- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 4
Sonnenuntergang am Morgen
Sonnenuntergang am Morgen
written and composed by Christian Mayr and…well…Nirvana
Ich fühle mich wie so ein halluzinierender Tourist, der sich in so einer scheiß Wüste verlaufen hat, während Aasgeier über den kriechenden Schatten seiner Selbst kreisen, der kurz vorm Krepieren steht, da ihm das scheiß Wasser ausgeht…Wasser…Wasser! Muss ich vielleicht dringend pissen! Aber zum Aufstehen lieg ich zu gut auf dieser…dieser…Unterlage? Zumindest ist sie weich. Und nicht feucht oder dergleichen. Daraus folgere ich, dass ich vor wenigen Stunden woanders hingekotzt habe. Mit letzter Sicherheit weiß das freilich keiner. Oh und - übrigens - hallo, Realität!
Ein Nachteil dieses langsamen, qualvollen und erzwungenen Aufwachprozesses (Danke, scheiß Blase!) ist sicherlich die Tatsache, unvorbereitet wieder mit der echten Welt in Kontakt treten zu müssen. Kein Verweilen mehr in den schönen Scheinwelten, die sich in den halbvergessenen Träumen der Nacht zuvor gebildet haben. Nein. Stattdessen blendet dieser hässliche Todfeind namens Realität meinen noch in den chaotischen Wellen des Vergessens schwimmenden Verstand mit gleißendhellem Licht und überrumpelt ihn mit einer Vielzahl von Fragen.
Realität: „Wo zum Teufel bin ich?“
Verstand: „Keine Ahnung.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen.“
Realität: „Wo zur Hölle liege ich?“
Verstand: „Keine Ahnung.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen.“
Kommissar Realität scheitert erbarmungslos mit seiner Fragerei. Liegt wohl daran, dass ich mich noch nicht überwunden habe die Augen zu öffnen. Und übrigens ist mir scheißkalt. Naja. Wenigstens nicht so scheißkalt, wie wenn ich irgendwo im Freien läge. Immerhin etwas Positives.
Zum endgültigen Seelenheil steht mir jedoch noch immer dieses penetrante Gefühl von DA UNTEN im Weg. Scheiß Harndrang. Aufstehen will ich nicht...also…vielleicht einfach laufen lassen? Ich meine, dann wäre es wenigstens irgendwo warm. Und mir wäre nicht mehr so scheißkalt. Aber andrerseits wäre dann alles feucht. Hach, immer diese vielen Entscheidungen, die ich treffen muss, die ich JETZT treffen muss. Was soll der Scheiß? Kann nicht einfach irgendjemand anders entscheiden, ob ich mich jetzt bepissen soll oder nicht?
Ich, ich, ich. Was ist mit den anderen? Mit Bernhard? Und Lisa? Die waren letzte Nacht so plötzlich verschwunden. Genau wie Karl. Und diese eine Dänin, deren Namen ich vergessen habe. Vielleicht waren sie ja noch da und vielleicht hab ich dann vergessen, dass sie da sind und vielleicht hab ich mir dann gedacht, dass sie weg sind oder so.
Kaum setzt man seine Denkweise weg von sich selbst, offenbaren sich für Kommissar Realität neue Fragemöglichkeiten, um meinen Verstand mit weiteren Fragen bezüglich des gestrigen Verbrechens an meinem Geiste zu quälen.
Realität: „Wo zum Teufel bin ich?“
Verstand: „In Dänemark. Mit Bernhard. Und Lisa. Und Karl. Und dieser einen Dänin.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen. Und mir ist scheißkalt. Und jetzt muss ich wirklich pissen gehen.“
Realität: „Wo zur Hölle liege ich?“
Verstand: „In Dänemark. Ohne Bernhard. Ohne Lisa. Ohne Karl. Und leider ohne dieser einen Dänin.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen. Und pissen gehen. JETZT!!!“
Ich MUSS JETZT aufstehen. Länger kann ich es wirklich nicht mehr zurückhalten. Einen Vorteil hat das Ganze: Sobald ich meine Augen geöffnet habe, wird die Realität ihr Verhör beenden müssen. Die Aufgaben vom nunmehr außer Betrieb gegangenen Tatzeugen Verstand werden vom Kollegen Optik übernommen. Was sehe ich? Anfangs nicht viel. Dann schon langsam mehr. Meine Augen müssen sich erst an das helle Licht hier gewöhnen. Ich sehe Bretter. Vorne Bretter. Hinten Bretter. Oben Bretter. Überall Bretter. Das ist irgendein Holzschuppen. Keine Menschenseele weit und breit. Wie bin ich hier bloß gelandet? Wo bin ich hier gelandet? Irgendwie unheimlich. Doch in meinem angeborenen Optimismus werden all diese störrischen Gedanken der beklemmenden Einsamkeit schnell beiseite geschoben. Immerhin…
Teilerfolg 1: Ich kann sehen!
