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Sonne, Mond und Sterne
“Als Kind dachte ich, ich sei unsterblich.
Die Vorstellung war großartig. Ich konnte tun und machen was ich wollte und nichts konnte mir schaden. Absolut nichts konnte mir schaden.
Ja, das war wirklich großartig.”
Er sah den Blick seiner Schwester gen Himmel gerichtet.
“Weißt du eigentlich, wie viele Sterne es im Universum gibt, Rosiel?
“Hm… vier Milliarden?”
Tino lachte.
“Nein! Es gibt viel mehr! Es gibt unzählige!”
Rosiel starrte in den dunklen Himmel.
“Aber wo sind die denn dann alle?”
Tinos Blick wanderte auch nach oben. Sein Gesichtsausdruck nahm fragende Züge an.
“Also… versteckt, denke ich. Die verstecken sich vor dem Mond. Der frisst die sonst nämlich alle auf!”
Das kleine Mädchen lachte ihren großen Bruder an. Ihre langen braunen Haare schüttelten sich von ihren Schultern.
“Und warum kommen sie denn dann nicht tagsüber aus ihrem Versteck?”
Tino stand auf und streckte sich. Irgendwas knackste.
“Ist doch klar, dann würde die Sonne sie ja verputzen.”
Das kleine Mädchen lächelte. Stolz.
Tino und Rosiel waren Leichenfledderer. Sie warteten ab, bis die Explosionen und der Kugelhagel vorbeigezogen waren und nahmen sich dann das Hab und Gut derjenigen, die es selbst nicht mehr benötigten.
Manchmal hatten sie Glück und fanden Geld oder nicht verbrauchte Rationen der Soldaten. Eingelegtes und trockenes hartes Brot. Dazu irgendeine rote Paste, die keiner der beiden richtig definieren konnte. Diese schmeckte jedenfalls scharf. Zu scharf für Rosiel. Sie probierte sie jedes Mal aufs neue und jedes Mal spuckte sie das ins Rot getunkte Brotstück wieder aus. Darüber amüsierte sich Tino köstlich.
Oft fanden die beiden Fotos oder Briefe. Nachrichten der Familien an die Geliebten in der Schlacht.
“Bis bald” und “Pass auf dich auf”, Sätze die die Beiden oft zum Weinen brachten. Sie weinten zwischen Leichen, Patronenhülsen, Kratern und Blut.
Einst zeigte ein Bild eine alte Frau und ein kleines Mädchen. Beide lächelten traurig in die Kamera.
Sie machten einen schlechten Job darin, dem Sohn und Vater die heile Welt vorzuspielen. Er käme sowieso nie zurück. Tino trug seine Schuhe. Rosiel trug sein Kopftuch.
Irgendein Tag in der Woche. Irgendeine Woche im Monat. Irgendein Monat im Jahr. Das siebzehnte Jahr im Leben von Tino. Die Geschwister wanderten durch die leere Einöde. Der Horizont war weiß.
Der Horizont war weit. Er wirkte, wie mit einem Lineal gezogen.
Es wurde kälter, bald würden eisige Flächen und Schnee das Gebiet noch lebensfeindlicher machen. Bis dahin mussten die Beiden mehr in die Mitte des Landes gekommen sein. Dort wo es auch noch zu dieser Zeit Sonne geben würde. Wenigstens etwas Sonne.
“Ich hab Durst, wie viel Wasser haben wir noch, Tino?”
Tino ließ, beim Gehen, den Rucksack von der Schulter gleiten und durchsuchte das Innere.
“Zwei Liter voll und zwei zur Hälfte ausgetrunken. Warum haben wir eigentlich zwei Flaschen auf einmal aufgemacht?”
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern und hüpfte über einen kleinen Sandhaufen.
Er reichte ihr eine der angebrochenen Wasserflaschen und sie nahm sogleich gierig einen großen Schluck daraus.
Ihre Kehle empfing das Wasser freudig.
“Ah, danke!”
Ihre Augen leuchteten auf.
Tino genoss es, seine kleine Schwester so zu sehen. Lebensfroh. Nicht verrottet. Nicht tot, wie alles andere, dass er immer sah. Er beobachtete seine lebendige kleine Schwester und genoss es.
Der ruhige Moment wurde schlagartig von einem pfeifenden Geräusch unterbrochen. Etwas schoss an Rosiels Wange vorbei. Hinter dem Geschwisterpaar zerplatzte der Boden.
“Vorsicht Rosiel!”, schrie der Junge und griff nach der kleinen Hand seiner Schwester.
Die Beiden waren den mordenden Horden ausgeliefert. Das weite Land bot keinerlei Deckung für zwei Kinderkörper. Tino blickte hastig von links nach rechts. Er konnte eine Gruppe Menschen einige hundert Meter vor sich marschieren sehen. Diese setzten erneut an. Gleich würden sie ein zweites Mal schießen.
“Runter!”, brüllte er und drückte den Kopf seiner Schwester grob zu Boden. Wieder pfiff es laut in der Luft.
Das Mädchen zitterte vor Angst und auch der große Bruder wusste sich nicht zu helfen. Die Truppen der Regierung marschierten auf sie zu.
Vielleicht hielten sie die Beiden für Freiheitskämpfer, vielleicht wussten sie auch ganz genau, auf wen sie da schossen. Es war egal, gleich würden sie hier sein.
Tino drückte seine Schwester an sich. Er spürte ihre Angst. Sie spürte die seine ebenfalls.
“Mü… müssen wir jetzt sterben, großer Bruder?”, fragte sie zitternd.
Er hielt sie fester.
“Mach dir keine Sorgen. Wir sind unsterblich. Uns kann nichts geschehen!”
Die Beiden schlossen die Augen und hielten die Luft an.
“Uns kann nichts passieren”, flüsterte er.
Die beiden Kinder lagen auf dem harten Boden.
“Da, guck! Der Stern da leuchtet!”, rief Rosiel freudig aus.
Ihr Bruder blickte verschlafen in das große, dunkle Nichts über ihnen.
Seine Hände hatte er hinterm Kopf verschränkt.
“Hm? Das bedeutet, dass wieder jemand gestorben ist”, murmelte er.
Die Augen der kleinen Schwester weiteten sich.
“Was?”
Er drehte seinen Kopf vom Himmel zu ihr.
“Jedesmal, wenn jemand stirbt, wird er als Stern wiedergeboren. Wusstest du das nicht?”
Sie schüttelte energisch den Kopf.
“Ja, das ist aber so.”
Tino drehte sich auf die Seite und versuchte wieder einzuschlafen.
Rosiel starrte den Rücken ihres Bruders einige Sekunden an.
“Ich will aber kein Stern sein! Ich will mich nicht immer verstecken. Ich will nicht immer Angst haben, gefressen zu werden!”
Ihre Stimme zitterte. Ihre Augen glänzten. Tränen.
Ohne sich umzudrehen, sagte der Bruder ruhig: “Mach dir keine Sorgen, Rosiel. Uns passiert das nicht. Wir Beide sind unsterblich.”
Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
“Wir Beide sind unsterblich?”, wiederholte sie ihn fragend.
“Ja... schlaf jetzt Rosiel.”