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Sonnenuntergang
Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Horizont in ein leichtes Purpur. Helmick gefiel dieser Moment der Besinnung, die Ruhe so kurz vor dem Sturm, und er wollte ihn für immer verinnerlichen. Er stand am Rand des Waldes und schloss die Augen. Ihm war bewusst, dass er heute Nacht sterben könnte, jedoch hatte er keine Angst vor dem Tod. Schon in seiner Jugend hatte er gelernt, was der Tod bedeutet, dass er unausweichlich ist, und auf all seinen Reisen hatte er selbst nicht wenig Blut vergossen.
Die Jahre des Kampfes und des Blutvergießens machten sich auf seinem narbenübersäten Körper bemerkbar. Täglich kämpft er mit Schmerzen, die sich aus der Dunkelheit an ihn geschlichen haben, um ihn dann ohne Vorwarnung zu überrumpeln. Er wurde langsam alt und das wusste er. Sich seine eigene Sterblichkeit einzugestehen war schwierig für ihn, doch konnte er sich nicht beschweren, denn er hatte ein gutes Leben gelebt. Nein, bei der Allgegenwärtigkeit!, er hatte alles erreicht, was er wollte. Er diente dem jungen König und hatte auch schon dessen Vater gedient. Deswegen hatte er niemals Sorgen wegen Geld oder Ruhm. Jeder kannte seinen Namen und er liebte es, als ob er irgendeine Legende oder Mythos aus den alten Büchern wäre. Die Menschen erwiesen ihm viel Respekt und daran konnte man sich schnell gewöhnen. Respekt und Angst ließen sich nicht mit Gold aufwiegen. Auch die Frauen lagen ihm zu Füßen. Er war ein Krieger und verstand nicht viel von einem normalen Leben. Nie war er verheiratet gewesen, hatte irgendwelche Kinder gezeugt oder ein wirkliches Zuhause sein Eigene genannt. Dennoch hatte er auf Frauen schon immer eine anziehende Kraft ausgeübt. Meistens hat er sie aber nur ausgezogen, dachte er und grinste, wobei er die Augen immer noch geschlossen ließ. Er atmete tief durch, um die klare Luft und das Leben in seinen Lungen zu spüren.
Angst vor dem Tod hat Helmick nicht, aber er fürchtet sich vor dem, was er heute Nacht sehen würde.
Der Wald westlich der Hauptstadt des Königreiches war so groß, dass er nie erforscht wurde. Hin und wieder durchstreiften ihn Wanderer, Reisende und auch Jäger, die aber immer nur einen kleinen Teil des Waldes durchquerten. Tief in die Wälder wagte sich nie einer vor, und wenn es jemand dennoch tat, sah und hörte nie wieder etwas von ihm. Der Wald selbst schien ein Lebewesen zu schein. Die Menschen wussten dies und sie hielten sich an die Regeln des Waldes, indem sie sich von ihm fern hielten.
No'el war dies nur recht. Er mochte die Menschen nicht, hatte aber auch nichts gegen sie. Er verstand teilweise ihre Sprache, die er öfters von einem höheren Ast eines Baumes belauscht hatte, als sich zwei Männer unterhielten. Er wusste nicht, wieso er sie verstehen konnte, da er niemals ihre Sprache gelernt hatte. In Wirklichkeit konnte er es eigentlich überhaupt nicht und verstand nur, indem er das Wesen des Geschöpfes spürte und in das Herz sah.
Er hatte jedenfalls in den letzten Nächten öfters einen Mann beobachtet, der ihm seltsam vorkam. Nicht viele Menschen wagten sich in die Tiefe des Waldes, aber dieser hier schon. Der Mann hatte ihn nicht gesehen, als er durch die Wälder wanderte. No'el spürte, vielleicht wegen der Gabe, der er zu verdanken hat, dass er alle Sprachen verstand, dass der Mann wusste, dass er ihn beobachtete und er hatte sich heute vorgenommen sich ihm zu zeigen, obwohl er etwas Angst dabei empfand. Er hatte sich noch nie jemanden gezeigt, oder sich auch nur in die Nähe der menschlichen Siedlungen gewagt. Seine Welt war der Wald. Der Wald gab ihm alles, was er brauchte.
No'el träumte von den Tieren des Waldes in seiner kleinen Höhle, die ihm tagsüber Schutz bot, als die Sonne unterging und sich die Nacht wie ein Laken über die Welt legte. Wenn der Wald seine Welt war, war die Nacht die Tageszeit seines Lebens.
Helmick hielt sich an die Wege, die er in den letzen Nächten bei seiner Suche verfolgt hat, in der Hoffnung, dass er bald auf sein Ziel stoßen würde. Helmick musste zugeben, dass es ihm fast nicht aufgefallen war, dass er beobachtet wurde, aber in den Jahren der Erfahrungen hat er ein Gespür dafür entwickelt, wie man in dieser rauen und lieblosen Welt überlebt. Er ließ sich nichts anmerken, da er klug genug war um zu wissen, dass er äußerst vorsichtig sein musste. Sein Beobachter war flink und geübt darin, sich in der Dunkelheit zu verstecken. Und wenn er nicht wusste, dass Helmick ihm auf die Schliche gekommen war, dann hatte er zumindest einen kleinen Vorteil.