Ich stehe auf. Das Stehen fällt mir schwer. Mein Gleichgewichtssinn scheint noch nicht sehr ausgeprägt, da ich wie ein Boot in größter Seenot bedrohlich hin und her schwanke. Doch nach einigen Sekunden hat sich die Lage halbwegs stabilisiert, das Meer beruhigt. Und…
Teilerfolg 2: Ich kann stehen!
Ich will gar nicht riskieren, mich durch langsames Bewegen meiner Beine in den Zustand des Gehens zu versetzen. Zumindest jetzt noch nicht. Erst wenn ich mich dazu gezwungen fühle. Immerhin könnte ich stürzen und mich verletzen und niemand wäre hier, um Hilfe zu holen und das wäre mir dann alles auch noch irgendwie egal, da mein Körper noch in verwesender Schmerzunempfindlichkeit vor sich hin fault. Und…und…und…und - Verdammte Scheiße! ICH MUSS PISSEN!!! JETZT!!!
Also hol ich ihn raus und lass es laufen. Und während der Erdboden (Wo zum Teufel bin ich hier WIRKLICH??? Das ist ja irgendwo in der scheiß Wildnis!) mit meinen Ausscheidungen gedüngt wird, versuche ich - Sehkraft sei Dank! - all das hier mal genauer abzuscannen. Die ganzen Bretter hier sind ja nichts Neues mehr. Ebenso der Erdboden. Sonst nichts. Nichts??? Wo zum Teufel ist mein Rucksack? Welcher Arsch hat meinen Rucksack mit den Sachen? Gestern war der noch bei mir. Auch als Bernhard, Lisa, Karl und diese eine Dänin weg waren. Jemand muss ihn gestohlen haben! Oder ich hab ihn einfach irgendwo verloren. Verdammt!
Ich will gerade weiter innerlich vor mich hin fluchen, als mir auffällt, dass mein kleiner Freund die Operation Bodendüngung erfolgreich beendet hat. Also beordere ich den Soldaten nach abgeschlossener Mission von der Front wieder zurück an die Basis. Doch im Gegensatz zu seinem rasch verlangten Kriegseinsatz kann er sich diesmal Zeit lassen. Und ich bemerke, dass ich nur dieses total versiffte Kleidungsstück, in ihrer Blütezeit als Jeans bekannt, trage. Was ist mit meinem T-Shirt passiert? Und mit meiner Jacke? Gestern waren die auch noch bei mir. Hab ich die etwa auch verloren? So wie ich Bernhard, Lisa, Karl und diese eine Dänin verloren habe? Toll. Jetzt steh ich hier halbnackt und alleine rum. Immerhin wurde die Primärmission „Pissen gehen!“ erfolgreich ausgeführt, während die Erfüllung des Einsatzzieles „Weiterschlafen!“ durch die aufgedeckten Konflikte „Es ist scheißkalt!“ und „Meine Sachen sind weg!“ auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Zumindest bis Kommissar Realität seine Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen hat.
Ich versuche mich an gestern zu erinnern. Doch die Erinnerung reißt abrupt an einem Punkt ab. Einem Punkt, an dem Bernhard wohl gerade Lisa ins Bett bekommen wollte. Ist ihm wahrscheinlich auch gelungen. Jedenfalls haben sie sich nach extrem-oralem Nahkampf von unserem Tisch zurückgezogen, während ich mit Karl diskutierte. Über meine Chancen bei der nächsten Papstwahl und die Möglichkeit ob und wie man dann seine Macht durch eine Milliarde treuer römisch-katholischer Anhänger ordnungsgemäß ausnützt. Dinge, die nur betrunken ausdiskutiert werden können. Diese eine Dänin (Verdammt, wie hieß die bloß???) hat uns dabei gelangweilt zugesehen. Und ich hatte noch meine scheiß Jacke, mein scheiß T-Shirt und auch meinen scheiß Rucksack bei mir. Und dann…NICHTS…ein schwarzer Schleier des NICHTS blockiert meine Erinnerung. Und nach besagtem NICHTS bin ich hier erwacht. Besitzlos.
Wenn ich an meine Sachen kommen will, muss ich wohl danach suchen. Und da in diesem Bretterverschlag bekanntlich nichts zu finden ist, muss ich wohl raus gehen. Gehen! Funktioniert das schon? Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und alles läuft…geht…überraschend gut vonstatten. Ein Wunder…
Teilerfolg 3: Ich kann gehen!
