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Sommernacht
Sommernacht
„Warum bleibst du hier?“, fragt er.
Raul sitzt am Küchentisch und trommelt nervös mit den Fingern seine Ungeduld in das abgenutzte Holz.
„Warum besuchst du mich ständig?“, weicht sie seiner Frage aus.
Sandra wärmt am Herd ein Fertiggericht auf.
Behäbig rührt sie die Linsen im Topf, dessen Blubbern die künstliche Stille zwischen Sandra und Raul verrät.
Gehörte Stille, die durch Raul aufgeschreckt wird und sich verflüchtigt.
„Weil du hier bist und ich es nicht verstehen kann“, bohrt er Löcher in das Holz.
Sandra wirft ihren Kopf in den Nacken, strafft die Schultern, als solle es nicht nur ihn besänftigen.
„Du musst es auch nicht verstehen“, sagt sie.
Er sieht sie an. Sieht ihren Missmut. Ihre Verärgerung steht als steile Falte gemeißelt in einem grauen Gesicht.
„Sandra, was willst du in dieser Einöde und in diesem Loch", sagt er.
Weist mit der Hand aus dem Fenster der Fischerhütte. Das Holz ist stark verwittert und benötigt einen neuen Anstrich.
„Mir gefällt es hier, alles ist so klar. Und niemand stört mich.“
Die Hütte steht auf einem Felsen, der steil in den Fjord hinein abfällt. Die meisten Menschen sind fort gezogen, da es für sie hier keine Zukunft mehr gibt. So stehen die benachbarten Häuser leer.
Häuser, die zerfallen: blinde Fenster verhüllen die Schwärze darin.
„Möchtest du etwas mitessen?“
Sie geht zum Küchenschrank und entnimmt ihm zwei Teller und Löffel, dreht sich um, will ihm sagen: „Bleib bitte.“
Zwei Worte, die ihr viel bedeuten, die ihn aber nicht erreichen: Raul sitzt nicht mehr am Tisch.
Er ist ohne ein weiteres Wort gegangen.
Sie deckt den Tisch dennoch für zwei Personen. Deckt ihn für alle Fälle. Manchmal kommt er zurück. Sie hat sonst niemanden hier, der mit ihr gemeinsam isst.
Als sie kurze Zeit später den Eintopf löffelt, kommt er zurück. Schweigend betrachtet er sie, wie sie das Essen hinunterschluckt. Sie schiebt es gleichgültig in den Mund, würgt daran, wie in Zeitlupe.
Er schüttelt seinen Kopf.
„Wie du aussiehst?“, sagt er.
Sandra spürt ihre Krallen ausfahren. Katzenkrallen wachsen aus ihren Fingern. Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen faucht sie ihn an: „Und wenn schon!“
Sie kontert mit vollem Mund. Den Speisebrei ausspuckend: „Es kann dir egal sein!“
Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen, reibt ihre Hand an der Hose sauber.
Dann nimmt sie einen großen Schluck aus der Weinflasche, setzt ein süßliches Lächeln auf, schnurrt: „Entschuldige bitte, dass ich dir keinen Wein anbiete. Ich habe keine Gläser.“
Sie lacht. Lacht, ohne Gefallen daran zu finden. Herb ist es. Wie der Wein, der immer und immer wieder durch ihre Kehle rinnt. Sie stiert vor sich hin, sagt: „Früher haben wir ein Glas mit Freunden getrunken.“
Sie ist rot im Gesicht. Die Haare kleben in filzigen Strähnen an ihrer Kopfhaut.
„Wie kannst du nur so sein?“
Seine Worte sind leise, bittend.
Sie bleibt hart, will sich nicht erweichen lassen.
„Keine Freunde, keine Gläser!“, knurrt sie mit ihrer Katzenstimme.
Eine Stimme, die nichts mehr erdulden möchte. Die warnt.
Aber Raul fährt unbeirrt fort.