Die Zeit des Erwachens kommt in der Nacht. Die Statue aus Stein stand in einem Augenblick noch felsenfest in der kleinen Höhle, als ob sie noch tausende Jahre überdauern könnte und im nächsten Augenblick, ohne jeglichen äußeren Einfluss, fing sie an zu bröckeln. Risse zogen sich vom unteren Teil bis hinauf zu den Flügeln. No'el streckte sich mit einem Ruck und seine steinerne Haut fiel von ihm ab, wie die Haut einer Schlange, die sich häutet. Er streckte die Arme und Flügel aus und musste erstmal lange gähnen. Sein Magen knurrte laut und er beschloss, gleich auf die Jagd zu gehen, um seinen Hunger zu stillen. Sonst rollte er sich noch ein paar Minuten ein um zu dösen, aber heute hatte er etwas Besonderes vor und er war ungeduldig und aufgeregt wie ein kleines Kind, das sich auf etwas freut. Er ging ein paar Schritte aus der Höhle und trank aus dem Bach, der in der Nähe floss, indem er mit beiden Händen das Wasser schöpfte. Danach wusch er sich das Gesicht, schüttelte sich die letzten Tropfen aus dem Fell und sprang dann gekonnt und selbstsicher wie eine Katze auf einen starken Ast.
Auf allen Vieren hielt er sich dort und sah sich eine Weile den Nachthimmel an. Es war eine wunderschöne Nacht und man konnte ganz klar den Mond und die Sterne erkennen. Er dachte oft daran, dass er noch nie die Sonne gesehen hatte, aber er war fest überzeugt, dass sie genauso schön sein musste wie der Mond und die Sterne. Vielleicht eines Tages, dachte er, vielleicht werde ich sie ja mal sehen. Er hatte keine Vorstellung von ihr. Wenn es Tag wurde, konnte No'el ein paar Strahlen meist aus der Entfernung sehen, aber lange bevor die Sonne in ihrer vollen Pracht am Nachmittagshimmel stand und eine ganze Welt erleuchtete, war er schon zu einer Statue versteinert, die diese weder sehen noch deren warmes Licht fühlen konnte.
No'el wandte sich ab und kletterte auf den Gipfel des Baumes hinauf. An der Spitze breitete er seine Flügel aus und gleitet mühelos, wie ein Adler, dicht über den Wald hinweg bis zu einer großen Eiche, die sein Lieblingsbaum war. Von dort jagte er am liebsten. Meist erlegte er ein paar Hasen und wenn es gut kam auch mal ein Wildschwein oder ein Reh. Es dauerte nicht lange, bis er eine Witterung aufnahm und kurz darauf einen kleinen braunen Hasen fing, den er dann wie ein wildes Tier aß. No'el war ein Kind des Waldes und kein Mensch. Er lebte nach seinen Gesetzen. Für ihn war es ganz und gar normal.
Helmick beobachtete das Wesen eine Weile und zog dann langsam sein Schwert für den alles beendenden Schlag. Er schlich sich in gebeugter Haltung näher an das Wesen heran, bis er fand, dass es nah genug war, atmete durch, sprang und holte mit dem Schwert weit aus. Das Wesen drehte sich blitzschnell um und sah ihm in die Augen, als das Schwert schon kurz vor dem Aufschlag war. In diesem Moment schien die Zeit still zu stehen. Das Schwert, Helmick und No’el standen da einen Augenblick wie gemeißelte Statuen. Helmick hörte in seinem Kopf die Stimme des Wesens. Es hatte einen Namen und er wusste ihn auf einmal. Helmick wusste plötzlich alles über No’el und No’el wusste alles über Helmick. No’el sah die Schlachten, die Helmick gekämpft hat. Er sah das ganze Blut und das sinnlose Töten und verstand nicht, warum er nicht auf das Gesetz des Waldes hörte, wo doch im Wald niemals aus einem anderen Grund als dem des Überlebens getötet wurde. No’el sah Millionen Bilder im Kopf vom Helmick und versuchte die Menschen zu verstehen. Er sprach auf dieser Ebene, im Kopf von Helmick, vielmehr dachte er es, wobei hier Sprechen und Denken dasselbe waren. Sie befanden sich in einem Moment der Wahrheit und Klarheit, in dem keiner den anderen hätte belügen können, ohne dass der andere es sofort bemerkt hätte. Dies geschah alles innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde, ab dem Augenblick, als sich No’el umdrehte. Die Zeit hatte niemals stillgestanden und Helmick versuchte das Schwert reflexartig zu bremsen, doch es half nichts, denn das Schwert durchtrennte den Kopf von No’el.
Helmick ließ einen Klagelaut von sich und sackte vor dem leblosen Körper auf die Knie. Er hatte Tränen auf seinem Gesicht und entschuldigte sich tausendmal dafür, dass er dieser Welt ihre Magie genommen hatte.