Nicht unweit von mir ist der Durchgang, welcher mich aus diesem Bretterverschlag in die große weite Welt hinaus führt. Nicht mal eine Tür hat diese Bruchbude. Neben meinem halbnackten Outfit wohl ein zusätzlicher Grund, warum mir so scheißkalt geworden ist. Aber Gott sei Dank ist Sommer, sonst wäre ich hier wohl über Nacht erfroren! Doch an solch schaurige Was-wäre-wenn-Szenarios wage ich in all ihrer detailreichen Fiktion eines schlechten Horrorfilms gar nicht zu denken. Obwohl…eigentlich ist das hier ja alles so was wie die Einleitung zu solch einem schlechten, storylosen Splatterfilm.
Held ohne Erinnerung. (Hier: Ich)
Jede Menge Zombies. (Hier: Meine Umwelt)
Kampf gegen jede Menge Zombies. (Hier: Kampf gegen meine Umwelt)
Siegreicher Held ohne Erinnerung. (Hier: die Gegenwart)
Noch mehr jede Menge Zombies. (Hier: die Zukunft)
Kampf gegen noch mehr jede Menge Zombies. (Hier: Kampf gegen die Zukunft)
Siegreicherer Held ohne Erinnerung. (Hier: erhoffte Zukunft)
Perverse Übermacht Zombies inklusive wütendem Zombieanführer. (Hier: mögliche Zukunft)
Kettensäge Blutgemetzel FSK 18-Einstufung (Hier: gefürchtete Zukunft)
Siegreicher Held reitet dem Sonnenuntergang entgegen. (Hier: erwünschte Zukunft)
Okay, das mit dem Sonnenuntergang ist Müll (Wildwestromantik ist inkompatibel zu Splatterfilmen). Und das davor eventuell auch. Außer für mich, den Literaten, der seine Kämpfe gegen sich selbst in für das gemeine Volk begreifbare Feindbilder manifestiert. Nur wenn ich so in dieses scheiß blendende Tageslicht aus diesem scheiß Durchgang blicke, verkommt mein kleiner Handlungsrahmen sogar vor mir selbst zu einer Verarschung der Zielgruppe: So lichtscheu ich im Moment bin, so schlurfend meine Bewegungen, so gruselig stöhnend meine Ausrufe, müsste ich ja der Zombie sein. Helden sind nicht so wie ihre Feinde. Ach, scheiß auf die Handlung! Ich werde mich jetzt meinem Todfeind Tageslicht zu stellen wissen.
Gerade als ich den Durchgang in die Freiheit durchschreiten will und dadurch so auf diese Ansammlung von Brettern blicke, fällt es mir auf. Warum ich das nicht früher gesehen habe, weiß ich nicht. Vielleicht war ich zu abgelenkt. In meinem Egotrip und so. Jedenfalls beweist ein so ein scheiß Brett im Gegensatz zu seinen Bretterbrüdern und -schwestern Individualität, weil es mit etwas beschrieben wurde. Noch dazu in hervorstechend dicker, rosaroter Farbe. Ist das…ist das…Lippenstift? Ich sehe einen großen zusammengewürfelten Haufen rosaroter Zahlen. Und ein aufgemaltes Herz. Und einen Namen.
Tania.
So hieß diese eine Dänin also. Ein weiterer Etappensieg für Kommissar Realität. Aber die Zahlen? Sieht stark aus nach einer…einer…einer Telefonnummer! Wohl von dieser Tania. Doch wo ist die werte Dame bloß abgeblieben? Und - vor allem - was bewegt eine wildfremde Dänin dazu, mich halbnackt, frierend und ohne Sachen in einem Holzschuppen zurückzulassen, nachdem sie mit einem Lippenstift ihre Telefonnummer auf ein Holzbrett geschmiert hat?
Um diese Frage beantworten zu können, muss ich wohl die Ereignisse von gestern aufarbeiten. Wieder einmal. Also Bernhard fickt mit Lisa rum, ich plane mit Karl besoffen die Machtergreifung über ein paar Milliarden Christen und Tania? Hat sie uns…MIR dabei wirklich nur gelangweilt zugesehen? Oder war da mehr? Wo kam diese Tania eigentlich her? Wie sah sie aus?