Einen Tiefschlag in die Magengrube will er ihr versetzen.
Sie soll aufwachen. Morgens aufstehen und wissen: Es ist ein schöner Tag, heute. Es sind die wirklichen Dinge, die das Leben bestimmen. Sie sind nicht verschwunden.
Auch wenn es nicht so aussieht: Es gibt sie, die Normalität.
„Das ist nicht komisch. Sieh dich doch mal an. Du lässt dich gehen. Hast du es immer noch nicht begriffen, in deinem Katzenjammer?“
Seine Stimme bröselt ihm weg.
Sandra hört die Hand, die er ihr reicht. Sie kann sie nicht sehen. Fühlt sie mehr, als dass sie die Hand fest anpacken kann.
Es ist, als ob jemand ein Licht in ihr anschaltet, damit sie besser sehen kann. Erst wird alles klarer. Doch dann wird es wieder eng in ihrem Kopf.
Sie legt ihren Schutzpanzer an. Kann ihren Zorn selbst nicht verstehen.
„Das geht dich nichts mehr an“, sagt sie zu ihm.
Sie nimmt noch einen Schluck.
Prüft den Pegel.
Die Flasche ist fast leer. Der Geist daraus, hüllt sie fest ein. Gibt ihr, was sie braucht. Vergessen.
Sie schwankt ins Bett, rollt sich zusammen und schläft.
Träumt von Wasser.
Eine hohe Brandung läuft auf einen Sandstrand an. Die Wellen spülen den Sand fort, verkleinern das Eiland auf dem sie steht. Erst als die Gischt an ihr hoch spritzt, sieht sie nach unten. Ihre Füße stecken fest.
Sie steckt nicht im Sand: Es sind Hände, die sie halten. Sandra denkt im Traum: Es sind Rauls Hände.
Sandwürmer kriechen an ihr hoch. Finden an ihr Körperöffnungen, um sich vor der Flut zu retten. Ergreifen von ihrem Körper Besitz. Höhlen sie aus.
Rauls Hände versuchen die Würmer zurückzuhalten. Aber es gelingt nicht: Es sind zu viele.
Sie spürt ihren schleichenden Tod. Die tote Sandra schreit.
Schreit in ihrem Bett. Sitzt auf schmutzigen Laken. Erbrochenes verbreitet säuerlichen Gestank.
Sie zittert, betastet ihr Gesicht, ihren Hals. Die Hände gleiten zur Brust, bleiben dort, verharren.
Ihr ist, als sei sie in einem luftleeren Raum. Sie kann ihren Atem nicht fühlen. Fühlt nur Verzweiflung je schneller sie Luft holt. Schweiß dringt aus den Poren ihrer Haut. Er gleicht einem Film, den man riechen kann.
Sandra springt aus dem Bett, als ihr Magen sich umstülpen will.
Sie erbricht sich heftig. Kann nichts dagegen tun. Jede Zelle ihres Körpers wehrt sich.
Doch es muss heraus: das Gift.
Endlich hat sie die Rebellion ihres Körpers überwinden können. Zitternd wischt sie den Mund mit Klopapier ab.
„Das geschieht dir recht“, hört sie plötzlich.
Sie hört es mit ihren Katzenohren. Die sich aufstellen und der Stimme Rauls aus der Küche lauschen.
Die Katze in Sandra kraust die Nase, wittert einen Feind.
Sie ist sprungbereit. Und neugierig.
Sie schleicht sich in die Küche.
„Du bist immer noch da? Mein Gott bist du hartnäckig. Deine Häme kannst du dir sparen. Mir geht es schon schlecht genug“, sagt sie mit ihrer Katzenstimme.
Raul antwortet nicht. Oft genug hat er sich die Nase gestoßen, wenn sie sich aneinander gerieben haben. Warum sollte er ihr Fell glätten, wenn es sich doch so dagegen sträubt?
