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Sommerfrost
Der Garten verschwindet im Schwarz. Nur die Bäume zeichnen sich gegen den Himmel ab. Laue Abendluft fließt durch das offene Fenster über den Schreibtisch, vermischt sich mit der Abwärme des Laptops.
Elisa arbeitet im Licht des Bildschirms, um keine Motten anzulocken.
Als sie den Schlüssel in der Tür hört, streift sie die Decke ab, steht auf und blinzelt in das Flurlicht.
Nora zieht ihre Schuhe aus. „Tut mir leid.“ Sie stellt sich vor Elisa, streicht ihr eine Strähne hinters Ohr. „Kommt nicht wieder vor.“
Noras Atem riecht nach Kaffee und Schokolade. Wie zwei Puzzleteile schmiegen sich ihre Körper aneinander, Haut an Stoff an Haut.
Ein Stich durchfährt Elisas Brust, Gänsehaut kriecht über ihren Rücken. Sie presst sich noch fester gegen Nora, würde in sie hineinkriechen, wenn sie könnte. Die stolpert lachend zurück. „Du glühst ja!“
Nora geht in die Küche, macht das Licht an. Ihre nackten Füße erzeugen bei jedem Schritt ein leises Geräusch auf den Fliesen. „Hast du schon wieder nichts gegessen? Du sollst doch nicht auf mich warten.“
Elisa liegt noch im Bett, als Nora leise das Haus verlässt. Früher ging sie nie ohne Abschiedskuss.
Die Brust schmerzt, auf der linken Seite kann sie nicht mehr liegen.
Sie zieht den flauschigen Bademantel über und geht auf die Terrasse. Das Gras knistert in den ersten Sonnenstrahlen.
Das Vogelhäuschen steht immer noch draußen. Erst war es noch zu früh, es reinzuholen, dann lohnte es sich nicht mehr.
Die Scharniere der Hollywoodschaukel quietschen leise, als Elisa sich setzt. Sie zieht den Bademantel fester um sich.
Alles in Ordnung, sagte der Arzt. Machen Sie sich keine Sorgen. Ernähren Sie sich gesund.
„Siehst du, ich sag doch, du isst zu wenig“, sagte Nora. „Ich will ja nicht mit einem Skelett schlafen.“ Sie lachte.
Elisa keucht und schüttelt den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.
Regen rinnt in Strömen an der Fensterscheibe hinab. Der steinharte Boden kann das Wasser nicht aufnehmen, kleine Bäche tragen das Laub fort.
Elisa sitzt mit einem Tee auf der Couch. Eine zweite Tasse steht dampfend auf dem Wohnzimmertisch.
„Sorry, ich hab grad nicht die Ruhe. Muss noch packen. Morgen geht’s früh los“, sagt Nora.
Elisa schaut in ihren Tee, der Beutel ist zerrissen und braune Pflanzenteile schwimmen im Wasser.
Vom Flur aus ruft Nora: „Hab ich dir doch erzählt, oder? Ich flieg übers Wochenende nach Barcelona. Mit Jenny und Ralf.“
Elisa wischt die Tränen weg, sie will nicht schon wieder vor Nora weinen.
„Doch. Bestimmt hab ich dir das erzählt.“
Elisa steht am Wohnzimmerfenster und schaut in den Garten. Die Bäume sind dieses Jahr spät braun geworden.
Eine Blaumeise klammert sich an die schwankenden Äste der Magnolie, kämpft mit dem Wind.
„Willst du denn gar nichts dazu sagen?“, schreit Nora.
Elisas Kiefermuskeln sind hart wie Stein. Selbst wenn sie wüsste, was sie sagen sollte, wäre es ihr unmöglich, die Worte zu formulieren.
„Schau mich wenigstens an, verdammt.“
In der Scheibe sieht Elisa, wie Nora sich durch die Haare, durchs Gesicht fährt, sich auf die Couch fallen lässt und sagt: „Es geht einfach nicht mehr. Tut mir leid.“
Während Nora ihre Sachen packt, beschließt die Meise, den Flug zu wagen. Die Krallen lösen sich, eine Windböe erfasst den kleinen Vogel und wirbelt ihn außer Sicht.
Elisa seufzt und hat plötzlich furchtbare Angst, nicht wieder einatmen zu können, so eng liegt der Metallring um ihre Brust. Andererseits ist sie sich sicher, dass er das Einzige ist, das ihr Herz noch zusammenhält.
Der Wind treibt den Schnee durch den Garten und bauscht die Federn. Graublau tauchen sie auf aus dem Weiß und winken Elisa zu.
Sie hat vergessen, Futter in das Vogelhäuschen zu füllen.
Das Atmen fällt ihr schwer, sie öffnet die Terrassentür, stolpert hinaus. Die Kälte sticht durch die Socken.
Elisa fällt auf die Knie, nimmt die Blaumeise in die Hand. Der kleine Körper zittert mit ihr und ein Knopfauge starrt Elisa wissend an.
Sie ist schuld.
Der Tod dringt aus dem Vogel in Elisas Hände, kriecht die Arme hinauf. Sie lässt ihn fallen, aber es ist zu spät. Die taube Kälte erreicht ihre Brust, verschmilzt mit dem Schmerz, der dort schon seit Monaten wuchert. Sie spürt den Metallring spröde werden, ihn knacken und reißen.
Und für einen Moment kann Elisa wieder frei atmen.