Ich versuche mich an ihr Gesicht zu erinnern. Große blaue Augen, lange blonde Haare, überschminktes Gesicht, groß und schlank. Dann noch ein Stofffetzen, der mehr offenbart als verhüllt, aber dennoch ausreichend verhüllt, um zu offenbaren - im Gesamteindruck irgendwo zwischen Lady und Nutte angeordnet. Keinesfalls unattraktiv. Wenn sie was von mir wollte, dann wohl aus dem Grund, aus dem auch all die anderen was von mir wollen. Scheint wohl ein neuer Trend zu sein, dass die Groupiewelle von erfolgreichen Stars und Sternchen zu erfolgreichen, sich ihrem Biederimage widersetzenden Autoren überschwappt. Und wenn ich so drüber nachdenke…ja, sie, Tania, hatte mein Buch dabei. Vermutlich wegen einer Widmung. Aber genau weiß ich das nicht mehr. Doch dank neuer Indizien kann Verstand Kommissar Realität neue Antworten liefern.
Realität: „Wo zum Teufel bin ich?“
Verstand: „In Dänemark. Mit Bernhard, Karl und Lisa.“
Realität: „Was hab ich hier gemacht?“
Verstand: „Ich feierte den Erfolg meines ersten Werkes. Wahrscheinlich privat mit Tania.“
Realität: „Wo zur Hölle liege ich?“
Verstand: „In so einem scheiß Holzschuppen, mitten im Nirgendwo.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Ich versuche mir Tanias Telefonnummer zu merken.“
Nach Minuten des erfolglosen Malträtierens meines Denkapparates gelange ich zu der Einsicht, dass ich schlicht nicht in der Lage bin, mir diese hochkomplexe Ansammlung von Zahlen einzuprägen. Aufschreiben geht auch nicht, mir fehlen ja jede Menge Sachen. Doch vielleicht kann ich das beschmierte Brett ja irgendwie rausreißen und mit mir rumschleppen…zumindest bis ich in die Nähe eines Telefons komme. Dann könnte ich diese Tania anrufen, dann wird mir diese Tania erklären können, was nach besagtem NICHTS vorgefallen ist, dann werde ich dank Tania alle Erinnerungslöcher verschließen können, dann bin ich wieder im Einklang mit mir selbst, dann reite ich dem Sonnenuntergang entgegen. Theoretisch.
Das Holz ist morsch und brüchig wie diese Holzhütte selbst und - tatsächlich - nach ein paar herzhaften Tritten gegen die Holzwand hat sich ein Stück Brett gelockert. Wundersamerweise sogar das, auf dem Tanias Telefonnummer vermerkt ist. Ein Hoch auf die Künste der praktisch angewandten Sachbeschädigung! Und nebenbei habe ich soeben bemerkt, dass ich sogar Schuhe trage. Gar nicht auszudenken, wenn ich hier barfuss rumlatschen müsste. Wenn das nicht Glück ist!
Gerade eben will ich diese Holzhütte abermals verlassen, als ich aus ungeklärten Gründen meine Blicke auf meine ehemalige Schlafstätte zurückschweifen lasse. Neben der dunkel-feuchten Verfärbung im Erdboden erspähen meine Adleraugen ein gepolstertes, schwarzes Etwas. Meine Jacke. Ich habe die ganze Nacht auf meiner Jacke geschlafen! Wie kann man in einer relativ scheißkalten Nacht halbnackt AUF einer Jacke schlafen? Ganz schön blöd irgendwie. Dieses Relikt meiner eigenen Dummheit muss mir wohl vorher in meinem glasklaren Tunnelblick entgangen sein. Schnell gehe ich zurück an den Ort des Grauens, dieser Brutstätte des Bösen, nehme mir meine Jacke, zieh sie an - tada…
Teilerfolg 4: Ich friere nicht mehr!
…tja…das T-Shirt bleibt zwar verschollen…egal - und reite…gehe dem Sonnenlicht entgegen. Direkt unheimlich wie produktiv ich in den letzten Minuten im Bereich der praktisch angewandten Problemlösung durch Brettentfernung war: Das lippenstiftbeschmierte Brett neben dem Holzschuppeneingang wurde ebenso wie das Brett vor meinem Kopf in punkto Aufenthaltsort diverser Kleidungsstücke erfolgreich beseitigt.
Und hier ist sie. Die Natur. Hallo Natur! Welch schönen Sonnenschein du uns heute bescherst! Welch wunderschönen Sonnenschein du uns heute so bescherst! Welch wunderschön blendenden Sonnenschein du uns heute bescherst! Welch wunderschön beschissen blendenden Sonnenschein du uns heute bescherst! Doch ich hab ja noch das Brett in meiner Hand. Bildet einen tollen Schild gegen diesen wunderschön beschissen blendenden Sonnenschein. Haha! Da staunst du, Natur, was?
