kopf hängen, als sei er tatsächlich enttäuscht. Ich wollte gerade die Haustüre schließen, da hörte ich ein lautes Surren, das von der Straße zu kommen schien. Der Doktor versuchte in Panik vor der fliegenden Untertasse wegzurennen, welche über ihm schwebte. Das UFO sah genauso aus, wie ich es mir immer vorgestellt hatte: Es sog den Sektenvorsteher in einem silbrigen Lichtstrahl in sich hinein. Dann flog es die Straße entlang und war nicht mehr zu sehen.
Es passierten schon seltsame Dinge. Vielleicht glaubte mein Bewusstsein einfach lieber an Außerirdische, als an Sekten mit einer ungewöhnlichen Botschaft. Vielleicht hätte ich auch einfach nicht vorgeben sollen, ich verstünde die Theorie des Professors nicht. Aber ich tat es doch nur aus Mitleid, denn ich fürchtete die Reaktion meines Unterbewusstseins, welches bisweilen fühlte wie ein Kind und auch gewalttätig werden konnte: Ich hätte wissen müssen, dass es niemals in der Lage wäre, zu dulden, dass eine lächerliche, unwahre Figur das Wesen der Welt begriffen hatte.