Sie zieht die zerdrückten Kleider aus und geht nach draußen. Hinter dem Haus befindet sich eine provisorische Dusche. Das kalte Regenwasser ergießt sich in einem Schwall. Trifft sie unvermittelt, gleich einem Schlag ins Gesicht, der sie vor Empörung japsen lässt.
Sie ist wie ein Kind, wütend, weil die Mutter sie mit der Dusche überrumpelt hat. Ohne Vorwarnung auf den kalten Schrecken.
Sie schließt die Augen, sieht ihre Mutter, die sie abfrottiert. Die Haut rubbelt, bis sie rot wird. Ganz warm wird ihr.
„Du bist alt genug“, wird ihre Mutter irgendwann später sagen, „dich selbst abzutrocknen“.
Die Mutter muss arbeiten, den Dorsch zum Trocknen aufhängen.
Sandra hat den Dorsch nie gemocht. Sein Geruch hing in der Luft.
Eine Luft, die sonst so klar schien, wenn die hellen Sommernächte die Zeit vergessen ließen.
Sommernächte, in denen die springenden Lachse Zuschauer haben.
Sandra und Raul stehen auf der Brücke. Die glitschigen Leiber spiegeln die rötliche Mitternachtssonne. Sandra fühlt sich wohl neben Raul.
Raul streichelt Sandras Haut. Kühl ist sie.
Er küsst die Kuhle zwischen ihren Brüsten. Er begehrt Sandra, er mag sie. Was ihn wochenlang umtrieben hat, es geschieht. Endlich und unerwartet.
Sie mag es auch. Seine Art sie zu bewundern, ihr zu bestätigen wie schön sie sei, prickelt als Schauer vom Kopf bis zum Fuß.
Der Dorsch stinkt weniger, seit sie weiß, er will Fischer werden.
Als er sie bittet zu heiraten, sagt sie ja.
Bleibt in diesem Dorf, an dem die neue Welt vorbeizieht, ohne Spuren zu hinterlassen.
Sandra trocknet sich lustlos mit dem Handtuch ab. Ihr Kopf dröhnt noch, wenn sie ihn senkt, aber: wenigstens ist ihr nicht mehr schlecht.
Sie weiß, Raul hat Recht. Sie lässt sich gehen.
Sie treibt auf einer Scholle im Nirgendwo. Ist auf dieser Insel gelandet. Hat dort die Übersicht verloren. Im warmen, weichen Sandstrand.
Dort, wo der Frieden trügerisch ist. Das Meer ihre Füße umspült. In dem sie ertrinkt.
Diese Erkenntnis bringt ihr die erste Vernunft. Doch wie geht es weiter? Warum kämpfen, wenn der Tod jedem Menschen vorher bestimmt ist?
Sie hat es doch gesehen und Raul kennt es auch.
Damals, als der Fisch nicht mehr geschwärmt hat. Die Boote im Hafen geblieben sind. Der Trockenfisch zur Vergangenheit wurde.
Sie haben ihre Netze geflickt. Haben auf Regenströme gestarrt. Eine Sonne färbte die Luft in goldene Streifen, spiegelte sich auf dem Meer, wie eine Verheißung.
Zuerst sind nur die Jungen gegangen. Die Alten sind geblieben, haben etwas gemurmelt: über die guten Zeiten.
Und sie? Sie waren jung und sind trotzdem geblieben.
Sandra sieht ihren Raul in der Hütte. Seine Zuversicht. Seine Liebe zum Dorsch.
Sie bleibt bei ihm.
Bis zum bitteren Ende. Das Risiko, den Fisch zu fangen wird immer größer. Immer weiter müssen die Boote hinaus. Kleine bunte Flecken müssen den Horizont überwinden.
Wie kann er von ihr verlangen, von hier fort zu gehen? Sie spürt, wie ihr Katzenfell sich sträubt
Es ist doch noch alles, was ihr geblieben ist.