So. Die Sonne nervt nicht mehr rum. Wo bin ich hier genau? Ich sehe nur Bäume. Haufenweise Bäume. Nur…nur…da vorne ist Asphalt. Ein Stück Zivilisation, das sich durch diesen scheiß Wald schneidet. Welches Arschloch errichtet in so einem einsamen Wald eine einspurige Straße, auf der anscheinend sowieso niemand fährt? Jedenfalls habe ich heute noch keinen Motor aufheulen gehört. Wie viel von diesem scheiß Wald musste wohl erst zerstört werden, um hier eine offensichtlich kaum befahrene Straße errichten zu lassen? Wie viele bedrohte Tierarten mussten wohl vom scheiß Bulldozer niedergefahren werden, um hier ein bisschen Großstadtfeeling reinzubringen? Das geschaffene Zivilisation auch immer etwas zerstören muss. Mich gestern Abend zum Beispiel.
Nebenbei habe ich soeben durchdacht, dass es eine gute Idee wäre, mich dem Straßenrand entgegenzubewegen, da ja doch entgegen meiner Vermutungen die minimale Chance bestehen könnte, dort auf ein motorisiertes Fahrzeug zu treffen, welches ebenfalls beschließen könnte, es für eine gute Idee zu halten, einem am Straßenrand wandernden jungen Mann mit seinem Brett auf dem Schädel mitzunehmen. Wie weit liegt wohl Nykobing von hier entfernt? Dort, wo Karl seine Wohnung hat. Dort, wo ich mich eigentlich befinden sollte. Und in welcher Richtung soll ich die Straße abgehen? Hmmm…das überlasse ich mal schön dem Zufall. Immerhin scheint der Wald in keiner von beiden Richtungen so schnell sein Ende zu finden. So weit kann Nykobing von hier gar nicht entfernt sein. Immerhin muss ich ja auch hier irgendwie hergekommen sein. Gedacht, getan. Wenige Minuten später wandere ich neben der einspurigen, bei näherer Betrachtung nicht ganz von Schlaglöchern befreiten Straße. Doch da Gehen (mit der 50%igen Chance sich dem Ziel entgegen- statt wegzubewegen) alleine so langweilig und eintönig sein kann, versucht mein Gehirn wieder mal den großen Entertainer raushängen zu lassen, indem es mich mit Erinnerungen an dieses Gedicht konfrontiert, welches ich vor Jahren mal geschrieben habe. Obwohl es nie so richtig gut war (deswegen schreib ich keine Gedichte mehr), versuche ich mich an die Verse zu erinnern.
Die Blicke meiner Leiche kreuzen schweigend mit der Eiche;
der Gequälte gibt in seinem Reiche meinen Geiste nicht mehr frei;
viele Stunden, an meine Einsamkeit gebunden, ziehen nun an mir vorbei.
In meinem Schmerze sehn ich ratlos die Finsternis herbei,
bin jedoch zu benommen, um zu kommen oder um ohne Wiedersehn je fortzugehn.
Kraftlos sink ich nun danieder, spür kaum mehr meine toten Glieder,
die Hoffnung droht zu sterben, meine besiegten Feinde zu umwerben,
als die Stimmen immer wieder in ihrem Bestreiten beginnen Wärme zu verbreiten:
„Die Dunkelheit mag dich umgarnen und mit Zwietracht umarmen,
doch widerstehst du all den Plagen, wirst auf ihren Flügeln du getragen.“
Doch wie soll ich fliegen und die Dunkelheit besiegen?
Da mein Geist verwirkt in der Tristesse fernab von Interesse,
das sich in den Galeonen des Lichts verbirgt und sie es niemals missen
und weniger Bedeutung als nichts entgegenzubringen wissen,
um auf ihren Expeditionen erhoffen Poseidon zu verschonen.
In meinem stillen Applaus schmücke ich die Eiche mit kraftlosen Blicken aus,
sie will nicht gehen nur bestehen, dadurch bin ich in ihrer engelsgleichen Geduld zu sehr betört,
auf dass der Gequälte den letzten Rest Leben, den ich bereit bin zu geben, in mir zerstört.
Auch die Stimmen beginnen abzuklingen und krächzen monoton,
schwärzen die Umgebung im Einklang meines Innern in düstern, schwarzen Ton.
Obwohl durch Ausgraben meiner grausam amateurhaften Vergangenheit jede Menge Zeit vergeht (vor allem, da ich so oft überlegen muss, wie dieser scheiß Text nun weitergeht), muss ich jetzt abbrechen. Ich glaube nämlich ein Motorheulen gehört zu haben. Neben den bisher kaum wahrgenommenen Vogelgezwitscher. Das Geräusch wird lauter.
Und wirklich: Einige Momente später steht neben mir so ein Wagen; genau auf der Straße, neben der ich nun schon eine ganze Weile entlanggehe. Wenn ich so überlege, kann ich mich gar nicht daran erinnern, dieses rote Gefährt (Typ und Baujahr sind mir unbekannt, ich bin beileibe kein Experte in Sachen Autos) herfahren gesehen zu haben, obwohl es das getan haben muss, da es ja nun direkt neben mir steht. Und wenn ich so weiter überlege, kann ich mich genau so wenig daran erinnern, wie ich diese einigen wenigen Meter von diesem abbruchreifen Holzschuppen bis zu diesem Straßenstück zurückgelegt habe. Oder daran wie ich dieses Brett, das ich immer noch über meinem Kopf halte, um die durch die Baumwipfel scheinende Sonne abzublocken, nun im Detail entfernt habe. Und all diese anderen Dinge, die nachweislich geschehen sind, aber ebenso in meinen frühmorgendlichen Teilzeit-Blackouts untergingen. Egal. Fakt ist: Irgendjemand ist offensichtlich stehen geblieben und will mich offensichtlich mitnehmen.
Teilerfolg 5 quasi.
Schnell öffne ich die Beifahrertür und starre den Fahrer an. Ein älterer, leicht ungepflegt wirkender Kerl (nicht jeder fährt seinen Bierbauch mit einem durchschwitzten weißen Unterhemd durch Dänemark) starrt zurück, erkennt in meinem aktuellen Zustand der Körperhygiene wohl so was wie Seelenverwandtschaft, da er mir sogar freundlich gesonnen eine Frage entgegenschmettert, während er interessiert auf mein Tania-Brett blickt:
„Wohin des Weges, junger Krieger?“
Wow. Menschliche Kommunikation. Sogar deutschsprachig.
„Nykobing.“
„Liegt auf meinem Weg. Steig ein!“
Obgleich Stiftung Warentest die Innenausstattung und Sauberkeit des Wageninnern mit einem mangelhaft auszeichnen würde, folge ich seinem Befehl. Auf den leeren Rücksitzen wird schon kein Irrer mit einer Axt lauern. Und erst recht nicht der Zombieanführer mit seiner perversen Übermacht Zombies. Und falls doch: Ich hab mein Brett. Ich bin bewaffnet.
Als ich die Türe schließe, erschrecke ich kurz, da ich (endlich?) dieses Gesicht sehe, das sich im Seitenfenster widerspiegelt: Eingefallene Augen, weißes Gesicht, wirres Haar. Ganz als ob Albert Einstein besoffen unter einer x-beliebigen Brücke geschlafen und um weitere 100 Jahre gealtert wäre. Naja…aber ähnliches ist mir ja auch widerfahren…glaub ich zumindest…
Meine Gedankengänge werden jäh gestört, da ich wieder diese nervig-freundliche Stimme vernehme, die mich in die Künste der zeitraubenden menschlichen Kommunikation einweihen will:
„Was ist passiert, junger Krieger?“
Ich antworte nicht. Vielleicht gibt er ja von selbst Ruhe. Doch…oh…nein…
„Was ist passiert, junger Krieger?“
Ich schweige erneut. Er lässt nicht locker:
„Alles in Ordnung mit dir?“
Ich ignoriere ihn weiter. Irgendwann muss er ja aufgeben. Oder auch nicht…
„Junge, du zitterst ja am ganzen Körper!“
Dass die Mitleidstour nichts bringt, scheint er schnell einzusehen, da er nun erneut auf mein Brett starrt und weiter fragt:
„Eine Freundin von dir?“
Langsam beginnt er mich zu nerven.
„Du kannst darüber reden, wenn du willst.“
Okay…das reicht…er wollte eine Antwort, hier hat er sie.
„HÖR MIR MAL ZU DU SCHEISS HOBBYPSYCHOLOGE ODER FÜR WAS DU DICH AUCH IMMER HÄLTST ICH BRAUCHE KEINE SCHEISS ROTE COUCH UM DEINE SCHEISS NEUGIER ZU BEFRIEDIGEN DAMIT DU DICH DANACH WIE EIN BESSERER MENSCH FÜHLST WEIL DU GLAUBST JEMANDEN GEHOLFEN ZU HABEN WAS DIR ABER WOHL UNMÖGLICH GELINGEN KANN DA DU HEUTE ABEND SICHERLICH NICHT IN EINER SCHEISS HOLZHÜTTE VERBRACHT DIR DEN SCHWANZ WEGGEFROREN DICH FAST BEPISST UND DEN RUCKSACK SOWIE HAUFENWEISE ERINNERUNG VERLOREN HAST WÄHREND DU EIN BRETT MIT DIR HERUMSCHLEPPST DAS DU ALS EINZIGEN VERBINDUNGSPUNKT ZU DEINEM SCHEISS UNTERGANG ANSIEHST ALSO FALLS DU MIR NICHTS VON DEM WIEDERBRINGEN KANNST ODER KEIN TELEFON BESITZT MIT DEM ICH DIESE SCHEISS NUMMER AUF DIESEM SCHEISS BRETT ANRUFEN KANN SEI EINFACH VERDAMMT NOCH MAL STILL UND FAHR MICH NACH NYKOBING ANSTATT MUTTER THERESA ZU SPIELEN VERDAMMTE SCHEISSE!!!“
Sein konfus-schockierter Blick sagt mir, dass meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt haben, da…
Teilerfolg 6: Stille!