Das Dorf mit seinen Häusern. Der Friedhof mit seiner Stabkirche. Alles windschief, vertraut.
Vorsichtig sieht sie nach, ob Raul noch da ist. Er sitzt tatsächlich immer noch am Küchentisch. Blass, spitz im Gesicht. Sein Anblick rührt sie. Weckt etwas.
Ihre Sehnsucht brennt. Brennt verzehrend.
Sie liegen im Gras.
Er küsst sie.
Seine Zunge, gierig, in ihrem Mund.
Seine Finger, allwissend, entblößen ihre Brüste.
Die eine Hand umfasste ihr Gesäß, die andere spreizt ihre Beine.
Sie schaudert. Sieht die rötliche Sonne.
Beißt sich auf die Lippen, um nicht zu schreien.
Bietet sich ihm dar, sucht sein Geschlecht.
Das Gesicht, so vertraut wie auch fremd.
Sein Körper versteht den ihren.
Sie reiben sich aneinander.
Die Lachse. Sie springen.
Sind zu sehen und doch nicht wirklich.
Sie spürt seinen Gipfel. Seine Lust durchzieht sie.
Die Grashalme stechen ihr in den Rücken.
Aber das machte nichts. Sie keucht, bebt ein wenig unter ihm. Wunderschön ist es.
Unaufhaltsam. Endlos. Zeitlos.
Er lässt sein Leben auf See.
Der Griff zur Flasche. Der gierige Schluck.
Ihre Haut ersehnt sich Berührung. Will angefasst werden.
Raul sitzt am Küchentisch und trommelt nervös mit den Fingern seine Ungeduld in das abgenutzte Holz.
Ist, der sie hören soll.
Ist, der sie fragt: „Sandra, warum bleibst du hier?
„Ich kann nicht anders, Raul“, antwortet sie. Am Herd stehend. Sieht dabei in seine Richtung.
Sein blondes Haar reflektiert die Morgensonne als goldenen Schimmer. Wie weich es doch ist. Seine blassen Lippen zittern. Sie will ihn berühren mit sanften Katzenpfoten.
Will ihm sagen:„ Ich weiß nicht, was mich hier zurückhält. Außer, die Zeit vergeht als solche von mir unbemerkt, oder sie vergeht gleichförmig unendlich und ohne mein Zutun.“
Sie kann nicht sprechen. Sieht durch das Fenster aufs Meer.
„Seine Liebe zum Dorsch hat ihn getötet“, sagt Sandra, nun nicht mehr stumm doch mehr zu sich selbst. Weint, weil ihre Liebe zu wenig gewesen ist.
Er sagt:„Mein Gefühl sagt mir, wenn ich nach dem warum der Zeit frage, bin ich nicht mehr in ihr. Ich erlebe sie nicht, sie baut sich vor mir auf, verlangt Erklärung, warum sie vergeht.“
Sie geht auf Raul zu, sucht Halt.
Ihre Hand greift ins Leere, spürt keinen Widerstand.
Rauls Konturen verschwimmen im Gegenlicht.
Sie sieht seine Gestalt verblassen. Wie auf einem Foto, das die Zeit vergilbt. Sandra lächelt. Versteht.
Die Fensterläden klappern, als der Wind am Nachmittag auffrischt. Die Tür quietscht in den Angeln. Die baufällige Hütte duckt sich unter tiefen Wolken, die von Böen zerfetzt werden. Am Küchentisch sitzt niemand mehr, der ein Linsengericht isst.
Die Sonne scheint auf blinde Scheiben, schwärzt dahinter die Leere einer Fischerhütte auf einem Felsen, der steil in den Fjord hinein abfällt. Die Kreuze auf dem Friedhof erscheinen windschiefer. Sandra zieht es hinaus. Sie geht den steilen Weg am Fjord entlang. Ihre Schritte werden immer schneller, fröhlich hüpfend. Es scheint, sie will davon springen.
Springt zurück in die Zeit.