…oder auch nicht, da mein werter Herr Chauffeur den Entschluss fasst, sein altertümliches Autoradio in Betrieb zu setzen, indem er es mit einer bespielten Musikkassette (und das im Zeitalter von mp3 und Co) füttert. Ich lege diesmal keinen Protest gegen Ruhestörung ein. Will ja nicht aus dieser Schrottmühle geworfen werden. Wer weiß schließlich schon wann dann wieder ein motorisiertes Fahrzeug meine Wege kreuzt?
Doch, egal, nun: Musik! Überraschenderweise kommt mir die sogar seltsam bekannt vor. Hey, ja! Das war doch in dieser einen Werbung damals. Snickers oder Mars. Jedenfalls irgendein Schokoriegel. Als der Gesang einsetzt, fühle ich mich in meiner Erkenntnis bestätigt.
My girl, my girl, don't lie to me
Tell me where did you sleep last night
In the pines, in the pines
Where the sun don't ever shine
I would shiver the whole night through
Doch ich erkenne beschämenderweise erst im Refrain die Identität des Sängers und frage mich innerlich natürlich sofort, warum ein nach Dänemark verirrter Ballermanntourist dem leider toten Kurt Cobain dem leider lebendigen König von Mallorca den Vorzug gibt und nicht umgekehrt. Beinahe bin ich sogar versucht meinen in solchen Situationen verwendeten Sixth-Sense-Running-Gag „Ich höre tote Menschen!“ anzubringen, lasse es aber lieber. Ich will ja schließlich keine menschliche Kommunikation provozieren. Stattdessen starre ich auf das Brett.
My girl, my girl, where will you go
I'm going where the cold wind blows
Warum ist Tania eigentlich verschwunden? Und hat mich in diesem scheiß Bretterverschlag zurückgelassen? Allein. Frierend. Verwirrt. Dieses Miststück! Aber vielleicht hatte sie ja gute Gründe mich in diesem scheiß Bretterverschlag zurückzulassen. Wie zum Beispiel…
In the pines, in the pines
Where the sun don't ever shine
I would shiver the whole night through
Tania ist ein Miststück! Aber vielleicht ist ihr etwas zugestoßen! Wie zum Beispiel…
My girl, my girl, don't lie to me
Tell me where did you sleep last night
Tania ist ein Miststück! EIN SCHEISS VERFICKTES MISTSTÜCK!!! Aber vielleicht…
My girl, my g…
Der Fahrer wechselt die Kassette. Er scheint wohl meinen inneren Konflikt zu erkennen, da seine Lippen so was wie ein „Nicht traurig sein! Fröhlich sein!“ ausstoßen. Was ich jetzt höre, lässt meinen Glauben an das Gute in ihren Grundmanifesten erschüttern. Volksmusik. Waschechte Volksmusik verbreitet Karl Moiksche Musikantenstadl-Atmosphäre. Kurt Cobain würde im Grab rotieren.
Neben welchem Psychopathen sitz ich hier? Ich stehe sooooo kurz davor, ihm dieses scheiß Brett über die Rübe zu ziehen. Wenn ich mich nicht auf dieses anwachsende Gefühl der Übelkeit - genährt durch die Faktoren Schlaglöcherstraße mit grandioser musikalischer Untermalung, garniert mit meinem wrackähnlichen gesundheitlichen Gesamtzustand - konzentrieren müsste. Wäre ganz toll, wenn ich mich erinnern könnte, wo ich bei meinem Katastrophengedicht aufgehört habe zu denken, der Ablenkung von Kotzgedanken halber und so weiter. Aber es gelingt mir nicht. Argh…diese scheiß Volksmusik!
Der Zombieanführer sitzt also direkt neben mir. Und seine perverse Übermacht Zombies ist bewaffnet. Mit scheiß Blasinstrumenten, um diese scheiß Lyrics über scheiß Berge in der scheiß Heimat und allerhand mehr beschissenes Heile-Welt-Getue ordnungsgemäß rüberzubringen. Ich blicke aus dem Fenster, um mich von dieser terroristischen Lärmbelästigung abzulenken.
Baum um Baum schießt an mir vorbei. Dieser Wald muss doch bald ein Ende finden! Oder fahren wir noch gar nicht so lange, wie ich denke, dass wir fahren? Kommissar Realität versucht erfolglos zu ermitteln wo wir sind, doch diese Bäume sehen alle gleich aus. Und bewegen sich immer schneller. Immer schneller und schneller und schneller und schneller und diese scheiß Schrottmühle hüpft auf und ab dazu. So richtig taktlos, wie diese scheiß Volksmusik. Richtig unvorhersehbar irgendwie. Wie so ein scheiß Gummiball, der mit voller Wucht gegen Wände, Böden, Decken geschossen wird und wild herumspringt. Auf und ab und links und rechts und oben und unten wie auf einer scheiß Achterbahnfahrt, mitten am Rummel, wo die Leute hinein- und hinausströmen, immer mehr und immer schneller, wie Baum um Baum. Immer mehr und immer schneller, oben, unten, links, rechts, seitlich, Looping, Schraube, Salto, bis sich alles dreht, immer mehr und immer schneller, wie Baum um Baum...muss ich vielleicht dringend kotzen! JETZT!
Ich springe über meinen eigenen Schatten. Menschliche Kommunikation zwecks präventiven Katastrophenschutz.
„Mir ist schlecht…“
Jetzt sollte mein werter Herr Fahrer einen besorgten Gesichtsausdruck aufsetzen, stehen bleiben, mir die Türe freundlich öffnen, mich in die freie Natur geleiten, um das hinter mich zu bringen, was ich hinter mich zu bringen habe…und diese scheiß Dudelmusik abstellen!
Doch stattdessen fährt mein werter Herr Fahrer einfach weiter, so als ob es ihm scheißegal wäre, wenn ich seine Karre von oben bis unten vollkotzen würde! Und die Lobhuldigungen für die scheiß Alpenlandschaften zerfressen weiter meine Gehörgänge. Und dann setzt er diesen blöden Grinser auf.
Er hätte alles machen können. Wirklich alles. Ich lasse mich nicht oft provozieren. Aber dieser Gesichtsaudruck, als Reflektion absoluter Respektlosigkeit, war zu viel des Schlechten. Er wollte es so haben. Bitte sehr. Ich umklammere fest mein Tania-Brett und hole aus. Direkt auf seinen Kopf.
Dann fahren wir den Bäumen entgegen. Diesmal nicht nur ein Teilzeit-Blackout.
Erneut liege ich irgendwo rum. Nur mit dem Unterschied, dass dieses Mal mein ganzer Körper schmerzt. So als ob ich mich nackt in einem Feld aus Brennnesseln gewälzt hätte. Keine Frage, Kommissar Realität muss Tatzeugen Verstand reaktivieren. Hoffentlich ein letztes Mal heute.
Realität: „Wo zum Teufel bin ich?“
Verstand: „Keine Ahnung.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen.“
Realität: „Wo zur Hölle liege ich?“
Verstand: „Keine Ahnung.“
Realität: „Was mach ich hier?“
Verstand: „Liegen.“
Kommt mir ja alles sehr vertraut vor. Ich öffne die Augen. Alles erscheint verschwommen, wie hinter so einem großen beschissenen Aquarium. Ungeachtet dessen erkenne ich diese langen blonden Haare, dieses nuttig-überschminkte Gesicht und diese großen blauen Augen, die mich mit aufgezwungener Freude anstrahlen. Da sitzt sie, direkt vor mir. Endlich kann ich die wahren Ereignisse des letzten Abends aufarbeiten…
„Tania…“, zwänge ich aus meinem Sprachapparat.
Doch sie entgegnet mir nur ein kühles „Wer?“…
Jetzt bin ich überrascht. Wenn Tania nicht Tania ist, wer ist Tania dann? Langsam dämmert es mir…das Brett…dieses scheiß Brett hat mich belogen und betrogen! Meinen Verstand mit falscher Hoffnung genährt! Tania ist gar nicht Tania, sondern jemand anders. War also das beschmierte Brett der Zombieanführer und der Fahrer nur einer seiner Lakaien?
Naja, egal. Es wird Zeit. Zeit dem Sonnenuntergang entgegen zu reiten. Weg von den Scheinwelten, die sich in den Träumen der Nacht gebildet haben. Der Realität entgegen. Mit dieser einen Dänin, deren Namen ich vergessen habe.
Teilerfolg 7: Realität.
„Wie war noch mal dein Name?“, frage ich schließlich leise.